Rezension zu Körper, Sexualität und Geschlecht
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Rezension von Prof. Dr. Margrit Brückner
Überblick
Mit dieser Monographie legt Karin Flaake, nach der (mit Vera King
herausgegebenen) viel beachteten Aufsatzsammlung »Weibliche
Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen«, ein weiteres Buch zum
Thema weiblicher Adoleszenz vor, diesmal eine empirische Studie.
Zusammen mit den zwischenzeitlich erschienenen Aufsätzen kommt
Flaake damit ein profunder Expertinnenstatus in Fragen
psychoanalytisch orientierter Analyse weiblicher Adoleszenz zu, der
auch in dieser differenzierten und einfühlsamen und zudem noch gut
lesbaren Untersuchung sichtbar wird.
Empirische Grundlage
Die empirische Grundlage der Untersuchung bilden 20
tiefenhermeneutisch ausgewertete, narrative Interviews von Mädchen
und jungen Frauen, ergänzt durch Interviews von Müttern und auch
Vätern eines Teils der Mädchen und jungen Frauen. In die Auswertung
sind die neuesten Ergebnisse empirischer Forschung und
psychoanalytischer Theoriebildung ebenso eingeflossen wie
literarische Texte, vornehmlich Autobiographien. Die Fragestellung
der Studie bezieht sich auf die Prozesse körperlicher Veränderungen
in der weiblichen Adoleszenz, deren Auswirkungen auf die
Familienbeziehungen und die machtvollen — häufig unbewußten -
kulturellen Deutungs- und Interpretationsmuster dieser Vorgänge,
die eine wesentliche Rolle in der individuellen Verarbeitung des
Entwicklungsvorganges spielen. In den Interviews wird die tiefe
Bedeutung der Körperebene sichtbar insbesondere das
Unkontrollierbare, das zuallererst von dem Mädchen aber ebenso von
Mutter und Vater/ Stiefvater bewältigt werden muß und Vorstellungen
der Machbarkeit und Kontrollierbarkeit als Basis von
Individualisierungsprozessen in ihre Grenzen verweist. Neben allen
modernen Ausdifferenzierungen der Geschlechterrollen und der
Vielfalt im Geschlechterverhältnis scheint die prägende Wirkung der
Geschlechtszugehörigkeit durch, mit ihren Zuschreibungen über
weibliche Körperlichkeit und Sexualität, in denen sich unbewußte
Wünsche und Ängste ausdrückenden.
Überblick über Aufbau und Inhalte
Der Aufbau des Buches bestimmt sich durch eine gute Mischung
vornehmlich das empirische Material auswertender und
theoriebezogener Kapitel, deren Hauptanliegen ist, mithilfe
psychoanalytischer und sozialisationstheoretischer Ansätze die
Verknüpfung individuell psychischer, familiendynamischer und
gesellschaftlicher Ebenen in der weiblichen Adoleszenz aufzuzeigen.
Die empirischen Kapitel weisen folgendes Muster auf: Zunächst wird
ein Interview ausführlich in seinem ganzen Facettenreichtum
interpretiert, dann werden weitere Interviews in ihrer Ähnlichkeit
und Differenz herangezogen und anschließend die Ergebnisse in
vorhandene Erkenntnisse und Analysen eingebettet, sowie durch
autobiographische Literatur vertieft. Die insgesamt elf Kapitel des
Buches lassen sich in drei große Abschnitte gliedern, denen jeweils
ein zusammenfassendes Abschlußkapitel zugeordnet ist: die erste
Menstruation, die Aneignung des weiblichen Körpers und die
Sexualität.
Erster Abschnitt: die Menarche
Der erste Abschnitt zur Menarche beginnt mit dem jeweiligen
Verhältnis des Mädchens zu seiner körperlichen Entwicklung, gefolgt
von der Analyse zunächst der Mutter-Tochter- und dann der Vater/
Stiefvater-Tochter-Beziehung, wobei die verschiedenen Ausprägungen
der Mutter-Tochter-Beziehung den weitaus größten Raum einnehmen.
