Rezension zu Verletzte Seelen
Die Berliner Literaturkritik
Rezension von Jenny Schon
Verletzte Seelen
Ein Buch über die historische Traumaforschung
Was für ein wunderbarer, aber leider auch treffender Titel für eine
Krankheit, deren Ausmaß sich erst in den letzten Jahren zeigt. In
dem vorliegenden Band wird vorwiegend die Traumatisierung
dargestellt, die zum Beispiel bedingt durch den Krieg in Bosnien –
und hier besonders die der Kinder – oder aber in der Folge des 11.
September 2001 zutage getreten ist, weil darüber die meisten
Forschungen vorliegen.
Die wirklich manifeste Traumatisierung der Kriegskinder des Zweiten
Weltkriegs zeigt sich erst allmählich, da diese Generation
gegenwärtig ins Rentenalter tritt und sich mit einem Mal – bedingt
durch den relativen Müßiggang, in der Nachsicht auf das vorherige
Leben – plötzlich Traumata der frühen Jahre zu zeigen beginnen.
Auch der Tod eines nahen Angehörigen kann die PTBS
(Posttraumatische Belastungsstörung) genannte Krankheit
auslösen.
Auch durch die Öffnung des ehemaligen Ostblocks ist es den
Nachfahren der Flüchtlinge und Vertriebenen ein Bedürfnis, zu
sehen, wo komme ich und meine Familie her. Viele Schriftsteller der
zweiten und dritten Generation haben sich des Themas angenommen,
auf den eigenen Spuren oder denen der Vorfahren in den
kriegsbedingt verlorenen Gebieten zu forschen. Die Trauer um die
(menschlichen) Verluste und die eigene Opferrolle spielen dabei
eine große Rolle.
Das Kind K.
Da das Buch »Verletzte Seelen« in den meisten Teilen hoch
theoretisch ist und nur von den Möglichkeiten einer historischen
Traumaforschung, kaum aber konkreten Beispiele der Traumatisierung
spricht, insbesondere der Spättraumatisierung, möchte ich ein
Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld benennen – auch deshalb,
weil Betroffene ermutigt werden sollen, für ihr Leiden Hilfe in
Anspruch zu nehmen. Nur mit einer persönlichen Leidensgeschichte
lässt sich auch einem Außenstehenden vermitteln, wie
Spättraumatisierung funktionieren kann und welch eine große Trauer
und Chance für den Umgang mit Traumatisierung in der Generation der
ehemaligen Zweiter-Weltkriegskinder schlummert.
Das Kind K. wird 1942 in Deutsch-Böhmen geboren, evangelisch
getauft (ungewöhnlich), mit der böhmischen Mutter im Juli 1945 bei
den wilden Vertreibungen außer Landes geschickt, der rheinische
Vater ist in Kriegsgefangenschaft. Der Bruder der Mutter holt sie
und das Kind aus der Illegalität im sächsischen Erzgebirge in den
rheinischen Geburtsort des Vaters. Mutter und Kind werden von der
einheimischen Verwandtschaft abgelehnt, das Kind K. beginnt sich zu
erinnern. Es findet die fremde Sprache unverständlich, im
Kindergarten, wo es gutes Essen gibt, versteckt es sich im Klo, es
muss den Kindergarten verlassen. Der böhmische Opa, der von den
Tschechen verschleppt worden war, findet sich ein. Das Kind
erinnert sich, dass der Opa das liebste ist, was es auf der Welt
hat. Fortan verbringt es jeden freien Tag bei Opa und Oma, die in
Bonn eine neue Heimat gefunden haben.
Ansonsten ist das Kind kein Problemkind. Es bekommt ein Brüderchen,
es verliert die Liebe des Vaters, es bindet sich emotional ganz an
die böhmische Verwandtschaft in Bonn, besonders das böhmische Essen
versöhnt mit dem Schicksal; mit den Großeltern zusammen zu essen,
erzeugt in ihm ein Gefühl von Heimat und Liebe, das der Vater ihm
versagt. Das Kind wird ein Leben lang Gewichtsprobleme haben. Das
Kind K. darf nicht auf die höhere Schule, der Vater verbietet es,
weil es ein Mädchen ist und weil den katholischen Nonnen, die die
Schule leiten, kein Schulgeld gezahlt werden soll – Schulgeld für
höhere Schulen war im Rheinland Usus.
Das Mädchen beginnt, anderen Kindern Märchen zu erzählen und
schreibt sie auf, es gewinnt einen Wettbewerb. Es hat die Ahnung,
dass es eine andere ist. Entweder ist der Vater nicht der Vater
oder es ist vertauscht worden. Doch es wurde zuhause geboren, hat
die Mutter gesagt. Dennoch: Es fühlt sein Anderssein, leidet
darunter und liebt es aber auch.
