Rezension zu Ekel als Folge traumatischer Erfahrungen

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Rezension von Dr. Kirsten Oleimeulen

Eine ekelige Geschichte



Am 08. Juni 1905 kam es auf dem Panzerkreuzers Potemkinl, einem Schiff der russischen Marine, zur Meuterei. Der Auslöser ist die Verpflegung. Ein den Matrosen servierter Borschtsch ist von Maden durchsetzt und die Matrosen beschweren sich angesichts des ekligen Anblicks beim Schiffsarzt. Dieser erklärt den Eintopf trotzdem für unbedenklich - doch die Matrosen weigern sich, ihn zu essen. Daraufhin lässt der bei der Besatzung verhasste 1. Offizier Vorrichtungen für Hinrichtungen treffen, und das Pulverfass explodiert: Die Matrosen meutern und töten die meisten Offiziere.


Ekel: Ein gesunder Umgang mit ungesunden Substanzen


Ekel lässt sich umschreiben als ein Gefühl des Abgestoßenseins, der Abneigung. Der englische Begriff »dis-gust« verdeutlicht, dass es sich primär um gustatorische Aversionen handelt. Im weiteren Sinne wird Ekel aber durch Personen und Werteverletzung hervorgerufen.



In der Verhaltensforschung ist man sich einig, dass Ekel eine primäre Emotion ist. In Psychologie und Anthropologie unterscheidet man zwischen primären und sekundären Gefühlen. Primäre Gefühle, – darunter neben Lust, Freude, Angst, Zorn, Sympathie auch der Ekel, sind Gefühle, welche entwicklungspsychologisch schon sehr früh beim Säugling zu beobachten sind und welche universell sind. Universell heißt, es gibt keine Kultur, welche diese primären Gefühle nicht hätte. Beim Ekel ist dies ganz klar: Er ist ein Instinktrest und durch Geschmack und Geruchssinn angeboren. Er ist wichtige Voraussetzung dafür, dass wir uns vor toxischen und infektiösen Substanzen schützen können, und zwar von klein auf. Eine groß angelegte Studie von Val Curtis hat dies unlängst sehr gut belegt. (Curtis 2004)


Herausgeber


Dr. rer. nat. Ralf Vogt, Diplompsychologe, 8 jährige Tätigkeit als klinischer Psychologe in einer psychiatrischen Klinik in Sachsen. Seit 1992 Niederlassung als psychologischer Psychotherapeut in Sachsen. Psychotraumatologe, Psychoanalytiker, Körperpsychotherapeut. Arbeit als Einzel- und Gruppentherapeut in psychotherapeutischer Gemeinschaftspraxis sowie Fortbildungsleiter im Trauma-Institut Leipzig und in der Leipziger Akademie für Ganzheitliche Psychotherapie. Weitere Ausbildung in systemischer und lösungsorientierter Familientherapie, Hypnotherapie nach Erickson, katathymes Bilderleben nach Leuner sowie analytische Körpertherapie (DGAPT). Entwicklung eines eigenen Behandlungsansatzes zur Behandlung von komplexen Traumafolge- und dissoziativen Störungen seit ca. 12 Jahren (Konzept: SPIM-20-KT, vergl. Publikationen 2004, 2007, 2008).


Aufbau


Das Buch »Ekel als Folge traumatischer Erfahrungen« gliedert sich in 6 Kapitel.


1 Grundlagen und Übersichten zur Bedeutung des Ekelgefühls in den verschiedenen Feldern von Psychotherapie und Gesellschaft


- Ekel und Körper in der analytischen Psychotherapie (Rainer Krause). Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Funktion des Ekels als Schutzmechanismus, der sich im Verlauf der Entwicklung als Reaktion vom Körper ins soziale und Ethische verlagert.

