Rezension zu »Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben«

Freiburger Literaturpsych. Gespräche - Jb f. Lit. u. Psychoanal. Bd 25 2005

Rezension von Carl Pietzcker

Als Arnold Zweig 1936 bei Freud anfragt, ob dieser einverstanden sei, wenn er dessen Biographie schreibe, winkt Freud entschieden ab: »Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben [...].« Dem entnimmt diese Sammlung von Aufsätzen aus unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten ihr Motto, auf das die meisten, wenn sie Probleme biographischer Rekonstruktion reflektieren oder Biographien rekonstruieren, sich dann auch mehr oder weniger deutlich beziehen, so dass sich ein gewisser Zusammenhalt ergibt. Trotzdem ist eine Fülle von Wiederholungen und Variationen des Gleichen zu konstatieren, denn die Beiträge gehen nicht aufeinander ein, nehmen einander nicht einmal zur Kenntnis.

Orientierung verspricht der Band, indem er die Aufsätze drei Feldern der Erforschung biographischer, auch autobiographischer, Narration zuordnet und dementsprechend drei Großkapiteln: I: Psychoanalyse Konstruktivismus; II: Biographie Forschung biographisches Interview qualitative Forschung/Psychologie; III: Biographie Forschung Historische (Re)-Konstruktion. Als Herausgeber gibt Klaus Jürgen Bruder, Psychoanalytiker und Professor für Psychologie an der Freien Universität Berlin, in einem methodologischen Vorwort aus psychoanalytischer Perspektive einen Überblick über Einheit und Differenz der jeweils rekonstruierten biographischen Wahrheit. Im psychoanalytischen setting (I) decke der Analysand sie nicht in einem abbildenden Spiegelbild auf, sondern rekonstruiere sie als seine subjektive Wahrheit, indem er ältere Selbstbilder, die in der Übertragung aufkommen, mit Sichtweisen des Analytikers konfrontiere, die ihnen widersprechen. Diese subjektive Wahrheit sei für andere nicht zu haben, auch nicht für den Analytiker. Nach Bruder bestimmt dies, wie auch Rekonstruktion auf der Basis älterer Deutungen, wie Übertragung und wie ganz allgemein die Rolle des fragenden, zuhörenden oder schreibenden Anderen die biographische Wahrheit mit. Im empirisch sozialwissenschaftlichen biographischen Interview (II) erstellten die Befragten ihr Selbstbild mit Rücksicht auf die gegenwärtige Situation, auch auf die des Interviews, und auf die Interviewenden selbst, die in der Regel nicht an ihrem eigenen Anteil an diesem Selbstbild, an der Übertragung und an der subjektiven Wahrheit des Individuums interessiert seien, sondern an der objektiven Wahrheit des gesellschaftlichen Diskurses, die sie aus den Antworten Vieler gewönnen. Hier gehe es nicht um subjektive Wahrheit, sondern um Wahrheit des Gesprächs; sie wechsle je nach Interviewer und Situation. Die Biographie eines Abwesenden (III), der sich zu ihr nicht mehr äußern könne, müsse eigentlich auf ein Jenseits dessen verzichten, was in den Quellen gesagt werde; doch der Biograph rekonstruiere sie aus den Texten im Spiel von Übertragung und Gegenübertragung, eigener Situation, Diskursen seiner Zeit, insbesondere Diskursen der Macht, in der Regel als einen herausragenden und in sich kontinuierlichen Lebenslauf. Er erfinde dies Subjekt und mache sich schreibend zum Herrn seines Lebens eine Kompensation der Kränkung, nur Glied in einer Kette zu sein. Solche Biographien nähmen andere dann zum Muster, wenn sie ihr eigenes Leben konstruieren. Damit hat Bruder den Rahmen gezeichnet, in welchem die einzelnen Aufsätze zu lesen wären.

