Rezension zu Kinder der Shoah
Radio Darmstadt
Rezension von Walter Kuhl
Der radioaktive Niederschlag des Nationalsozialismus
Vor zweieinhalb Monaten fragte mich der Psychosozial-Verlag, ob ich
das Buch der israelischen Psychoanalytikerin Yolanda Gampel
besprechen wolle. Mir sagte der Name nichts und so ließ ich eine
als Datenkrake bekannte Suchmaschine auf das weltweite Datennetz
los. Das Ergebnis empfand ich als zwiespältig. Einerseits erschien
mir Yolanda Gampel als eine progressiv eingestellte Frau, die
bereit war, über den Tellerrand individualpsychologischer
Herangehensweisen hinauszugehen. Seit zwei Jahrzehnten wirkt sie in
einer israelisch-palästinensischen Gesundheitsinitiative mit,
welche die Traumata auf beiden Seiten des Konflikts wahrnimmt und
sich um gegenseitiges Verständnis bemüht. Diese Einstellung
entspricht weder dem israelischen noch dem palästinensischen
Mainstream und ist gewiss als emanzipatorisch zu betrachten.
Zum anderen jedoch verspürte ich mit einem leichten Unbehagen mein
grundlegendes Problem, das ich mit der Psychoanalyse habe. Um nicht
missverstanden zu werden: ich denke, dass das psychoanalytische
Instrumentarium Kindern und Erwachsenen dazu verhelfen kann, aus
den Fallen der eigenen Sozialisation herauszugelangen, sich von
inneren und äußeren Ängsten zu befreien und ein Leben zu führen,
das nach Systemmaßstäben als »normal« gilt. Allerdings ist das, was
als »normal« betrachtet wird, alles andere als normal, sondern eine
seit rund zehntausend Jahren kulturell und gesellschaftlich
erzwungene und eingeübte Anpassungsleistung an die Anforderungen
einer patriarchal und hierarchisch organisierten Welt. Und weil ich
in psychoanalytischen Werken das Begreifen der Dimension dieser –
wie ich finde: zerstörerischen – Anpassungsleistung oftmals
vermisse, befürchtete ich, bei dem mir noch unbekannten Buch von
Yolanda Gampel dieses Unbehagen in Polemik zu verwandeln.
Ich gebe zu, dass dieses Unbehagen auch nach der Lektüre des Buchs
nicht verschwunden ist. Der individualpsychologische Ansatz
scheint mir hier noch viel zu deutlich heraus, obwohl Yolanda
Gampel über Traumata schreibt, deren Ursachen nicht in der
individuellen Psyche zu suchen sind, sondern in ganz manifester
Gewalterfahrung in einem Grenzbereich, den wir als Normalsterbliche
gar nicht nachvollziehen können. Ich vermute, dass sich die Autorin
der Problematik sehr wohl bewusst ist. Sie schreibt nämlich an
anderer Stelle in einem Statement in diesem Jahr der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ins Stammbuch:
»Abermals diskutieren und untersuchen müssen wir auch das Erbe der
sozialen und politischen Gewalt in Osteuropa. Meines Erachtens
haben wir uns damit nicht genügend auseinandergesetzt. Diese Gewalt
ist ein Thema, über das wir nachdenken und für das wir Lösungen
finden müssen, nicht nur in Osteuropa, sondern auch in
südamerikanischen Ländern und in China.
Häufiger als jemals zuvor behandeln wir heutzutage immer mehr
Störungen, die mit einem traumatischen, auf sozialer Gewalt
beruhenden Hintergrund zusammenhängen. Die Psychoanalyse
beschäftigt sich vorwiegend mit der psychischen Realität, um die
unbewusste innere Welt zu erklären. Wie können wir auf beide
Realitäten eingehen, ohne den Bereich der Psychoanalyse zu
verlassen? Wie sollte eine Arbeit aussehen, die weder eine
Dichotomie noch Verwirrung erzeugt?«
Die Fragestellung ist richtig. Die innere psychische Verarbeitung
von Konflikten, Zwängen und Anforderungen ist ja nicht auf die
Analyse und Verarbeitung postnataler (vielleicht auch pränataler)
Beziehungskonstellationen zu Müttern und Vätern zu beschränken.
