Rezension zu Psychoanalyse als Erzählkunst und Therapieform
Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche 29/2010
Rezension von Dominic Angeloch
Das Junktim zwischen Psychoanalyse als Erzählkunst und
Psychoanalyse als Therapieform liegt in der »Narration«: So könnte
man den Ausgangspunkt und zugleich das grundlegende Postulat des
italienischen Kinder , Erwachsenen und Lehranalytikers Antonino
Ferro zusammenfassen. Unter »Narration« versteht Ferro »jenes
Vorgehen des Analytikers während der Therapie, bei dem er ganz und
gar dialogisch und ohne besondere, durch Deutungen gesetzte Zäsuren
gemeinsam mit dem Patienten ›einen Sinn konstruiert‹« (S. 10).
»Narration« ist hier also wesentlich als »Konstruktion« aufgefasst
- und zwar als Konstruktion von »Sinn«.
Aufgabe des Analytikers ist es, so Freud 1937, »das Vergessene aus
den Anzei¬chen, die es hinterlassen, zu erraten, oder, richtiger
ausgedrückt, zu konstruieren.« Die Konstruktion ist dabei aber
nicht bloß eine vom Analytiker erdachte Deutung des vom Analysanden
gelieferten Materials, sondern geht auf deren Wirkung aus: »Der
Analytiker bringt ein Stück Konstruktion fertig, teilt es dem
Analysierten mit, damit es auf ihn wirke; dann konstruiert er ein
weiteres Stück aus dem neu zuströmenden Material, und in solcher
Abwechslung weiter bis zum Ende.« Mit der Unterscheidung von
»Deutung« und »Konstruktion« lenkte Freud die Aufmerksamkeit auf
Dynamik und Prozesshaftigkeit der Interaktion zwischen Analytiker
und Analysand.
Wenn Ferro nun mit Nachdruck daran erinnert, dass »keiner der
beiden an der Narration Beteiligten (...) im Besitz einer vorab
feststehenden Wahrheit« ist und eine »genuin dialogorientierte
Zusammenarbeit von Patient und Analytiker« einfordert (S. 10), so
wendet er sich damit gegen eine ȟbertriebene Asymmetrie zwischen
Analytiker und Patient« (S. 18). An die Stelle der »schulmäßigen«,
allzu sinngesättigten Deutung, die der Analytiker als starker
Interpret seinem Patienten präsentiert, soll eine behutsame »ko
narrative Transformation oder sogar eine transformative Ko
Narration« treten (S. 10); anstatt eines »›Dekodierers‹ der Texte
des Patienten« (S. 18) soll der Analytiker zum »Ko Narrator« der
»Narrationen« werden, die im Raum zwischen Analytiker und Analysand
entstehen. Beim Ziel, eine »gemeinsame Erzählung« (S. 31) zu
entwickeln und Gestalt gewinnen zu lassen, ist der Patient, wie
Ferro mit seinem Gewährsmann Bion feststellt, der »beste Kollege«
des Analytikers (S. 28).
Im Interesse, den Prozess der Konstruktion von Sinn im Ausgang von
den Erzählungen des Patienten zu beschreiben und zu transformieren,
unternimmt Ferro eine Engführung von psychoanalytischer Theorie -
vor allem in Bionscher Tradition mit Literatur und Ergebnissen der
Erzählforschung. Dabei sind es vornehmlich (post
)strukturalistische Theoreme, auf die er rekurriert (Eco, Greimas,
DeMan). Über den zentralen Begriff der »Narration« entfalten sich
Ferros hermeneutische Überlegungen im Raum zwischen »Konstruktion«
und Dekonstruktion.
Bisweilen mag dann der Eindruck entstehen, dass der Autor sich von
der Begeisterung über seine Entdeckungen etwas weit forttragen
lässt. So zum Beispiel, wenn seine Parteinahme für die »Öffnung des
Sinns« (S. 194) und »unendliche Geschichten (oder unendliche
Sinngebungen)« (S. 20) in die luftige Aussicht mündet, der
Analytiker müsse »frei sein, sich von der Verankerung in seinem
psychoanalytischen Wissen zu lösen, um über die Säulen des Herakles
und des analytisch bereits Bekannten hinauszusegeln zu den neuen
Welten eines noch nicht Gedachten, aber Denkbaren und zu jenen
Gedanken auf der Suche nach einem Denker, die jenseits des Ozeans
unseres Geistes auf uns warten« (S. 17).
Fragwürdig erscheint gelegentlich auch, ob die Bezugnahme auf Bions
»Raster« wirklich zu höherer Präzision verhilft und ob das
Hantieren mit Abstraktionen und Formalisierungen Bionscher
Provenienz (...) der Erkenntnis besonders zuträglich ist. Trotzdem:
Die Realität der analytischen Praxis verliert Ferro an keiner
Stelle aus den Augen. So sind es denn auch vor allem die
zahlreichen Fallbeispiele aus seiner langjährigen klinischen Praxis
als Kinder- und Erwachsenenanalytiker, die ein plastisches,
instruktives Bild davon entstehen lassen, was mit dem
»fortdauernden Prozess der Ko Narration von Analytiker und Patient«
(S. 162) gemeint ist.