- Ekel – Psychosomatische Aspekte (Uwe Gieler, Milena Grolle, Christina Schut und Jörg Kupfer). Ekel kann nicht nur als Ekelaffekt eine zentrale Rolle spielen, sondern auch als Vulnerabilitätsfaktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung anderer klinischer Störungsbilder wie Angst-, Zwangs und Essstörungen gesehen werden.

- Fremd-Körper – Berührungsangst und Ekel (Peter Joraschky und Ilona Croy). Das Zusammenspiel zwischen Ekel und Scham ist für die Sicherung des Selbst entscheidend. Als Leitaffekt bei Folgestörungen sind Scham und Ekel Affekte, die für die Regulation er Grenzen des Körper-Selbst zuständig sind. Psychologisch finden sich Verbindungen zwischen dem Ekel bei der Nahrungsaufnahme mit dem Ekel in der Beziehungsgestaltung. In vielen Kulturen gilt: Du bist, was Du isst.

- Integrative Körperpsychotherapie und Emotionsregulation: am Beispiel Ekel (Manfred Thielen). Das Verhältnis zwischen Beziehungs- und Körperarbeit ist immer in die Beziehungsarbeit eingebettet. Die Metapher des Tanzes ist ein schönes Bild für den ständigen Ebenenwechsel zwischen Beziehungs- und Körperarbeit.

- Ekel – Psychodynamik, Beziehungsdynamik und kulturelle Bedeutung einer vitalen Empfindung (Hans-Jürgen Wirth). Ekel und Scham sind sehr körpernahe Affekte. Scham betrifft die eigene Leiblichkeit, Ekel die des Fremden. Scham ist die Angst, durch sozial falsches Verhalten bei einem zweiten Menschen Ekel auszulösen. Es ist Ausdruck eines mangelnden Selbstwertgefühls angesichts eines anderen Menschen, der über mehr Macht verfügt.


2 Therapiekonzepte, Behandlungsmethoden und Fallberichte zum professionellen Umgang mit Ekelgefühlen

- Ekel als Abwehr – Abwehr des Ekels (Mathias Hirsch). Ekel sollte ursprünglich das Aufnehmen unverträglicher Stoffe in den Körper verhindern. Er breitete sich dann auch gegen eigene und fremde Exkremente aus und richtete sich schließlich auch gegen Sexualität als Objekt der Abwehr. Oft genug wird aber nicht der Ekel selbst als Abwehr eingesetzt, sondern eine Äquivalente wie Übelkeit, Erbrechen oder die phobische Angst vor dem Erbrechen, so dass die Bedeutung des Abgewehrten noch weiter verdeckt bleiben kann. Die Wiedergewinnung des Ekelaffektes in der Therapie geht oft einher mit der Aufdeckung dieser Bedeutung zusammen mit der mit ihr verbundenen Beziehungsdimension.

- Das Behandlungskonzept für komplex-traumatisierte, dissoziative Störungen (SPIM-20-KT) und die Bewältigung von Ekelgefühlen (Ralf und Irina Vogt). Ekel ist explizit ein Bedürfnis nach Wahrung von Grenzen, Abstand und Sicherheit. Im SPIM-20-KT dominieren daher in der ersten Therapiephase diverse Kontakt- und Vertrauenssettings, die es dem/der Klienten/-in ermöglichen einerseits den nötigen Abstand zu wahren und zugleich unmittelbare Nähe in Aktion zu erleben.

- Ekel als frühe Introjektion im Rahmen einer komplexen Traumafolgestörung (Renate Hochauf). In diesem Beitrag der Autorin werden frühkindliche Traumata behandelt, die besonderen strukturellen Aspekten unterworfen sind. »Erinnerungen« vor dem 3. Lebensjahr sind nicht explizit im Gedächtnis codiert. Sie haben auch insofern eine andere Einbindung in die Struktur als spätere Traumata, als sie nicht eine funktionierende Welt erschüttern, sondern sich die Weltsicht über einer Erschütterung aufbaut. Frühe Traumaerfahrungen sind in die Strukturbildung »nur« i.S. einer Traumakompensation »integrierbar«. Das Trauma ist Teil der Kernstruktur.