Kinder lernen sehr früh – und ich denke, das wird viel zu sehr
unterschätzt –, was es heißt, in einer sozialen Hierarchie
überleben zu müssen. Ich würde sogar so weit gehen und die Familie
als Keimform gesellschaftlicher Organisierung zu einem erheblichen
Teil für derartige Konflikte verantwortlich zu machen. Die Familie
ist die erste Instanz, mittels der sozial erwünschtes Verhalten
eingeübt wird, und zwar ein Sozialverhalten, das sich an
Herrschaftsstrukturen und nicht an Befreiung davon orientiert.
Allerdings gibt es noch eine weitere Form äußerer Gewalt, die weit
über dieses Maß von struktureller Gewalt hinausgeht. Davon handelt
das Buch »Kinder der Shoah«. Es ist eine Gewalt, von der Yolanda
Gampel sagt, dass sie nicht nur auf die hiervon direkt
Traumatisierten einwirkt, also diejenigen, die von den Nazis und
ihren Schergen gequält und misshandelt wurden, aber überleben
konnten, sondern auch auf die Nachkommen, die mit Männern und
Frauen leben müssen, die das Erlebte eigenständig in den seltensten
Fällen verarbeiten konnten. Yolanda Gampel benutzt das Bild der
»Radioaktivität«, um den Vorgang der Übertragung unsichtbarer
seelischer Verletzungen beschreiben zu können.
Mich hat sehr beeindruckt, dass sie sehr offen auch ihre eigenen
Widerstände und Schwierigkeiten benennt, sich den Opfern der Shoah
zu nähern. Vielleicht schwingt hier ein Bewusstmachen der in einer
selbst vorhandenen sozialen Konflikte mit, das sie befähigt hat,
eine in der israelischen Gesellschaft durchaus nicht
mehrheitsfähige Position im israelisch-palästinensischen Konflikt
einzunehmen. Es geht um das Verstehen des oder der Anderen, und
damit auch um das Verstehen-Wollen.
Ich hatte, um auf meine einleitenden Worte zu diesem Buch
zurückzukommen, noch einen zweiten Grund, eine Ablehnung der
Besprechung zu erwägen. Kurz vor der Anfrage des Verlages hatte
mich der Beschluss des Programmrats erreicht, mir den Sendeplatz zu
entziehen. Irgendwie war ich in Bezug auf die Anfrage darüber nicht
ganz unfroh, denn es enthob mich von der Frage, wie ich ein Buch
besprechen soll, das sehr viel Sensibilität erfordert, zumal ich
als Mensch mit deutschem Pass nicht gänzlich unvoreingenommen
hierüber schreiben und reden kann. Doch der Verlag ließ das nicht
gelten und er schickte mir das Buch auch ohne die Sicherheit, dass
ich es hier vorstelle.
Das entspricht nicht unbedingt normalem kapitalistischen
Geschäftsgebaren. Ob es damit zu tun hat, dass ich auch in der
Vergangenheit Bücher des Verlags hier vorgestellt habe, oder
einfach damit, dass der Verlag selbst aus einer sozialkritischen,
an den Psychoanalytiker und Friedensaktivisten Horst-Eberhard
Richter angelehnten Haltung heraus entstand, lasse ich einmal
dahingestellt. Und so rede ich nun hier über ein Buch, das uns
Einiges nicht nur über die Kinder der Shoah sagen kann, sondern
auch darüber, wie unverarbeitete Konflikte an die nächste oder gar
nächsten Generationen weitergegeben werden können.