Mit vierzehn Jahren wird es in eine langweilige Lehre bei einem
Steuerberater gesteckt. Im ersten Lehrjahr muss es neun Stunden am
Tag Bleistiftzahlen in Tinte schreiben, weil die Buchführung erst
am Jahresende »ins Reine gebracht« werden soll, je nach Verlust
oder Gewinn. Als Halbwüchsige wird ihm beigebracht, wie man den
Staat betrügen kann. Es hat kurz nach der Konfirmation bei der
evangelischen Kirche einen Geschichtenwettbewerb gewonnen, an dem
auch Gymnasiasten teilnahmen. Während des Überschreibens von
Bleistiftzahlen erfindet es Geschichten, Romane. Es hat eine
Schreibmaschine gekauft und zahlt sie in monatlichen Raten vom
Lehrlingsgehalt ab. Es schreibt mit vielen Fehlern die erfundenen
Geschichten auf und schickt sie an Verlage. Eine Geschichte wird in
der Zeitung veröffentlicht.
Der Vater bringt ihm von einer Kur ein Buch mit. Das erste und
letzte Mal, dass der Vater ihm etwas schenkt. Das Buch heißt: »B.
tanzt«. Es nennt sich von nun an B. Als B. fühlt sie sich
erwachsen. B. liest Hemingway und Francoise Sagan. B. will auch
Schriftstellerin werden. Einen Schriftstellernamen hat sie schon.
Diesen Namen lässt sie später in den Pass eintragen, den
Kindheitsnamen verwendet sie nicht mehr. Mit achtzehn Jahren
erfährt sie vom Mauerbau, fährt nach Westberlin, bleibt dort,
zunächst für ein Jahr, sie lebt noch heute in Berlin. Hier erfindet
sie einen neuen Vater, einen Fabrikanten, obwohl der Vater Arbeiter
ist, und die Mutter war in Böhmen eine begnadete Geigerin, deren
Karriere durch den Krieg zunichte gemacht worden war, obwohl die
Mutter aus Armut den Geigenunterricht abbrechen musste.
In eine andere Identität beamen
Karla Misek-Schneider, die in dem Band den Artikel »Seelische
Folgen von Kriegserleben bei Kindern und Jugendlichen« geschrieben
hat, sagt zu diesen genannten Störungen (S. 207 f.): »Die Kinder,
die ein solches PTBS aufweisen, haben im Krieg oft schreckliche
Dinge erlebt, wie z.B. Vergewaltigung, Tod von Angehörigen, Tod von
anderen, Folter und Verfolgung, die ihre seelische
Verarbeitungsunfähigkeit überfordert haben. Die ihnen zur Verfügung
stehenden psychischen Möglichkeiten reichen nicht aus, um mit dem
Erlebten umzugehen, und so schützt sich ihre Seele auf
unterschiedliche Weise wie z. B. durch eine Art Selbsthypnose, in
der sich diese Kinder in einen anderen Gefühls- und
Erlebens-Zustand, evtl. eine andere Identität begeben, neudeutsch
›beamen‹. Die Psychiatrie spricht in diesem Zusammenhang auch von
›Dissoziation‹. In allen Fällen geht es darum, das Erlebte nicht
mehr zu spüren, was jedoch immer nur teilweise gelingt; seelische
Traumen, die die Verarbeitungskapazität des betreffenden Menschen
überfordern, haben die Tendenz, sich irgendwann einmal
selbstständig zu machen und sich verschiedene Wege zu suchen, auf
sich aufmerksam zu machen. Manchmal gelingt ihnen das erst Jahre
nach den traumatischen Ereignissen bzw. erst viel später im Leben
des betroffenen Menschen.«
In Berlin war die Vergangenheit für B. kein Thema mehr. Sie machte
das Abitur auf der Abendschule, studierte und war viel im Ausland.
Das Kind K. hat erst spät als Erwachsene B. erfahren, dass es bei
der Vergewaltigung der Mutter zugegen war. Als der Vater mit
zweiundsechzig Jahren stirbt, zeigen sich bei B. anfallartige
Zustände von Angst und Herzrasen, die die Ärzte als Herzattacken
bezeichnen, obwohl das EKG und die Blutwerte in Ordnung sind. Es
werden Beruhigungsmittel verschrieben. B. ist kurz vor einer
Abhängigkeit, die sie mit absoluter Abstinenz, auch von Alkohol, zu
bekämpfen beginnt.