Von den Mädchen wird die Menarche fast immer als »einschneidend und
aufwühlend« (S.13) und in den meisten Fällen als eher negatives
Ereignis dargestellt, das trotz gestiegenen Wissens von zahlreichen
Ängsten begleitet ist und Stolz auf die eigene Entwicklung ebenso
wie erotischer Entfaltung eine geringe Bedeutung zukommen läßt.
Durch die Menstruation wird die Beziehung zwischen Mutter und
Tochter »innerlich aktiviert« (S.28): einerseits stellt sich eine
körperbezogene, neue Nähe her, andererseits werden neue
Abgrenzungsprozesse erforderlich. Letztere sind geprägt von
töchterlichen Bedürfnissen nach wachsender Eigenständigkeit und
erotischem Erleben auch gegenüber dem Vater/ Stiefvater, sowie
mütterlicher Konfrontation mit der eigenen Adoleszenz und dem
Älterwerden. Die Menarche macht die Geschlechterdifferenz zwischen
Vater und Tochter unleugbar deutlich und erschüttert die bisher
kindbezogene Vater-Tochter-Beziehung, indem die Weiblichkeit der
Tochter und die Männlichkeit des Vaters zum inneren Thema werden.
Um diese trennenden, gleichzeitig aber auch erotisch aufgeladenen
Körperprozesse zu bewältigen, die beim Vater und bei der Tochter
nicht selten zu heftigen Gefühlsstürmen führen, neigen nicht wenige
Väter zur Entwertung dieser Vorgänge, indem der Menstruation für
die Tochter eine tiefere Bedeutung abgesprochen, menstruierende
Frauen mit Spott belegt und/oder das Wachstum der Brüste spaßhaft
auf Kosten der Tochter kommentiert werden. Die Qualität der Studie
erweist sich daran, dass die zumeist unbewußten Zusammenhänge
anhand der Interviews in ihren unterschiedlichen Ausprägungen
nachgewiesen und in einen psychosozialen Kontext gestellt
werden.
Zweiter Abschnitt: die Aneignung des weiblichen Körpers
Der zweite Abschnitt über die Aneignung des weiblichen Körpers
basiert weniger als der erste und der folgende auf ausführlichen
Interpretationen einzelner Interviews, sondern verknüpft kurze
Passagen aus diversen Interviews zu Themenfeldern rund um die
Aneignung von Körperlichkeit, respektive deren Erschweren z.B.
durch die Präventionsangebote der Medizin für Mädchen in der
Pubertät, die ein Überlassen des weiblichen Körpers an die
Ärzteschaft nahelegen. Eine besonders sichtbare körperliche
Entwicklung ist das Wachsen der Brüste, das bei fast allen Mädchen
- zumindest am Anfang - negative Empfindungen ausgelöst hat und
zumeist mit Scham besetzt war, eine Reaktion, die nicht ohne die
hohe sexuelle Bedeutungszuschreibung von Brüsten erklärbar ist.
Einige der Mädchen entwickeln erst über den »wertschätzenden Blick
des anderen Geschlechts und im Laufe von Beziehungen zu Jungen«
(S.112) eine positive Beziehung zu ihren Brüsten. Eine große Rolle
spielen Schönheitsideale und das Gefühl fast aller befragten
Mädchen und jungen Frauen, diesem nicht zu genügen. Die dadurch
ausgelöste Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist in eine unter
Mädchen verbreitete Kultur des Klagens über den Körper eingebunden.
Als von zentraler Bedeutung für die Entwicklung eines körperlichen
Selbstwertgefühls erweist sich die Tatsache, ob und inwieweit die
Mutter in der Lage ist, ein positives weibliches Körperbild zu
vermitteln, wobei sich eher negative Körperbilder zu tradieren
scheinen, nicht selten eingebettet in mütterliche Neidgefühle
gegenüber dem jugendlichen Leib der Tochter und gespeist durch
Rivalität gegenüber dem Mann/Vater. Freundinnen und Beziehungen zu
vertrauten Frauen können durch die erfahrene Wertschätzung der
eigenen Verunsicherung entgegenwirken, können aber auch das Gefühl,
einen unzureichenden Körper zu haben durch Konkurrenzverhalten und
durch Ausgrenzung verstärken.
