Rezension zu Ich, das Geräusch

Musiktherapeutische Umschau 31 (1), 2010

Rezension von Rosemarie Tüpker

Als »Volkskrankheit« wird seit einiger Zeit der Tinnitus aurium und seine vielen Erscheinungsformen bezeichnet. Von der inzwischen umfangreichen Fach- und Ratgeberliteratur unterscheidet sich dieses Buch durch einen bemerkenswert anderen Ansatz. Der Bremer Psychoanalytiker Michael Tillmann holt das Symptom aus der bizarren Entfremdung des unerklärlich Somatischen zurück in die Verstehbarkeit und Wandelbarkeit des Psychischen. Er tut dies auf der Grundlage psychoanalytischer Erfahrung, klug, voller Mitgefühl und dennoch mit der Distanz, die einen anderen Blick auf das Symptom erlaubt als es naturgemäß dem Betroffenen selbst zunächst möglich ist: Wer diesem unerträglichen Piepen, Rauschen oder Klingen ununterbrochen ausgesetzt ist, empfindet es als Ich-fremd, als Nicht-Ich. Wem die ständigen Geräusche im eigenen Ohr die Ruhe und den Schlaf rauben, der möchte sie so schnell wie möglich loswerden. Das ist leicht nachvollziehbar.

Durchaus schwierig ist es hingegen, sich selbst oder einen Patienten auf eine annehmbare Weise zu ermutigen, hinzuhören auf das, was das Geräusch, als Teil des Eigenen, beizutragen hat zum inneren Dialog. Nicht den Tinnitus als etwas Feindliches zu betrachten, sondern zu verstehen, was er sagen möchte: dazu fordert Tillmann auf und es gelingt ihm überzeugend zu zeigen, wie der Tinnitus als »Form der Kommunikation« entschlüsselt und als »körperlichen Ausdruck der Seele« (S. 69) verstehbar werden kann.

Tillmann verortet das Symptom zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen der Industrialisierung und Globalisierung und den individuell biographischen Erfahrungen und damit im Formenkreis der Hysterie, die mit dem Tinnitus gegen den Prozess der Entsinnlichung und des Sinnverlusts aufbegehrt. Der Tinnitus hat etwas zu erzählen aus der Zeit des frühen körperlichen Erlebens und möglichen Entgleisungen des vorsprachlichen Mutter-Kind-Dialoges, die im Körper eingekapselt sind und sich in besonderen Lebenssituationen wieder zu Gehör zu bringen versuchen. Diesen noch unverstandenen und dadurch nicht sprachfähigen Botschaften nicht zuzuhören, sondern dem Patienten die »Maskierung« seines Symptoms zu empfehlen (wie es die vorherrschende Therapie tut), bedeutet auch, dem Patienten wichtige Zugänge zur eigenen Erfahrung weiter zu verstellen und ihn mit seiner Angst allein zu lassen. Mit jeder weiteren Maske zieht sich auch der Sinn weiter zurück und raubt anstehenden Neufassungen des eigenen Lebensstils oder notwendigen Korrekturen in der Feinabstimmung von Ich und Welt die Energie. Unerträglich ist ein Leiden vor allem dann, wenn es keinen Sinn macht, betont Tillmann und sieht eine mögliche Brücke zum Unbewussten und zur Wiederherstellung verloren gegangener Sinnzusammenhänge in der Schaffung neuer Zugänge zu ästhetischen Erlebnissen.

Dieser Ansatz ist ganz nah an der Musiktherapie als einer psychotherapeutischen Methode, die mit der musikalischen Zwiesprache von Patient und Therapeut über besondere Zugangsformen zum frühen Dialog verfügt. Auch der Möglichkeit der (Wieder-)Entdeckung der Musik als »Sprache der Gefühle« kommt eine besondere Bedeutung zu, wenn es um eine Entwicklung vom »konkreten Körper weg zum emotionalen Körper« (S. 88) geht. Auch die freie Improvisation kann den Betroffenen eine sinnlich-ästhetische Erlebens und Ausdrucksform verfügbar machen – auch über die Therapie selbst hinaus – und somit Teil einer Wandlung werden, die der Tinnitus anzustoßen versucht. Tillmann beschreibt die besondere Bedeutung des Hörens für die kindliche Entwicklung wie für die Gegenwart und verweist darauf, dass das Hinhören beim Tinnitus wie auch in der Musik dabei helfen könne, »sich seiner selbst gewahr zu werden« (S. 67). Indem er die sinnliche Erfahrung und die metaphorische Verschlüsselung in den Künsten mit der Metaphorik des Tinnitus in Beziehung setzt, schafft er bedenkenswerte konzeptuelle Anregungen sowohl für die, die musiktherapeutisch mit Betroffenen arbeiten oder die auch selbst vom Tinnitus betroffen sind. Der Zumutung, das Symptom in seiner psychologischen Dimension zu verstehen, steht die berechtigte Hoffnung entgegen, dass das Psychische zugleich das Wandelbare ist und dass das Symptom wieder verschwinden kann wie es gekommen ist - auch nach längerer Zeit.

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