Im Rahmen der analytischen Therapie inszeniert der Analysand seine
inneren Konflikte außen. So stellt er unbewusst eine seiner
seelischen Problemlage entsprechende Beziehungsszenerie her, in die
der Analytiker einbezogen ist. Gerade durch dieses Einbezogensein
kann der Analytiker die jeweils situativ modifizierte Wiederholung
früherer Gefühle, Phantasien und Einstellungen des Analysanden
aktuell beobachten, unter kontinuierlicher Beachtung und Kontrolle
seiner eigenen Gefühle und Gedanken die Szene erspüren, in der er
sich mit dem Analysanden befindet, und den Analysanden durch
Benennung dieser Szene zur allmählichen Erkenntnis der seinen
Symptomen zugrundeliegenden unbewussten Konflikte begleiten. Soweit
die bekannte Theorie der Übertragungs Gegenübertragungs
Dynamik.
Ferros Plädoyer nun zielt darauf ab, die Analyse so konsequent wie
nur möglich als »transformative Interaktion zwischen Analytiker und
Patient in der aktuellen Gegenwart« aufzufassen (S. 169). Der
Analytiker soll darauf bedacht sein, die »Narrationen« des
Analysanden - sein Verhalten und Sprachverhalten - nicht vorschnell
zu vereindeutigen und zu beschneiden. Durch starre Übersetzungen
unter Rückgriff auf einen unveränderlichen Code blockiert er die
gemeinsame Erkenntnis des Sinns der Mitteilungen des Analysanden.
Im Anschluss an die von Willy und Madeleine Baranger entwickelte
»Feldtheorie«, die er für »komplexer und raffinierter« als die
bisherige Übertragungs Gegenübertragungs Theorie hält (S. 161),
empfiehlt Ferro, »die Narrationen in einer Sitzung« jeweils »als
Bestandteile des aktuellen Feldes zu hören« (S. 163). Als solche
»Bestandteile des aktuellen Feldes« begreift er auch Zeichnungen
der Patienten, »Narrationen von der Sexualität oder über sie« (Kap.
4), Traumerzählungen bzw. Wachträume (Kap. 5), ja selbst die
Produktion von Wahn und Halluzinationen (Kap. 6). Jede Mitteilung
des Analysanden soll immer zugleich als »Antwort in Echtzeit auf
die emotionalen Afferenzen der augenblicklichen Beziehung« (S. 195)
aufgefasst werden. Auch das Agieren des Analysanden wird so nicht
nur als Widerstand des Analysanden, sondern als eine »Dysfunktion
des Feldes und mithin in gewissem Umfang auch der geistigen
Leistungen des Analytikers« lesbar (Kap. 8). Die Grenzen der Denk
und Aufnahmefähigkeit des Patienten will Ferro »nicht einfach nur
dem Patienten« zugeschrieben, sondern jeweils auch als »Signale« an
den Analytiker verstanden wissen (S. 159). Diese Signale kann und
soll der Analytiker zu Ausgangspunkten für die Änderung seines
Deutungsverfahrens machen (S. 163). Ein solches strikt situatives
Verstehen erlaubt es ihm dann, seine als Interventionen
verstandenen Deutungen an den Äußerungen des Analysanden - dessen
»Dialekt« - entlang zu organisieren, zu modulieren und ggf. zu
modifizieren. Erst dann können die Narrationen, die sich im Feld
zwischen Analytiker und Analysand manifestieren, nicht nur
»gewusst«, sondern auch sinnvoll zu einer »gelungenen Narration«
(vgl. S. 57ff.) »transformiert« werden (S. 166).
Alles, was sich zwischen Analytiker und Analysand abspielt, »kann
gedeutet werden in Bezug auf das Hier und Jetzt« (S. 137) der
Analyse. So verstanden, werden die Äußerungen des Analysanden von
Symptomen, denen Deutungen gegenübergestellt werden, zu
»Charakteren oder Figuren des Feldes« im Spiel der gemeinsamen
Narration. »In einer analytischen Sitzung«, schreibt Ferro,
»geschieht dasselbe wie in Italo Calvinos Roman ›Wenn ein Reisender
in einer Winternacht‹ (...), in dem nicht nur Leser und Autor
wirklich zu literarischen Charakteren werden, sondern in dem die
erzählerische Dynamik die Beziehungen zwischen den beiden Polen der
Erzählung umfasst. Auf diese Weise konstituieren die Erwartungen,
Fragen, Hoffnungen und Ungewissheiten der Lektüre (und der Schrift)
das Bindegewebe der Erzählung« (S. 147).
Ob Ferros Nachweis einer »parallel laufende(n) Entwicklung (...)
zwischen der Auffassung des literarischen Charakters in der
Erzählforschung (...) und der Art, in der Charaktere in
verschiedenen psychoanalytischen Modellen konzipiert worden sind«
(S. 133), sich als tragfähig erweist, wäre noch genauer zu
überprüfen. Aber wie immer man sich zu seiner - zumeist analogisch
verlaufenden (s. o.) - Engführung literarischer Narrationen auf der
einen Seite und der als »besondere Form von Literatur« verstandenen
Narrationen in der analytischen Therapie auf der anderen Seite
stellen mag: In schlaglichtartigen Lektüren von Schnitzler,
Stevenson, Joyce u. a., in Interpretationen von Filmen und
Zeichnungen und anhand seiner Fallvignetten gelingt es ihm, diese
im Interesse der analytischen Praxis vorgenommene Engführung
reizvoll zu illustrieren und plausibel herauszuarbeiten.