- Die Bedeutung des Containerschemas in der Körperpsychotherapie bei traumabedingten Ekelempfindungen (Marianne Eberhard-Kaechele). Ekel aktiviert motorische, affektive und kognitive Muster, die die Aufgabe haben, einen Innenraum und einen Außenraum durch eine Grenze voneinander zu differenzieren. Diese Konfiguration nennt die Embodimenttheorie das Containerschema (Johnson, 2007)

- Ekel – Sexualität – Verachtung: Verdecktes und Archaisches im Körpererleben (Sabine Trautmann-Voigt). Der Ekelaffekt kann von der kindlich aktivierten Psyche als eine perfekte Tarnung für Verachtung und archaischen Hass genutzt werden, der ursprünglich von einem wichtigen Objekt ausging und als Reaktion des Selbst nun seinerseits auf eben dieses wichtige Objekt gerichtet ist. Der Ekel distanziert auf einem somatischen Level von darunter liegenden Affekten wie mörderischer Hass, Wut und Todesangst, welche nicht gefühlt werden dürfen, weil sie den kompletten Selbstverlust zur Folge hätten.

- Ekel – ein ernstzunehmendes Phänomen in der psychotraumatherapeutischen Praxis (Gabriele Kluwe-Schleberger und Bettina Baumanns). Die Neurolaterale Imaginative Traumatherapie (NLITT) vereinigt die Vorzüge der bilateralen Stimulierung einerseits und der imaginativen Techniken andererseits. Ziel der NLITT ist eine schnelle und gezielte Entlastung bei Hochstresslagen sowie die Befreiung von Angst durch Vertrauensbildung und Ressourcenbildung. Es werden in diesem Kapitel die Übungen »Zurück in die Zukunft«, »Ressourcenmobilisierung und –verankerung« und die »Bildschirmtechnik zur Ressourcenstabilisierung« vorgestellt.


3 Ausgewählte Problemfälle der Behandlung von Ekelgefühlen in der psychotraumatisch-analytischen Praxis

- Sechs Fallvignetten mit starken Ekelsymptomen als komplexer/dissoziativer Traumanachfolgestörung (Irina Vogt). Es handelt es sich dabei z.B. um eine Frau, die ihre Ekelsymptomatik in der Pränatalzeit entwickelte, da sie eine rauchende und alkoholkonsumierende Mutter hatte. Eine weitere pränatale Traumatisierung ergab sich für eine andere Frau Aufgrund der Ablehnung durch die Mutter und den starken Stress, dem die Mutter während der Schwangerschaft ausgesetzt war.

- Der Ekel in der therapeutischen Realität und seine Auswirkungen auf die Gegenübertragung des Analytikers (Thomas Reinert). Auch in diesem Kapitel werden wieder Fallbeispiele dargestellt, in denen der Therapeut Gegemübertragungsphänomene erlebte. Ekel, Kälte, Atemnot, Hustenreiz, Aufstoßen oder Schmerzen aller Art sind oft Störenfriede in der Therapie, deren Wahrnehmung oft vermieden wird. Dies sind aber gerade im körperlichen Umgang die besonders hilfreichen Helfer, die schneller als das kognitive Bewusstsein Widersprüche in der Situation, vor allem im Kontakt signalisieren. Ihre Thematisierung kann immer wieder den entscheidenden Fortschritt bringen.


4 Spezielle Forschung zum Ekelgefühl bei dissoziativen u.a. Psychotraumapatienten

- Pilotstudie zum Erleben von Ekel bei komplextraumatisierten/dissoziativen Patienten in der ambulanten Praxis (Ralf Vogt). Das Ehepaar Ralf und Irina Vogt haben in eigener Praxis eine Pilotstudie mit einem selbst entwickelten Fragebogen zur Erforschung des Ekelgefühls (PEFB) sowie 2 weiteren Fragebögen durchgeführt. Inhaltlich sticht hervor, dass gerade Überlebenserfahrungen von sexueller Gewalt, sexuellem Missbrauch und sexuellen Belästigungen im Rahmen der Herkunftsfamilie als besonders ekelig, schwer überwindbar und unvergesslich für das Gros der Psychotraumapatienten gelten.


