Rezension zu Die Kunst des Lassens
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Rezension von Dr. Jos Schnurer
Von chaotischen Zuständen zu selbstorganisatorischen Heilungen
»Das ganze in den Krankheiten eingekapselte Elend wäre nicht zu
ertragen, wenn wir es nur anhören müssten ohne Aussicht auf
Heilung«; diese Klage könnte von so manchem Arzt und Therapeuten
stammen; aber auch von so manchem Lehrer, und sicherlich ist bei
einigen Erziehungsprozessen auch Eltern die Pendelwirkung von
Ohnmacht und Hoffnung nicht fremd. Deshalb hat mich gereizt, das
Buch von Reinhard Plassmann zu lesen, obwohl ich weder Arzt noch
Psychotherapeut bin. Ich wollte etwas erfahren von dem, was er
»moderne Traumatherapie« nennt und mit den geheimnisvollen
Großbuchstaben EMDR bezeichnet. Die Rezension ist also der
(angemessene?) Versuch eines Laien, über eine Profession zu
schreiben, die in den Augen von nicht wenigen Menschen als
geheimnis- und machtvoll, aber auch scharlatanisch angesehen wird.
Dabei geht es natürlich nicht um eine Einschätzung »an sich«,
sondern – und damit ergibt das Wortspiel einen Sinn – »mit sich«.
Als ein potentieller Patient, dem die vielfältigen Beschwerden und
funktionellen neurotischen und psychosomatischen Erkrankungen, wie
Angstzustände (z. B. Herzängste, Kaufhaus- u. Reiseangst, Fallangst
etc.), Kopfschmerz und Migräne, Essenzielle Hypertonie,
Wirbelsäulenbeschwerden (HWS-Syndrom, Lumbago, Ischialgie),
körperliche Erschöpfungszustände, körperlich erlebte Depressivität,
Hyperventilationstetanien oder Schlafstörungen, irgendwann,
irgendwie erreichen...
Autor
Der Nervenarzt Reinhard Plassmann ist Facharzt für
psychotherapeutische Medizin, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV)
und EMDR-Therapeut. Er ist Ärztlicher Direktor des
Psychotherapeutischen Zentrums der Kitzberg-Klinik in Bad
Mergentheim und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel. Er ist,
wie er von sich sagt, »nicht sonderlich kompliziert«, sondern
neugierig. Deshalb hat ihn als Psychotherapeuten das interessiert,
was er in seiner Profession als »selbstorganisatorische Kränkung«
bezeichnet, der neuen Sichtweise nämlich: »Es ist nicht der
Therapeut, der heilt, sondern das endogene Heilungssystem des
Patienten«.
Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
Eye Movement Desensitization and Reprocessing wird die von Dr.
Francine Shapiro 1987 entwickelte Psychotherapiemethode bezeichnet.
Dabei soll sich der Patient auf ein ihn belastendes Erlebnis
konzentrieren, während seine Augen gleichzeitig den Handbewegungen
des Therapeuten folgen. Die anfangs kritisch bewertete und von
vielen Therapeuten abgelehnte und belächelte Therapiemethode gilt
heute als eines der effektivsten Verfahren zur Behandlung von
posttraumatischen Belastungsstörungen, wie auch anderen
Indikationen, wie etwa traumatische Trauer, Phantomschmerz, Angst-
und Suchterkrankungen.
Aufbau und Inhalt
Reinhard Plassmann gliedert sein Buch, bei dem er dezidiert nicht
nur die Mitarbeit von Kolleginnen und Kollegen, wie Marion Seidel,
Thomas Burkart und Christian Uebele hervorhebt, sondern auch
namentlich die von zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
seiner Klinik und seinen Arbeitszusammenhängen, in 14 Kapitel und
einen impressionistischen Anhang, in dem er interessante
Überlegungen zur männlichen und weiblichen Therapie anstellt.
