Rezension zu Die Entstehung des Seelischen
PSYCHE, 8/2010
Rezension von Dr. Caroline Neubaur
Alle philosophischen Überlegungen zur Entstehung des Seelischen
stehen in der schamanistischen Tradition, ob nun in Widerspruch
oder Zustimmung, das heißt sie anerkennen einen vom Körper
geschiedenen Seelenursprung. Wann die Seele in den Körper fährt,
war lange Zeit nur ein Streit um des Aristoteles’ Bart. Anima est
forma corporis, sagt Thomas von Aquino in Aristoteles-Nachfolge,
und mit ihm ist die katholische Kirche, die ja gern aristotelisch
denkt, der Meinung, dass die Seele eine Substanz ist. Für »alle
anderen«, vornehmlich die Naturwissenschaften, kann man
holzschnittartig sagen, ist die Seele eine späte Funktion mit einer
synthetisierenden Aufgabe. Allerdings gibt es nun doch noch eine
interessante dritte Vorstellung, die alttestamentliche. Die Bibel
spricht von nephesh – Luther übersetzt Seele –, die Lebensluft wird
dir eingeblasen, da ist zwischen Atem und Bewusstsein gar nicht zu
unterscheiden. Das Bewusstsein lässt sich nicht von der Aktualität
des Lebens abstrahieren. Bions Reverie ist nicht fern. Nun kann die
Frage genauer gestellt werden: Wie wird der Körper zur
Repräsentation des Seelischen, entelechetisch oder geschichtlich?
Die Bibel meint: geschichtlich.
Freud steht in einem Zwiespalt. Er muss einerseits sagen: Die Seele
ist so wie alles andere auch eine Funktion von körperlichen
Vorgängen, die, wenn wir sie genau durchschauen, keine
Sondersubstanz mehr gelten lassen. Seine andere Position lautet:
Nein das Psychische folgt ganz eigenen Gesetzen. Der Berliner
Psychoanalytiker Bernd Nissen hat einen Sammelband zu dem Projekt,
die Entstehung des Seelischen zu erklären, vorgelegt. Er hat bei
diesem Projekt gegenüber Naturwissenschaften und Philosophie einen
großen Vorsprung: er kann mit dem Vergrößerungsglas der Pathologie
arbeiten. Deskriptive Wissenschaften können keine pathologische
Entwicklung diagnostizieren und keine therapeutische
Gegenmöglichkeit entwerfen. Die pure Empirie, wie sie sich
beispielsweise in Wittgensteins Kontrollsätzen niederschlägt,
erlaubt keine Erkenntnis von Pathologischem. Wer aber kein Konzept
vom Pathologischen hat, der hat auch keine Erkenntnis vom
Seelischen. Schon auf dem Niveau von Melanie Klein war klar, dass
seelisches Wachstum ohne Pathologie nicht denkbar ist.
(...)
Allen Analytikern dieses Bandes, die Fälle vorstellen, gebührt
Respekt. Bernd Nissen hat sich in seine hochkomplizierte
Fallgeschichte mit heroischem Mut geworfen. Ich möchte nicht
wissen, wie viele Analytiker vor einem solchen Fall die Segel
streichen würden. Ebenso Gerhard Schneider. Nicht in der Erzeugung
eines Systems, in das die Beobachtungen eingefasst werden, liegt
das Heil, sondern in der Klinik als einer permanenten
Experimentierphase liegt’s, stickt’s und haftet’s, wie Luther sagen
würde. Einer Klinik, die nicht »Illustration« eines Dogmas ist,
sondern Produktion von seelischem Wachstum. Dass jeder Fall eine
Welt für sich ist, eine Theorie sui generis produzieren müsste, ist
das eine. Dieses eine bedeutet aber nicht, dass man die
Allgemeinheit preisgeben darf. Nissen will sie mit Freud nicht
preisgeben. Das ist der Kampf gegen den Platonismus in uns allen.
Er ist nicht lösbar, denn gäbe es keine Verallgemeinerung, wäre ich
im nächsten Moment ein ganz anderer. Goethe konnte es
epigrammatisch so ausdrücken: »Was ist das Allgemeine? Der einzelne
Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle.« Heinz Weiß und Gerda
Pagel zitieren Bion in ihren Überlegungen zur Entstehung des
Psychischen bei Lacan und Bion, die Psychoanalyse könne als eine
systematische Anstrengung verstanden werden, ȟber das Denken
nachzudenken«. Dieser Satz gehört ins Stammbuch jedes Analytikers.
Auf Griechisch heißt das, um einmal Aristoteles und die
Psychoanalyse zu verbinden: noesis noeseos noesis. Er müsste das Om
mani padme hum jeder Psychoanalyse sein, denn es geht bei ihm nicht
um das Verständnis des Satzes, sondern um die Wiederholung der
Aktion.
Zitiert aus PSYCHE 8/2010.