Rezension zu Transzendenzverlust und Melancholie (PDF-E-Book)
Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 16, 2009
Rezension von Gudrun Goes
Die von dem Psychoanalytiker Eberhard Haas vorgelegte Studie kann
die Rezensentin nur in jenen Teilen besprechen, die Dostojewskijs
Werk betreffen und von besonderem Interesse für unsere Leser sein
können. Haas Arbeit ist sehr komplex angelegt; in einigen Kapiteln
wirkt sie allerdings für den Literaturwissenschaftler auch etwas
disparat. Andererseits sind die Überlegungen, Vergleiche und
Beispiele weltliterarisch basiert. Sein Wissen um das Funktionieren
von Literatur und Psychologie ist sehr groß, auch kennt der Autor
das Romanwerk des russischen Schriftstellers Dostojewskij in dessen
religiösen und philosophischen Dimensionen genau. Seine
aufgeführten Quellen sind beeindruckend, auch wenn er in den
literarischen Diskussionen bestimmten Positionen folgt und deshalb
nicht immer die aktuelle literaturwissenschaftliche
Auseinandersetzung einholt bzw. bedient. Das will und kann auch
nicht sein Vorgehen als Psychoanalytiker sein, der seine
Fragestellungen auch kulturwissenschaftlich einbettet.
Seine Kapitel heißen: Die Entstehung der Kultur durch
Transformation der Gewalt; Sucht - Surrogate - Transzendenz;
Karamasowsche Welten. Dostojewskijs Ansichten über Himmel,
Purgatorium und Hölle; Melancholische Arbeit; Kollektive depressive
Erschöpfung; Dissidenz und Exodus; Freuds Kokainepisode und das
Problem der Sucht; Freud und-oder Girard? Psychoanalyse und
Christentum; Good bye, Lenin.
Ausgangspunkt der Untersuchung von Eberhard Haas ist die
wissenschaftliche Revolution (vgl. S. 11), die sich mit den Namen
von Kopernikus und Darwin verbindet, und die eine metaphysische
Sprengkraft enthält, die erst allmählich in die private Sphäre
eingedrungen ist. Die Erinnerung an die Rede vom Tod Gottes ist für
Haas nicht nur eine akademische. Mit der Emanzipation, also der
Befreiung von religiöser Bevormundung, ging den Menschen eine
kollektive und individuelle Gewalterfahrungen transformierender
Behälter verloren. Haas glaubt sehr genau beobachtet zu haben, dass
der Prozess der Säkularisierung eine Dialektik enthält, deren
Schattenseite gespürt und als Psychopathologie erlitten werde.
Transzendenzverlust steht in Verbindung mit Depression. Früher
konnte in der Sprache der Religion Wissen über Lebensumstände
weitergegeben werden. Die Untersuchungen und empirischen Befunde
des Autors bezeugen nun, dass diese Form des Redens über
Lebenszusammenhänge nicht einfach suspendiert werden darf, dass die
Übersetzung dieses lange schon erworbenen Wissens in eine
nichtreligiöse Sprache mit Verlusten verbunden ist.
Der Autor beklagt, dass auf der Grundlage dieses Prozesses die
›unsichtbare geistige Welt‹ verloren gegangen sei.
So fallen das Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaft und das
Außerkraftsetzen einer transzendenten Ordnung gerade im Romanwerk
F. Dostoevskijs nach Haas zusammen. Das Universum des russischen
Schriftstellers stellte er in eine Reihe mit dem von Sophokles. Der
Sturz Gottes bedeutete bei F. Dostoevskij die Zerstörung der
Hierarchien, die Zerstörung der Autorität. Diese widerspiegelt sich
vor allem im Verlust familiärer Strukturen. Seit Kopernikus und dem
Tod Gottes (vgl. S. 48) hat nicht nur die Selbstvergottung des
Menschen begonnen, sondern auch dessen Selbsterforschung. Diesem
Ziel fühlte sich F. Dostoevskij verpflichtet, und der Autor Haas
geht dieser Problemstellung im Kapitel Karamasowsche Welten nach.
Im Abschnitt Dantesches Denken bei Dostoevskij wird die Akzeptanz
von Bildern von Himmel, Fegefeuer und Hölle gegen ein physikalisch
und biologisch verarmtes Menschenbild gerichtet. Himmel, Hölle und
Purgatorium werden in die Sprache der psychologischen Dichtung
(vgl. S. 74) übersetzt. Haas sieht diese Dreiteilung durch je einen
der drei Brüder Karamasow verkörpert. An dieser Stelle möchte die
Rezensentin auf weitere in der slavistischen Literaturwissenschaft
geführte Diskussionen zu dieser Problematik aufmerksam machen, die
hier keine direkte Rolle spielen, aber trotz eines anderen
Vorgehens von Eberhard Haas große Berührungspunkte aufweisen. Für
Brigitte Harreß verkörpern die drei Brüder jeweils eine
Entwicklungsstufe des Menschen: Dmitrij stellt die physische
Komponente dar, Ivan die psychische und Alesa die geistliche. (Vgl.
Birgit Harreß: Mensch und Welt in Dostoevskijs Werk. Köln; Weimar;
Wien 1993, S. 346) Die drei Brüder verkörpern aber auch
unterschiedliche Prinzipien, Dmitrij das emotionale, Ivan das
rationale und Alesa das christlich ethische. Smerdjakov erscheint
als eine zugespitzte Variante von Fedor Karamazov selbst.