Nach der Einführung provoziert der Autor gleich die Leser mit der
Frage: »Macht Therapie den Therapeuten kreativ?«. An einem
Therapiebeispiel macht er den Zusammenhang von Traumaschema und
Heilungssystem deutlich. Damit bringt er nicht nur die Zustände von
Dysbalance und Gleichgewicht des Patienten in den möglichen
Heilungsprozess ein, sondern auch die Gefühle des Therapeuten: »Die
Therapeutin, der es gut geht, ist ein Kriterium für die Aktivität
der Heilungsprozesse in der Therapie«. Bereits hier wird deutlich:
Bei der Traumatherapie geht es nicht nur darum, das Elend zu
erfahren, sondern auch die persönlichen Ressourcen, die Kräfte und
die Möglichkeiten der mentalen Reorganisation des Patienten zu
suchen und zu stärken.
Im nächsten Kapitel wird der Frage nach der modernen Traumatherapie
nachgegangen, indem Plassmann die Prinzipien mentaler
Reorganisation, wie sie von Francine Shapiro entwickelt wurden,
benennt und in den neueren Forschungszusammenhang stellt: Die
Prinzipien Selbstorganisation, Bipolarität, Emotionalität,
Körperlichkeit, Gegenwärtigkeit und Fokussierung. Dabei tauchen
auch für den laienhaften Leser eine Reihe von überraschenden
Erkenntnissen auf, etwa die beim Prinzip Selbstorganisation
verblüffenden Zusammenhänge zu den biologischen Systemen, zu dem,
was das Auge sieht, das Ohr hört, die Gefühle ausdrücken, usw. Die
Unterschiede zwischen der klassischen Psychoanalyse, also dem
logozentrischen Persönlichkeitsmodell, und der modernen
Traumatherapie, also der emotiozentrischen Zugangsweise, werden im
wesentlichen durch die andere Bedeutung der Emotionen deutlich:
»Psychotraumatologie erkennt die Emotionen als organisierende Kraft
des psychischen Materials, sowohl im Bereich des krankmachenden
Belastungsmaterials wie auch im positiven Bereich der
verarbeitungs- und heilungskompetenten Komplexe, während die
Psychoanalyse im Kern des gesunden Ichs eher das Bewusstsein und
die Sprache sieht«.
Im fünften Kapitel beschäftigt sich der Autor mit dem
»4-Phasen-Modell der stationären Psychotherapie«, das er im achten
Kapitel mit Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis
ergänzt.
Im sechsten Kapitel geht Plassmann auf seine Erfahrungen mit der
selbstorganisatorischen Therapie bei essgestörten Patientinnen, der
Anorexie- und Bulimiebehandlung, ein. Mit der erst einmal
merkwürdig anmutenden Frage »Was ist eigentlich ein Krankenhaus?«
rührt der EMDR-Therapeut an ein im Gesundheitswesen und in der
Auffassung vieler Patienten tabuisiertes Thema. Dass ein
Krankenhaus eigentlich »die Funktion eines Gewächshauses für
Menschen« haben sollte, das wachstumsförderliche Bedingungen
bietet, die anderswo nicht möglich sind, ist in den
Alltagsauffassungen eher weniger im Bild.
Im neunten Kapitel setzt sich der Autor mit Behandlungsmethoden bei
posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) auseinander und bringt
in den Diskurs die Mini-PTBS-Behandlung ein, also die Einbeziehung
von alltäglichem Belastungsmaterial, das Einblicke in das
Krankheitsbild ermöglicht. Die Vermutung, dass solche Methoden sich
auch im nicht-klinischen Bereich, etwa beim Coaching, bewähren
könnten, ist dabei sicherlich nicht von der Hand zu weisen.