Nach der Wende fährt sie nach Tschechien, besucht die Orte, von
denen früher die Rede war und findet die Aufgabe, die
bildhauerischen Werke eines verstorbenen entfernten Verwandten
wissenschaftlich zu ordnen. Sie kauft dort mithilfe eines
Strohmannes ein Haus, weil es für sie als Deutsche, wenngleich auch
dort geboren, nicht erlaubt ist, ein Haus zu kaufen. B. will von
Berlin nach Tschechien umziehen. Ein Freund hilft ihr. In den
Kleintransporter packt sie die notwendigen Dinge, Bücher, Bettzeug,
Kleinkram. Als sie die Straße in Berlin verlassen will, in der sie
wohnte, dreht sie sich um, sieht den Krempel im Auto und die sich
entwindende vertraute Straße. »Nein«, schreit sie, »nein, nicht
schon wieder vertrieben werden!«
Sie fährt nicht, sie kann nicht fahren, jahrelang kann sie weder
Bahn, U-Bahn oder Fahrstuhl fahren. Sie leidet wieder unter
Panikattacken, die zunächst als Herzattacken behandelt werden. Sie
kommt in psychiatrische Behandlung. Erst allmählich wird ein
Zusammenhang hergestellt zwischen der Vertreibung und ihrer
Erkrankung. Sie beginnt darüber zu schreiben. In einem Zentrum, in
dem bosnische Kriegskinder behandelt werden, wird ihr mitgeteilt,
dass nur frisch traumatisierte Kinder behandelt würden, über die
Spättraumatisierung aus dem Zweiten Weltkrieg liegen keine
Erfahrungen vor. Gut wäre, dass sie schreibe, Kunst helfe, über
schwere Schicksalsschläge hinwegzukommen.
Wahnsinn der Zerstörung
Zur Prävention empfiehlt Karla Misek-Schneider in dem genannten
Artikel: »Bereits mehrfach wurde auf individuelle Faktoren
hingewiesen, die sozusagen ein Schutzschild gegenüber der
Ausbildung eines PTBS sein können, wie z.B. das Vorhandensein einer
Familie, gute und sichere Bindungen an Familienmitglieder oder
andere Bezugspersonen, kein direktes Erleben von Gewalt oder eine
bestimmte Persönlichkeitsstruktur. Doch Kriegstraumata sind keine
individuellen Problematiken, die allein auf dieser psychologischen
Ebene gesehen und bewertet werden sollten. Hier geht es vielmehr um
ethisch-moralische und politische Problemstellungen und
Verantwortlichkeiten.«
Die Erwachsene B. ist zu jeder Antikriegs-Demonstration gegangen,
hat an jeder friedensbewegten Aktivität teilgenommen. Sechzig Jahre
keinen Krieg zu haben, betrachtet sie als größte Errungenschaft
ihrer Generation. Und dennoch: Der Wahnsinn der Zerstörung geht
weiter. In »Verletzte Seelen« werden auch von dem Bombenattentat am
11. September 2001 in New York traumatisiere Menschen vorgestellt.
Jerry S. Piven resümiert (S. 253), dass sich in Amerika »viele
verschiedene Reaktionen auf den 11. September 2001 identifizieren
(lassen). Trotz vielfach offen zur Schau gestellter Feindseligkeit
bis hin zu militanter Paranoia lässt sich die Reaktion allerdings
insgesamt auch als zurückhaltend bezeichnen.«
Ein weiterer Beitrag in dem vorgestellten Band behandelt
»Gruppen-Identität, kulturelles Gedächtnis und kollektives Trauma«.
Hans-Jürgen Wirth gibt einen Überblick über die Trauma-Forschung
seit Freud, die dieser nie aufgab, die aber von der Psychoanalyse
jahrzehntelang tabuisiert wurde. Er schreibt (S. 259 f.):
»Inzwischen ist die Bedeutung von Gewalterfahrungen und sexuellem
Missbrauch als Ursache für die Entstehung psychischer Störungen
auch in der Psychoanalyse anerkannt. Aber diese Auseinandersetzung
zwischen psychoanalytischer Trauma-Theorie einerseits und
psychoanalytischer Konflikttheorie andererseits ist noch heute
virulent und hat immerhin die Deutsche Gesellschaft für
Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie
(DGPT) 1998 zu einem großen Kongress veranlasst, der sich allein
mit diesem Thema befasste. Die Kritiker des Trauma-Begriffs führen
gegen seine allzu häufige Verwendung vor allem folgendes Argument
ins Feld: Es könne zu einer Überdehnung des Trauma-Konzepts kommen
und erzeuge ein Opferbewusstsein beim Patienten...während das
Bewusstsein, verantwortlicher Gestalter des eigenen Lebens zu sein,
zu kurz komme.«
Das volkstümliche Resümee, dass von dieser wissenschaftlichen
Richtung gestützt wird, lautet: »Reiß dich zusammen!« Jeder
Traumatisierte weiß, dass es nichts nützt, sich zusammenzureißen,
dass die Bemerkung: »Anderen geht es noch schlimmer als dir!« genau
das Gegenteil bewirkt, dass durch die damit verbotene eigene
Trauerarbeit nicht die Liebe, auch zu sich selbst, gefördert wird
sondern der Hass auf sich selbst – und auf andere!
Für alle an der Trauma-Forschung Interessierte und Betroffene ein
wichtiges Buch.
Das Leben des von mir erwähnten Kindes K. ist auch in meinen beiden
Büchern »Der Graben«, Roman, verlag am park/edition ost, und
bruchstückweise in meinem Gedichtband »Böhmische Polka«, Geest
Verlag, Vechta, nachvollzogen.