Rezension zu »Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin«

Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 43 (4), 2010

Rezension von Dirk Klose

Wie intensiv politische Traumatisierungen nach leidvollen Erfahrungen in der DDR sein können, ist seit längerem bekannt. Als gleich nach der »Wende« Hans Joachim Maaz Buch »Der Gefühlsstau« erschien, wurde es ebenso beifällig akklamiert als auch – wegen seiner schier unvorstellbaren Breite in Analyse und Interpretation von DDR-Mentalitäten – rasch wieder beiseite gelegt. Spätestens zehn Jahre später war die Überzeugung allgemein, dass das bedrückende Leben in der DDR bei etlichen Menschen erhebliche seelische Schäden hervorgerufen hat; Stephan Trobisch-Lütges Untersuchung »Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung« (2004) war dafür beredter Ausdruck.

Unlängst sind zwei Bücher zu dieser Thematik in erweiterter Form wieder aufgelegt worden, die das Thema »Politische Traumatisierung« schon vor Jahren vertieft hatten und zeigen, wie sehr es heute, 20 Jahre nach dem Untergang der SED-Diktatur, noch aktuell ist, ja eigentlich jetzt erst richtig in seiner Tragweite erkannt wird, nun ergänzt um intensive Bemühungen, Betroffenen zu helfen.

Die Psychotherapeutin Annette Simon hat schon mehrfach auf das Problem unterschiedlicher Mentalitäten im vereinten Deutschland hingewiesen und dabei größeres Verständnis für die Menschen in der DDR angemahnt. Sie gebraucht das Wort vom »Zwillingspaar« in Deutschland, »von Mutter Deutschland und Vater Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg gezeugt, unter strenger wilhelminischer Erziehung in rigidem und patriarchalisch geprägtem Kleinbürgermilieu gemeinsam aufgewachsen«. Die zu harten Männern erzogenen Knaben wachsen nach 1945 in völlig unterschiedlichen Welten auf; der Bruder West lebt zunehmend in Freiheit und Wohlstand, präsentiert sich mit neuem Auto und gar keiner Ideologie, während Zwilling Ost im grauen Büßerhemd und mit einem großen Packen Ideologie herumläuft. Nach 1989 kommt es für beide zum Schwur: Können sie wieder zusammenfinden oder bleibt man emotional getrennt, ausgerüstet mit Überheblichkeit und Komplexen?

Simons Buch ist ein einziges Plädoyer um mehr Verständnis füreinander, ein Appell an den Zwilling West, die sehr viel schwierigere Biografie des Ost-Bruders zu verstehen. Für diesen Lebensweg nennt die Autorin die bekannten Beispiele: den allgegenwärtigen Versorgungs- und zugleich Überwachungsstaat, die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der sich fürsorglich gebenden, aber immer auf Unterordnung pochenden Staatsmacht, die Gefahren, denen man sich bei Nichtbefolgung sehr rasch aussetzte (300.000 politische Gefangene gab es zwischen 1949 und 1989 in der DDR; ein Drittel, so schätzt man, hat schwere psychische Schäden erlitten). Den Ost-Zwilling mahnt sie, seine eigene Vergangenheit nicht zu verdrängen.

Der zweite Band fasst die Vorträge einer Arbeitstagung des Berliner Psychoanalytischen Instituts vom November 2005 zum Thema »Traumatisierung in der Geschichte und Gegenwart (Ost-)Deutschlands« zusammen. Fast alle Beiträge stammen von Therapeuten, die in der DDR groß geworden und dort in ihren Beruf gekommen sind. Der wegen der mitunter ausführlichen Methodendiskussion nicht immer leicht zu lesende Band kreist wie auch das Buch von Annette Simon (die auch hier unter den Autoren ist), um die bestimmenden Themen: Traumatisierung durch NS-Zeit, durch Krieg, Flucht und Vertreibung, durch stalinistische Repression und durch erfahrene oder als ständige Bedrohung empfundene Stasi-Praxis. Der Grundtenor in vielen Beiträgen: Während sich die »alte« Bundesrepublik schon seit den späten 50erJahren mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hatte, gab es für die Menschen in der DDR einen doppelten »Nachholbedarf«, nämlich die Erfahrungen in zwei Diktaturen, die fast zwei Generationen prägten.

Die Reaktionen gleichen sich fast immer: rasches Vergessen, Verdrängung, Sprachlosigkeit und Festhalten an Tabus durch viele Jahre. Dadurch wird die Heilung seelischer Verletzungen und lang anhaltender Verwundungen verzögert oder gar verhindert. Und auch hier der immer wieder unternommene Versuch, eine Lösung durch Gespräche, durch Bewusstmachung und Einsicht in das Verdrängte zu erreichen.

Die Autoren bringen zahlreiche, zum Teil bedrückende Beispiele für seelische Erkrankungen. Da sind die Kinder der Kriegskinder, die gewissermaßen Not und Elend der Eltern (Vertreibung, Vergewaltigung) nolens volens aufgenommen und weitergetragen haben (»Containerfunktion des Kindes«). Da ist der Mann im Oderbruch, der 1990 in Panik gerät, sich regelrecht in seinem Haus verbarrikadiert und die neue Zeit einfach nicht an sich heranlassen will; erst ein Jahrzehnt später gelingt es ihm, sich daraus zu befreien (»Der politische Mauerfall ging seinem persönlichen Mauerfall 14 Jahre voraus«). Da sind politische Gefangene und auch die Menschen, die die vermeintliche frühere Sicherheit vermissen (»die väterliche DDR«) und mit den neuen ungewohnten Lebensbedingungen einfach nicht fertig werden.

Mehrere Autoren verwenden den Begriff »Psychohistorie« und verbinden damit eine doppelte Forderung: Die psychohistorische Perspektive müsse unbedingt in die Therapie miteinbezogen werden. Und zugleich müsse Psychohistorie ein Bestandteil der allgemeinen Geschichtsschreibung werden. In seinem Vorwort zum Simon-Band drückt es Joachim Gauck so aus: »Psychologen und Psychotherapeuten (bieten) auf bestimmte Erscheinungen in der Gesellschaft oft überzeugendere Antworten an als Politologen und Soziologen.« Man möchte ergänzen, dass dies letztlich nicht nur für die Menschen im Osten Deutschlands, sondern für Ost und West gleichermaßen gilt.

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