Sicherlich verflüchtigen sich manche derartiger innerer Konflikte
aufgrund aktueller und stressbehafteter Konstellationen und
Anforderungen. Aber in so mancher Eigenart und in so manch sozialem
Unvermögen spiegeln sie sich dann doch wider. Es reicht eben nicht
aus, nach vorne zu schauen, Gas zu geben und das Vergangene als
geschehen, als erledigt abzuhaken. Denn das Vergangene wirkt nach
und macht sich dann an Stellen bemerkbar, an denen wir es nicht
erwarten würden, und vor allem dann, wenn wir es nicht brauchen
können.
Yolanda Gampels vor vier Jahren im französischen Original
erschienenes Buch enthält zehn aufeinander aufbauende Kapitel, mit
der sie uns am Aufspüren der radioaktiven Elemente teilhaben lässt.
So gelangt sie von dem, was ein Überlebender der Shoah nicht
aussprechen konnte und was seinen Sohn zu einem eigenartigen
Verhalten zwang, um seinen Vater zum Sprechen und damit auch zum
Leben zu bekommen, zur Frage, wie wir heute frühzeitig in soziale
Konflikte psychologisch begleitend eingreifen können, um neue
Traumata nicht in neue soziale und/oder individuelle Gewalt
umschlagen zu lassen.
Den sich hier durchaus auftuenden Gedankengang, dem nachzugehen,
inwieweit die Shoah als kollektives Trauma im israelischen
Vorgehen, beginnend von den ethnischen Säuberungen im
Unabhängigkeitskrieg 1947 bis zur Terrorisierung Gazas heute
nachwirkt, spart die Autorin aus. Kein Vorwurf meinerseits.
Vielleicht ist es noch zu früh, hierüber ohne Ressentiment, ohne
Anklage und ohne Schuldzuweisung, aber auch ohne Verharmlosung und
Entschuldung zu reden.
Wenn ich bei Yolanda Gampel nachlese, wie sie als Therapeutin
versucht, nicht nur eine kommunikative Ebene zu Kindern und
Erwachsenen aufzubauen, um an das Geheimnis einer psychischen
Blockade zu gelangen, sondern zudem diese Blockaden durch
spielerische wie sprachliche Kommunikation aufzulösen, dann bin ich
wie auch bei anderen, ähnlichen Darstellungen – etwa bei Melanie
Klein – immer wieder fasziniert davon, mit welcher Sicherheit
Deutungen vorgestellt und Analysen gegeben werden. Ich frage mich,
woher diese Selbstsicherheit stammt. Ich frage mich, wie oft neben
den dargestellten Fällen auch sozusagen ungelöste Fälle bestehen,
von denen wir nichts lesen. Nun will ich nicht behaupten, die
psychoanalytische Theorie und das damit verbundene Setting wirklich
zu verstehen. Manches jedoch kommt mir zu konstruiert vor, scheint
aber dennoch zu wirken.
Anderes hingegen zeigt nur zu deutlich auf, was wir Kindern antun
können, wenn wir sie mit Erwartungen konfrontieren, die völlig
außerhalb ihrer eigenen Einflussnahme sind. Die Vergabe von Namen
zum Beispiel:
Ein Kind wählt seinen Vornamen nicht selbst, so wenig wie es seine
Eltern selbst auswählt. Wenn es auf die Welt kommt, ist ihm ein
Platz der Liebe oder des Hasses bestimmt. Seine Geburt ist das
Resultat eines Wunsches oder eines Zufalls, sie kann Freude oder
Trauer auslösen, Verwirrung oder Klärung. Man gewährt dem Kind
einen Raum zum Leben oder es ist dazu bestimmt, eine Leere
auszufüllen. Durch den Vornamen wird es schließlich als eine ganz
bestimmte Person festgeschrieben.
Mit dem Namen sind kulturelle Vorstellungen, Traditionen,
Symboliken verbunden. Ein Kind ist nicht einfach, sondern hat etwas
Bestimmtes zu sein. Der Name kann dann als das Programm aufgefasst
werden, welches das Kind als Erwachsene oder Erwachsener
auszufüllen hat.