Die Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Marion Seidel, bringt im zehnten Kapitel ihre
Erfahrungen über »stationäre Psychotherapie bindungsgestörter und
traumatisierter Kinder und Jugendlicher und ihrer Mütter und Väter«
ein und diskutiert die neueren Konzepte und Ergebnisse zur
»Bindungsforschung«. Besonders interessant und für den
gesellschaftlichen Diskurs wichtig sind die Reflexionen über
»mehrgenerationale Einflüsse auf Erleben und Therapie von Kindern
und Eltern«. Dabei stellt sie überzeugend die Therapiemaßnahmen und
-erfolge mit EMDR dar.
Weil EMDR als ein Psychotherapieverfahren zu betrachten ist, das
von professionellen Therapeutinnen und Therapeuten als
Zusatzqualifikation erworben werden kann und angewendet wird, ist
es verdienstvoll, dass in dem Einführungsband über EMDR auch
Zusammenhänge und Unterschiede zu den Behandlungsmethoden anderer
psychotherapeutischer Fachrichtungen diskutiert werden. So bringen
der leitende Psychologe der Kitzberg-Klinik, Thomas Burkart,
Verhaltenstherapie-Supervisor und EMDR-Therapeut und der
Körpertherapeut Christian Uebele, im elften Kapitel ihre
Erfahrungen bei der Behandlung von
Borderline-Persönlichkeitsstörungen und leibeigenen Rhythmen, dem
Craniosacralrhythmus, ein. Sie machen dabei deutlich, dass die
selbstorganisatorische Methode nicht nur eine Ergänzung zu anderen
fachspezifischen Behandlungstechniken darstellt, sondern diese auch
bereichern, ergänzen und ihnen eine neue Basis für Heilerfolge
bieten.
Dies wird im zwölften Kapitel besonders deutlich, in dem Plassmann
exemplarisch Behandlungsergebnisse bei verschiedenen Fällen und
Krankheitsbildern präsentiert. Durch die neueren Erkenntnisse und
Forschungsergebnisse zur Neurobiologie befände sich die
Psychotherapie in einer Situation, in der traditionelle
Auffassungen und Konzeptionen neu gedacht werden müssten; etwa der
Begriff des Unbewussten, die Rolle und Bedeutung von Emotionen und
viele andere scheinbar festgelegte Überzeugungen. Was auch
bedeutet, dass die bisherige medizinische Aus- und Fortbildung mit
neuen Anforderungen konfrontiert ist und diese auch annehmen muss.
So beenden Reinhard Plassmann und seine MitautorInnen das Buch mit
dem erst einmal irritierenden Titel »Die Kunst des Lassens«, indem
sie die optimistische Überzeugung äußern: »Emotional bedingte
Erkrankungen sind heilbar«.
Fazit
Wir sind heute selbstbewusster und anders als früher davon
überzeugt, dass Heilungsprozesse möglich sind und erwarten auch von
den Professionen der Heilberufe, dass sie sich auf den Stand der
wissenschaftlichen Entwicklungen bringen und die neuesten
Forschungs- und Innovationsergebnisse in ihr verantwortliches
Handeln am Menschen hinein nehmen. Die EMDR-Methode in der
Psychotherapie ist keine Rezeptologie und bietet keinen
Freifahrtsschein für einen Heilerfolg; sie bietet aber Menschen,
die an emotional bedingten Krankheiten leiden, die Chance, etwas
von der »imponierenden Kraft der selbstorganisatorischen
Heilungsprozesse« zu erfahren. Das Buch »Die Kunst des Lassens«
kann bei denjenigen, die sich auf die Lektüre einlassen und sich
unvoreingenommen mit den theoretischen Überlegungen und den
praktischen Erfahrungen des Autors und seines Teams
auseinandersetzen, einen Perspektivenwechsel verursachen. Das gilt
für die in den Heilberufen Tätigen, ob Arzt, Therapeut,
Krankenschwester oder -pfleger, für Studierende, aber auch für
Jemandem wie Du und Ich, den Patienten also und den aufmerksam
Beobachtenden in unserer Gesellschaft.