Rezension zu Psychodynamische Psychiatrie
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Rezension von Dr. Georg Singe
Thema
Im Vorwort zur deutschen Auflage betonen Freyberger und Kächele,
dass in der Tradition der psychiatrischen Lehrbücher die
Veröffentlichung eines Buches zur psychodynamischen Psychiatrie in
deutscher Sprache mehr als überfällig sei. Die nun vorliegende
Übersetzung der vierten Auflage der Originalausgabe »Psychodynamic
Psychiatry in Clinical Practice« von 2005 schlägt tatsächlich ein
Brücke von der klassischen Psychoanalyse zu einer modernen
interdisziplinären psychodynamischen Psychiatrie, die
schulenübergreifend ein Interesse hat, sich der wissenschaftlichen,
empirischen Überprüfung ihrer Therapieerfolge zu stellen.
Autor
Der Autor Glen O. Gabbard schreibt dieses Werk als renommierter
amerikanischer Psychiater mit psychoanalytischer Ausrichtung.
Dieses Lehrbuch kann als Kompendium seiner zahlreichen Bücher und
Aufsätze angesehen werden, die im Rahmen seiner vielseitigen
Tätigkeiten als Professor für Psychiatrie und
Verhaltenswissenschaft, als Direktor der Baylor Psychiatry Clinic
am Baylor College of Medicine in Houston, als Lehrstuhlinhaber der
Brown-Foundation für Psychoanalyse und als Lehranalytiker am
Houston-Galveston Psychoanalytic Institute entstanden sind.
Entstehungshintergrund
Auf dem Hintergrund langjähriger klinischer Erfahrungen will
Gabbard in dieser neuen Überarbeitung seines Standardwerkes der
psychodynamischen Psychiatrie den neusten Stand der
Psychiatrieforschung und Therapiepraxis einbeziehen. Gleichzeitig
sind ältere nicht mehr aktuelle Erklärungsmuster und
wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus den einzelnen Kapiteln
entfernt worden, damit der Umfang des Lehrbuches nicht zu groß wird
und tatsächlich der derzeitige aktuelle Stand von Forschung,
Wissenschaft und Praxis dargestellt wird. So werden auch die
Forschungsergebnisse der Neurobiologie in das Konzept integriert,
da keine psychoanalytische Theorie die Erkenntnisse der
„Entwicklung des Gehirns heute und die Auswirkungen der Umgebung
auf die Genexpression“ (XV) außer Acht lassen kann.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile. Zunächst werden im
ersten Teil grundlegende Prinzipien und Behandlungsansätze in der
dynamischen Psychiatrie dargestellt. Im zweiten Teil werden die
psychodynamischen Ansätze bei Achse-I-Störungen, im dritten Teil
die psychodynamischen Ansätze bei Achse-II-Störungen
ausgeführt.
Der erste Teil gliedert sich in sechs Kapitel. Nachdem grundlegende
Prinzipien der dynamischen Psychiatrie und die theoretische
Grundlage der dynamischen Psychiatrie diskutiert werden, geht es im
weiteren Gedankengang um die psychodynamische Beurteilung des
Patienten und die jeweiligen Behandlungskonzepte der
Einzelpsychotherapie, Gruppentherapie, Familientherapie,
Ehetherapie und Pharmakotherapie. Der erste Teil schließt mit einer
Diskussion der Behandlungskontexte in psychodynamisch orientierten
Krankenhäusern und Tageskliniken ab.
Der zweite Teil behandelt in separaten Kapiteln die
Behandlungskonzepte der Achse-I-Störungen wie Schizophrenie,
affektive Störungen, Angststörungen, dissoziative Störungen,
Paraphilien und sexuelle Dysfunktionen, Drogenmissbrauch und
Essstörungen sowie Demenz und andere kognitive Störungen.
Im dritten Teil werden die Behandlungskonzepte der
Achse-II-Störungen wie paranoide, schizoide und schizotypische
Persönlichkeitsstörungen, Borderline, narzisstische
Persönlichkeitsstörung, dissoziale Persönlichkeitsstörung,
hysterische und histrionische Persönlichkeitsstörungen,
obsessiv-zwanghafte, ängstlich-vermeidende und dependente
Persönlichkeitsstörungen vorgestellt. Hilfreich sind in diesen
Kapiteln die jeweiligen Abgrenzungen der psychodynamischen
Sichtweise zu klassischen Ansätzen der Psychoanalyse und einer
„deskriptiven Psychiatrie“ sowie die vielen Fallbeispiele aus dem
klinischen Alltag. Ausführliche Literaturverzeichnisse runden die
einzelnen Kapitel ab und laden den Leser zur vertieften
Auseinandersetzung ein.
Ein ausführliches Register schließt das Buch ab, so dass sich der
Leser im Hinblick auf Einzelfragen schnell und prägnant informieren
kann.
Inhalt
Die psychodynamische Psychiatrie basiert auf einer alten, sich
ständig weiter entwickelnden Tradition, in der die Theorien und
Erkenntnisse der Psychoanalyse vor allem in Konfliktmodellen des
Unbewussten unter Einbeziehung der biologischen, neurobiologischen
und soziokulturellen Einflüsse zum Tragen kommen. Sowohl im
Hinblick auf Diagnostik wie auch Therapie werden unter Einbeziehung
der Neurowissenschaft „unbewusste Konflikte, Defizite und
Verzerrungen der innerpsychischen Strukturen und der inneren
Objektbeziehungen“ (S. 5) Gegenstand der Analyse und Behandlung.