In einem Land wie Israel, so fährt Yolanda Gampel fort, mit seiner
kriegerischen Geschichte ist die Wahl des Vornamens von dem Wunsch
nach Überdauern des jüdischen Volkes geprägt. Erhält das Kind (der
Junge, im israelischen Kontext ist aber auch ein Mädchen möglich)
den Namen eines im Kampf gefallen Helden (oder Heldin), so wird
erwartet, sich ebenso zu bewähren. Es lebt somit nicht nur sein
eigenes Leben, sondern in ihm (ihr) lebt der (die) Gefallene fort.
Dass dies zu inneren Konflikten führen muss, ist einleuchtend.
Stirbt er oder sie tatsächlich im Kampf, wird das Schicksal bemüht,
um den Tod zu erklären. Ein bisschen hat es auch etwas von einer
self-fulfilling prophecy. Dies kann soweit gehen, dass auch
Familienangehörige sozusagen radioaktiv mit eingeschlossen werden,
um dem Schicksal entweder zu entfliehen oder es zu bestätigen. Eine
psychoanalytische Behandlung kann die Mechanismen offenlegen und
einen Weg aufzeigen, dem in der Namenswahl eingeschriebenen Dilemma
zu entgehen.
Lasst mich ein sehr unpolitisch scheinendes Kapitel näher
betrachten, ein Kapitel, das für mich symptomatisch die
Möglichkeiten und gleichzeitigen Grenzen einer Psychoanalyse
aufzeigt, die doch zu sehr den gesellschaftlichen Normen verhaftet
ist. Im vierten Kapitel mit dem der Bibel entlehnten Ausspruch »Du
wirst es deinen Kindern erzählen« wird eine Mutter vorgestellt, die
mit ihrer jüngsten, inzwischen 17 Jahre alten Tochter nicht
zurechtkommt.
Die Analyse des Falls beschreibt eine Familienkonstellation, die
von Zwängen und Trennungen geprägt ist. Als Analytikerin stellt
Yolanda Gampel einen Zusammenhang zwischen der Kindheit der Mutter
im von Nazideutschland besetzten Osteuropa und dem Verhalten der
Tochter her und zeigt Parallelen auf, die für die Mutter
erschreckend sind und die sie nicht wahrhaben will. Überrascht hat
mich hier, dass das ganz normale pubertäre Abnabelungsverhalten
junger Menschen überhaupt nicht zur Sprache kommt. Eine Tochter,
die sich familienintern bewusst destruktiv verhält und schlechte
Manieren zeigt, ist doch nichts Ungewöhnliches, sondern zeigt nur
auf, auf welch verlogenen Fundamenten die heilige Familie
steht.
Yolanda Gampels Buch »Kinder der Shoah« ist ein bemerkenswert
interessantes Werk, bei dem ich zuweilen hin und her gerissen war,
ob ich weiterlesen oder es erst einmal nicht so genau wissen will.
Denn es geht nicht nur um die Auswirkungen des Terrors der
Nationalsozialisten und ihrer willfährigen deutschen
Kollaborateure, sondern auch um uns selbst. Was tragen wir in uns,
was hat die Lektüre fremder Fälle mit uns zu tun, und was tun wir
mit dem, was wir in uns tragen, uns selbst und vor allem anderen
Menschen an? Schon das Motto des Buchs verdeutlicht die mit der
Suche nach dieser Erkenntnis verbundenen Schwierigkeiten:
Die Überlebenden der Shoah tun sich wie alle Opfer
gesellschaftlicher Gewalt schwer, über das Erlebte zu sprechen.
Zeugnis abzulegen und vor allem gehört zu werden, ist ihnen jedoch
zugleich höchstes Bedürfnis. Wer indes von Unrecht, gebrochenen
Menschen, von Chaos, Grausamkeit und Verbrechen berichten hört,
muss bereit sein, auf feste Beweise zu verzichten.
Redaktion »Alltag und Geschichte« bei Radio Darmstadt
(26.10.2009)
www.waltpolitik.powerbone.de