I: Eva Jaeggi führt in ihren Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Psychotherapie aus, dass Erinnerung sich im sozialen Kontext nach kulturellen Mustern, z. B. denen einer Religion oder der Psychoanalyse, vollziehe; sie bestimmten, wonach die Erzählenden die Zeit einteilten, nach Feiertagen etwa, nach politischen oder Beziehungsereignissen, und sie bestimmten, was ihnen als erzählens-, also auch erinnernswert gelte. Erinnert würden weniger einzelne Ereignisse als allgemeine Bedeutungen; ihnen werde in der psychoanalytischen Therapie in Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ein neuer Sinn unterlegt. Es entstehe ein Netzwerk bedeutungsvoller Erinnerungen: ein neuer Sinnzusammenhang, der Möglichkeiten zur Heilung biete. Brigitte Boothe untersucht die Traumerzählung als inszenierte autobiographische Rede, welche Momente des Traums aus dem Gedächtnis hervorsuche, sprachlich fixiere, reihe, einem anderen als Suchprozess anbiete und hierbei um Verstehen und Akzeptanz werbe, durchaus getragen von der Hoffnung der Erzählenden, aus der Fremdheit, mit der sie ihrem Traum gegenüberstehen, zu wenigstens punktueller Selbstaneignung zu gelangen. Almuth Bruder Bezzel zeichnet die Wandlungen Manes Sperbers und seines Verhältnisses zu Alfred Adler nach ein Beitrag, der seinen Ort unterm Thema dieses Bandes vielleicht gerade noch dadurch rechtfertigen kann, dass er Adlers und Sperbers These erwähnt, unsere tendenziöse Wahrnehmung, die Unangenehmes ausblende, verlange nicht, dass wir Verdrängung postulieren. Dies freilich wäre einer eigenen Diskussion wert gewesen. Nach Bernd Scheffer beeinflussen »biographisch emotionale Driften« von Wissenschaftlern die allgemeine Richtung von Forschung und Lehre auch in den harten Wissenschaften. Die endlose autobiographische Tätigkeit, die jedes Fühlen, Denken und Handeln begleite, produziere Wirklichkeitsmodelle eben auch als emotionale Modelle. Was nicht heiße, dass Wirklichkeit hier nur subjektiv konstruiert werde, vielmehr bestimme Rücksicht auf die mutmaßliche Welt anderer die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion; eigene Wahrheit, eigene Objekte würden mit expliziten und nachvollziehbaren Methoden entsprechend dem jeweiligen Standard hervorgebracht. Biographisch emotionale Driften könnten dazu führen, dass ein Wissenschaftler jenseits solch eines Standards mehr und anderes sieht und einen neuen setzt. Aus psychoanalytischer Sicht wäre es, meine ich, nützlich gewesen, die Überlegungen von Georges Devereux zur Gegenübertragung im Forschungsprozess beizuziehen (Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München 1973). Die biographische Wahrheit, so schließt Scheffer seine Ausführungen, sei nicht zu haben, weil das jeweilige Bewusstsein dem Fremd wie auch dem Selbstbeobachter grundsätzlich nicht zugänglich sei und weil das Bewusstsein eine andere Sprache spreche als die über das Bewusstsein.

II: Nach Matthias Rudloff kommt die qualitativ empirische Biographieforschung über die Konstruktionen nicht hinaus, die der Interviewte im Zusammenwirken seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und seines Zukunftsentwurfes erstellt. Erzählanlässe, kommunikative Begleiterscheinungen, gesellschaftliche Funktionen autobiographischen Erzählens in der Beichte, vor Gericht, in der Psychotherapie oder eben im Interview wirkten mit, wenn der Erzähler an seinen autobiographischen Sinnkonstruktionen weiterdichte und hierbei an seiner Identität und seiner Einbindung in Gemeinschaft arbeite. Im Interview orientiere er sich am Interviewer, so sehr er sich auch als biographisches Subjekt zum Ausdruck bringe. Wie eine bestätigende Weiterführung liest es sich, wenn Sylka Scholz berichtet, wie Interviewte sich auf die Interviewenden, deren Status und Geschlecht bezogen und autobiographisch erzählend hierbei ihre eigene Identität, auch ihre geschlechtliche, herstellten. Autobiographisches Erzählen, so zeigt sie, ist immer adressatenspezifisch. Interaktion konstituiere das Was und Wie einer Lebensgeschichte. Karoline Tschuggnall stellt neurowissenschaftliche, kognitions-, kultur-, entwicklungs- und sozialpsychologische Ansätze von Erinnerungstheorien vor. Sie berichtet von Versuchen mit etwa dreijährigen Kindern, in denen sich zeigte, dass diese nach einem Museumsbesuch ausschließlich die Objekte erinnerten, über welche ihre Mütter mit ihnen gesprochen hatten. Kinder lernten im Gespräch mit Erwachsenen, was bedeutend, also erinnernswert sei, und erlernten hierbei ihren eigenen kognitiven Stil: die Art, wie sie sich erinnern. In solchem memory talk werde der Ursprung des autobiographischen Gedächtnisses gesehen. Ohne Wiederholung verschwinde das früh Erinnerte; eine Möglichkeit, es zu festigen, boten Gespräch und Bezugsgruppe: alte Bekannte regten das Erinnern an, wechsle dagegen die Gruppe, drohe Vergessen. Das lässt sich begreifen, wenn wir bei Harald Welzer erfahren, dass die neuronalen Verbindungen, welche im Gehirn Erinnerungen repräsentieren, an Kraft verlieren, wenn sie nicht in Anspruch genommen werden. Welzer, der aus der Sicht der Erinnerungsforschung in diesem kenntnisreichen und anregenden Aufsatz nach der autobiographischen Wahrheit fragt, arbeitet am Beispiel kryptomnestischer Erinnerungen an Ereignisse, die gar nicht stattgefunden haben, bei Wiederholung aber immer vertrauter und schließlich selbstverständlicher Bestandteil der Lebensgeschichte werden, heraus, wie beeinflussbar das Gedächtnis ist, aber auch, dass sich hinter objektiv falschen Aussagen historische Wahrheit verbergen kann: die des richtig erfassten Gesamtzusammenhangs. Für ihn sind lebensgeschichtliche Erzählungen eher Geschichten über das Leben als historische Berichte; an ihnen zeige sich, wie jemand sich situiere, welche Lehren er aus seiner Vergangenheit ziehe, nicht aber, was er tatsächlich erlebt habe.