Und Horst Jürgen Gerigk konstatiert: »Der zum Mord führende
Vaterhaß hat paradoxerweise sittliche Empörung zur Grundlage. Diese
aber führt hier Iwan, Dmitrij und Smerdjakow in die Unfreiheit des
verwerflichen Wünschens. Aus dieser Unfreiheit werden Iwan und
Dmitrij durch sittliche Selbstfindung erlöst. Smerdjakow bringt
sich hingegen um, und Aleksej steht bereits zu Beginn des Romans in
der Aura des Staretz Sossima. So zeigt das 12. Buch die drei Brüder
Karamasow unterwegs zur Freiheit; sie überwinden das, zu was sie in
Reaktion auf ihren leiblichen Vater geworden waren (...).« (Vgl.
Horst Jürgen Gerigk: Die Archetektonik der Brüder Karamasow. In:
Horst Jürgen Gerigk (Hrg.): Die Brüder Karamasow. Dresden 1997, S.
66)
Die weitere Unterteilung des Kapitels Karamasowsche Welten ist: Die
Hölle: biografisch und romanesk genannt. Dostoevskijs eigene Hölle
wird durch seine Spielsucht und seine Krankheit hier entworfen.
Im Unterkapitel »Im Kloster« folgt Haas Iwans Denkstrategien, die
er als ein kopernikanisches Denkmodell und deshalb als sein Dilemma
(vgl. S. 83f.) darstellt. Der Abschnitt »Vatermord« widmet sich dem
Vergleich mit Schillers Drama »Die Räuber«. In Gewalt gegen Kinder
entsteht Iwans neue Weltordnung, die sich mehr um die Opfer kümmern
will. Das Unterkapitel »Der Großinquisitor. Das ganze Poem« (vgl.
S. 92f.) behandelt die Krise des Erwachsenwerdens der
abendländischen Literatur. Nicht der Glaube an die Allmacht der
Eltern schwindet, sondern der nachmittelalterliche Mensch ist immer
Glaubenskrisen ausgesetzt. In Krisenzeiten bedienen sich nach
Sigmund Freud die Menschen eines Opfers, das zum Behältnis aller
negativen Gefühle wird. Danach folgen die Abschnitte »Starez
Sossimas« und »Verwesungsgeruch«.
Wie Dante das Jenseits um des Diesseits willen beschreibt und keine
Weltflucht predigt, so hält es auch Dostoevskijs Werk (vgl. S.
95f.) um einer tieferen Realität willen für unverzichtbar, in
lichtere Regionen vorzudringen. Auf diese Weise widerspricht sein
Werk dem Denken der Neuzeit. Für ihn stellt das alte Byzanz, das
sich in den Reden Sossimas wieder findet, nichts anderes als die
Rückkehr zum Christentum der ersten Jahrhunderte dar.
Im Zentrum aller Kulturgesetze (vgl. 103f.) steht die Trauer, und
diese ist sacer: sowohl nach der Hölle, zur melancholischen
Verzweiflung, wie nach dem Himmel, zur Sinn gebenden Kraft, hin
offen. Es schließt sich hier der Abschnitt »Purgatorium« an. Das 8.
und 9. Buch der »Brüder Karamasow« beschreibt jeweils Dmitrijs
Purgatorium, die Läuterung ist bereits angelegt, dabei werden seine
ödipalen Purgatorien skizziert. In Iwans erstem Höllenkreis stellt
Haas dar, wie sich Alesa um den sterbenden Ilusa kümmert, Dmitrij
in dem verlassenen Kind in sich eine Verbindung herzustellen sucht,
Ivan Gott im Namen der misshandelten Kinder herausfordert. (Vgl. S.
111f.) Der Abstieg Dantes im Inferno verläuft anders als im
Purgatorium vom Leichteren zum Schwersten. Ivans Abstieg, inklusive
der drei Besuche bei Smerdjakov, und die Erkenntnis an der
Mitschuld am Vatermord gehören zusammen. Seine Verwirrung und sein
Nervenfieber steigern sich parallel zu diesem Erkenntnisprozess.
Das Kapitel wird mit den Abschnitten »Das Gerichtsurteil« und
»Epilog« abgeschlossen.
Haas äußert Zweifel, ob Dostoevskij wirklich die Fortsetzung dieses
Romans Die Brüder »Karamasow« geplant habe, denn die drei Brüder
(vgl. S. 121) leben weiter wie Ödipus und Hamlet, sie kehren in
jeder Generation wieder und sind Teil von uns, sie repräsentieren
die geistige Welt, in der wir leben. Frühere Zeiten haben ihnen
einen Ort in einer jenseitigen göttlichen Ordnung zugewiesen und
daraus ihre Haltepunkte im Leben gewonnen. Dostoevskijs Realismus
hat ihnen einen Ort in einer inneren Transzendenz zugeteilt. So
übersetzt Dostoevskij das, was man heute über Inferno, Purgatorium
und Paradiso sagen kann, jedenfalls im Kontext einer Anthropologie,
die den Bereich des Subjekts und der Seele nicht suspendiert.
Über Dantes Universum in Dostoevskijs Romanwelt einzudringen,
scheint Haas überzeugend gelungen zu sein; der Leser muss sich aber
immer auf eine psychoanalytische Konstruktion des Gesamtbildes
einlassen.