Dritter Abschnitt: Sexualität und sexuelle Beziehungen
Der dritte Abschnitt ist der Sexualität und sexuellen Beziehungen
gewidmet und beginnt wie der erste mit der Analyse der Interviews
der Mädchen, gefolgt von der Analyse der Mutter-Tochter- und der
Vater-Tochter-Beziehungen anhand der entsprechenden
Elterninterviews. Abgerundet wird der Abschnitt durch Überlegungen
zur notwendigen Veränderung der elterlichen Paarstruktur angesichts
der Verselbständigung der Kinder. Alle befragten Mädchen und jungen
Frauen stellen sich für sich selbst heterosexuelle Beziehungen vor,
zeigen sich aber lesbischen Beziehungen gegenüber tolerant. Je nach
Gruppennorm sehen sich die Mädchen in unterschiedlichem Maße Druck
ausgesetzt, erste sexuelle Erfahrungen vorweisen zu können.
Diejenigen, die schon Erfahrungen gemacht haben, entwickeln zumeist
erst allmählich ein positives Verhältnis zur Sexualität, messen
aber unabhängig davon der Tatsache »es gemacht« zu haben, hohen
Wert im Sinne eines »Durchbruchs« (S.140) für das eigene Leben zu.
Onanie ist für die meisten Mädchen nicht positiv, sondern eher mit
Scham besetzt. Ein Grund kann in der - bei der Onanie
erforderlichen - eigenen sexuellen Aktivität liegen, nicht selten
verbunden mit inzestuösen Phantasien, welche verstärkte
Trennungsangst von der Mutter auslösen und zu entsprechenden
inneren Verboten führen. Auch bezogen auf die sexuelle Entwicklung
zeigt sich die Bedeutung einer bestätigenden mütterlichen Haltung,
wobei sowohl die Frage, ob die Mutter sich als sexuell aktive Frau
sehen kann, als auch die Frage, ob die Tochter in der Lage ist, die
Mutter als solche zu sehen, für eine neue innere Balance zwischen
Bezogenheit und Eigenständigkeit zentral sind. Die Komplexität
familialer Beziehungen macht Flaake am Beispiel der
Vater-Tochter-Beziehung bezogen auf den Umgang mit inzestuösen
Wünschen des Vaters und auf »das Ausmaß der Konflikthaftigkeit des
erotischen Werbens der Tochter« (S.177). deutlich. Die Qualität
dieser Beziehung wird beeinflußt von derjenigen der Mutter-Tochter-
und derjenigen der Paarbeziehung. Denn eine stabile Paarbeziehung
mit deutlichen Generationengrenzen führt sowohl zur inneren
Begrenzung inzestuöser Wünsche des Vaters als auch zur emotionalen
Sicherheit der Frau gegenüber ihrem Mann, was der Rivalität
zwischen Mutter und Tochter die Spitze nimmt. Die Beziehung der
Tochter zum Vater ist sowohl geprägt vom Wunsch nach Distanz als
auch dem Wunsch, verführerisch zu wirken. Für viele Väter sind die
Gefühle, die gegenüber ihrer pubertierenden Tochter in ihnen
aufkommen, bedrohlich und ängstigend, zum einen wegen der Sorge um
den Verlust der Nähe zur und Einzigartigkeit für die Tochter, zum
anderen wegen eigener erotischer Wünsche. Mißlingende Abgrenzungen
— ohne eine neue Ebene der Gemeinsamkeit — führen zur abrupten
Abwendung oder zu Grenzüberschreitungen, bzw. zum Wechsel zwischen
beidem. In jedem Falle werden die Wünsche der Tochter nach
Anerkennung in ihrer neuen, erwachsenen Körperlichkeit
zurückgewiesen.
Fazit
Die Studie macht sichtbar, wie eng in der Adoleszenz die
Erfahrungen von Mädchen und jungen Frauen mit sich selbst und
innerhalb der Familie mit sozialen Bewertungen der Geschlechter
verknüpft sind, die für Frauen »wenig attraktive
Identifikationsmöglichkeiten« (S.227) bereithalten und dazu führen
können, daß Zur-Frau-zu-werden innerlich mit Kränkungen verknüpft
wird, die sich im überwiegend negativen Erleben der Menstruation
und der körperlichen Entwicklung niederschlagen und nicht selten in
eine gesellschaftlich abgesicherte Höherbewertung des Männlichen
münden.