III: Helmut E. Lück stellt den wechselvollen Lebens und Denkweg des Psychologen Alfred Katzenstein vor ein historisch verdienstvoller, jedoch im Zusammenhang des Bandes entbehrlicher Beitrag, eine unanalysierte Fallgeschichte. Hans Jürgen Wirth und Trin Haland Wirth haben Psychoanalytikerlnnen interviewt, die vor den Nationalsozialisten in die USA emigriert waren. Es zeigte sich, dass diese die Trauer um den Verlust ihrer Heimat und die Trauer angesichts des Holocaust meist abgewehrt, sich am Vertrauten der psychoanalytischen Theorie sichernd festgehalten oder aber sich schnell und erfolgreich assimiliert hatten. Dieser Erinnerungsverlust habe zur dogmatischen Versteinerung oder zur Psychiatrisierung der Psychoanalyse geführt, zum Verlust ihrer sozial aufklärerischen Tendenzen und zur Dominanz der Ich Psychologie Hartmanns, welche mit ihrer Behauptung einer autonomen Ich Sphäre der kollektiven Abwehr der Schrecken des Holocaust gedient habe und erst in den 60ern in Deutschland kritisiert worden sei. Hier wäre auf des Emigranten Theodor W. Adornos Kritik an der Ich-Psychologie einzugehen gewesen. Elfriede Billmann Mahecha fragt nach dem Wert biographischer Analysen in psychologiegeschichtlichen Untersuchungen; sie scheinen ihr fruchtbar, also wahrheitsfordernd, wo es um Wahl und Bearbeitung der Themen sowie um lebens-, zeit- und sozialgeschichtliche Kontexte, kaum aber, wo es um die Beurteilung eines Werkes gehe. Jörg Kollbrunner plädiert dafür, dass Biographen ihre Erkenntnisinteressen offen legen. Biographien würden aus sozialem Gehorsam und unbewussten Motiven manipuliert, in Nekrologen z. B. zur Aufrechterhaltung des psychischen Gleichgewichts. Auch seien die Grenzen der Wahrnehmungsverzerrungen und die für sie wesentliche Übertragungsbeziehung zwischen dem Biographen und seinem Objekt kaum zu erkennen. So gelte es, den Baugrund des biographischen Konstrukts offen zu deklarieren. Außerdem müssten die »vergessenen« Biographien derer geschrieben werden, die als unverständlich abgetan würden, weil sie uns zu sehr an unsere eigenen erschreckenden Möglichkeiten erinnerten, z. B. die des Attentäters von Erfurt. Auch sei die Lebensgeschichte einflussreicher Politiker wissenschaftlich fundiert, also ohne aggressiv verletzende Recherche, zu analysieren. Dann könne der wählende Bürger besser entscheiden. Abschließend wendet sich Norbert Rath drei Lesern und Autoren von Autobiographien und ihrer Ambivalenz, ja Skepsis gegenüber der illusionären Sinnhaftigkeit von autobiographisch hergestellten Lebensläufen zu: Nietzsche, Freud und Lou Andreas Salome, beider geistige Freundin. Nietzsches Vorbehalte gegenüber lügender Biographik seien durch das idealisierende Arbeiten seiner Schwester an ihrer lange Zeit erfolgreichen Nietzschelegende voll bestätigt worden, und auch Freud habe in Ernest Jones einen Biographen gefunden, der nicht ganz frei war von Idealisierung und Heroisierung. Lou Andreas Salomé habe sich geweigert, Informationen über ihre Beziehung zu Nietzsche für eine Biographie zur Verfügung zu stellen; aus ihrem Lebensrückblick erfuhren wir zu jener Beziehung kaum etwas.

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