5 Spezielle Vorgehensweisen zur Prävention, körperpsychotherapeutischen Annäherung und stufenweisen Kompensation von Ekelgefühlen
- Über ein Interventionstraining für werdende Eltern und den Umgang mit Ekelgefühlen bei Kursteilnehmern (Wiebke Bruns, Ute Hedtke, Dagmar Bergmann, Beate Siegert, Franziska Schlensog-Schuster und Joachim Wiese). In diesem Kapitel wird Safe (sichere Ausbildung für Eltern) als Trainingsprogramm für Eltern zur Förderung einer sicheren Bindung vom Psychotrauma-Zentrum-Leipzig e.V. vorgestellt. Ziel des Trainings ist es, Eltern die Kompetenz zu vermitteln, für die Bedürfnisse und Signale ihres Kindes emotional verfügbar zu sein und über ihre eigenen inneren Befindlichkeiten, Affekte und Spannungen selbst reflektieren zu können.

- Settings mit beseelbaren Therapieobjekten zur Gestaltung von positiven Nachnährungserfahrungen bei starkem Ekelerleben (Beate Siegert, Dusan Hajduk und Robert Richter). Nachnährungssettings mit beseelbaren Therapieobjekten werden erfahrungsgemäß von Klienten/-innen nach anfänglicher Skepsis sehr gut angenommen. Patienten/-innen berichten oft davon, dass diese Körpererfahrung im Alltag Einfluss hat und die Erinnerung gewissermaßen abgerufen werden kann.

- Zur Bewältigung von Rückzugstendenzen infolge Ekelgefühlen durch Kontakt- und Konkurrenzsettings (Meike Martens und Anne-Sophie Wetzig). Die dargestellten Settings können eine einfache und spielerische Methode sein, mit Klienten in Kontakt zu kommen, um nach dem Aufbau einer neuen positiven Übertragung alte Konflikte besser aufarbeiten zu können. Ein großer Vorteil bei der Arbeit mit Objekten ist dabei, dass die Gefahr von schweren Projektionen und Sexualisierung umgangen werden kann. Außerdem ermöglicht der bewusste Umgang mit dem Übergangs-Übertragungs-Objekt ein trianguläres Arbeiten mit dem Therapeuten und damit ein Arbeiten an der Übertragung statt in der Übertragung.


6 Selbstberichte von Klienten im Kontext, Ekel, Scham und Agressionsbewältigung

- Selbstbericht über meine Psychotherapie mit extremen Ekelgefühlen infolge sexueller Gewalt (Dusan H.)

- Selbstbericht über meine Psychotherapie mit Ekel-, Aggressions- und Ohnmachtsgefühlen (Andreas O.)


Zielgruppe


Psychotherapeuten/-innen aller Schwerpunkte sowie beratend Tätige


Fazit


Nach Krause ist Ekel das am meisten vernachlässigte und zugleich aber in der Interaktion bedeutsamste Gefühl in der Psychotherapie. Voraussetzung für eine Veränderung dafür ist, dass Psychotherapeuten/-innen sich mit erlebtem Ekel in der eigenen Lebensgeschichte auseinander setzen. Trotz der schweren Thematik macht das Buch Lust auf die Arbeit mit schwersttraumatisierten Menschen und damit auf die eigene Auseinandersetzung mit Ekelerfahrungen. Bei diesem Thema und dem damit verbunden Kontext von Trauma und dissoziativen Folgeerscheinungen ist es wahrlich eine Kunst, den Lesenden zu informieren, aufzuklären, zu motivieren und schlussendlich zu begeistern.


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