Somit ist die psychodynamische Psychiatrie heute „als Teil des
umfassenden Konstrukts der biopsychosozialen Psychiatrie“ (S. 4) zu
verstehen. Gabbard betont, dass die neuen Forschungsergebnisse in
der Genetik und Neurowissenschaft die Position des
psychodynamischen Psychiaters gestärkt haben. „Mehr als je zuvor
haben wir heute überzeugende Beweise dafür, dass ein Großteil des
mentalen Lebens unbewusst ist, dass soziale Faktoren in unserer
Umgebung die Expression der Gene bestimmen und dass der Geist die
Aktivität des Gehirns widerspiegelt. (S.4) So ist eine Integration
der biomedizinischen und psychosozialen Sichtweise notwendig, um
auch einer möglichen Reduktion des Geistigen auf die
neurobiologischen Prozesse entgegen zu wirken.
Ein psychodynamisch orientierter Psychiater arbeitet vor allem
natürlich mit den entsprechenden Konzepten der dynamischen
Psychiatrie. Gabbard setzt aber die dynamische Psychiatrie nicht
mit der dynamischen Psychotherapie gleich, da die dynamische
Psychiatrie auf eine Vielzahl unterschiedlicher
psychotherapeutischer Verfahren und Behandlungsinterventionen
zurückgreifen kann und muss, um der jeweils individuellen Situation
der Patienten gerecht zu werden.
Fünf Grundprinzipien prägen die psychodynamische Psychiatrie. Der
besondere Wert der subjektiven Erfahrung betont die Einmaligkeit
der individuellen Situation, in die meisten Symptome und
Verhaltensweisen als Ausdrücke des Unbewussten verstanden werden.
Aus der Bedeutung des Unbewussten erwächst das dritte Prinzip des
psychischen Determinismus. Die Bedeutung der menschlichen Freiheit
wird in den Kontext der Auffassung gestellt, „dass wir bewusst
verwirrt und unbewusst kontrolliert sind“ (S. 14). Damit ist auch
das vierte Grundprinzip der wichtigen Bedeutung der Vergangenheit
angesprochen, denn gerade die Erfahrungen im Säuglings- und
Kindesalter sind es, die das spätere Leben prägen und die
psychiatrische Arbeit mit dem Phänomen der Übertragung und
Gegenübertragung so wichtig werden lässt. So ist und bleibt auch
die Arbeit mit Widerständen zentrales Prinzip der psychodynamischen
Psychiatrie, die sich in ihren theoretischen Grundlagen vor allem
auf die Ich-Psychologie und Objektbeziehungstheorie auf dem
Hintergrund der Forschungen Freuds, der Selbstpsychologie Kohuts,
der Entwicklungspsychologie und Bindungstheorie bezieht. Alle
Dimensionen sind bei der Beurteilung und Diagnosestellung sowie der
Auswahl der entsprechenden Behandlungskonzepte relevant. In der
Darstellung der einzelnen psychotherapeutischen Settings werden von
Gabbard immer wieder diese Prinzipien und Dimensionen
durchdekliniert. Auch bei den in den weiteren Hauptteilen des
Buches behandelten Störungsbildern wird die psychodynamische Sicht
konsequent durchgehalten und ermöglicht dem Leser jeweils eine
Vertiefung der Prinzipien und theoretischen Grundlagen der
psychodynamischen Psychiatrie an den jeweiligen Beispielen. Auf
eine Darstellung der Anwendung der psychodynamischen Psychiatrie
auf die vielseitigen psychischen Störungen wird in dieser Rezension
verzichtet, da dies den Rahmen sprengen würde. Der Leser ist aber
immer wieder neu überrascht, welche dynamischen Sichtweisen –
gerade auch in Abgrenzung zur klassischen Psychoanalyse möglich
werden.
Diskussion
Mit der Darstellung der theoretischen Grundlagen des ersten Teils
ist es Gabbard gelungen, den Leser herauszufordern, sich im
Hinblick auf die unterschiedlichen Theorien der modernen
dynamischen Psychiatrie selbst zu positionieren. Auch für nicht
psychoanalytisch geprägte Ärzte und Therapeuten ist das Buch ene
große Bereicherung. Es ist erfrischend zu lesen, dass die
grundlegende Haltung des Psychiaters wichtig ist, klinische
Situationen nicht „in eine bestimmte Theorie zu zwängen“ (S. 69),
sondern sich vom Patienten selbst in entsprechende Deutungen und
Theorien führen zu lassen. Immer wieder wird die subjektive Sicht
und die Notwendigkeit der Anpassung der theoretischen Perspektive
an die Bedürfnisstruktur der Patienten betont. Diese schon fasst
konstruktivistische Sicht auf die Kommunikation und Interaktionen
im Behandlungskontext macht die psychodynamische Psychiatrie
anschlussfähig an die Konzepte Systemischer Therapie, die gerade im
europäischen Kontext eine immer größere Rolle spielen.
Fazit
Das Lehrbuch ist für alle, die aus psychodynamischer Sicht die
Praxis einer modernen Psychiatrie erlernen und bewerten wollen,
eine hervorragende Möglichkeit eigene Kompetenzen auf dem
Hintergrund des aktuellen internationalen Forschungsstandes
auszubauen. Auch als Nachschlagewerk zu einzelnen Themen ist das
Buch für die Alltagspraxis ambulanter und stationärer Psychiatrie
sowie für die Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeuten und
Psychiatern eine große Bereicherung.
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