Rezension zu Rituale erneuern
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Rezension von Prof. Dr. Stephan Quensel
Einleitung
In der klassischen Kulturanthropologie/Ethnologie galten Rituale
als relativ fest gefügte kulturelle Formen mit
grenzüberschreitender Bedeutung - als Übergangsritual der
Beschneidung etwa, als Hochzeits-Ritual oder bei der Bestattung,
und zwar mit unterschiedlich starkem »transzendentalen« Bezug bei
Schamanen und im Animismus ebenso wie in den Ritualen der
Hochreligionen: Taufe, Messe, Gebetsrituale.
Heute, im Zeitalter säkularer Ernüchterung mutiert das Ritual in
den Händen höchst unterschiedlicher Wissenschaften zwischen
routiniert habituellen Gewohnheiten und weithin Sinn-entleerten
Formen zum familiären Frühstücks-Ritual, zur festlichen
Ordensverleihung oder zum wiederbelebten »Muff unter universitären
Talaren«.
Vier Momente kreuzen sich im Ritual:
- Die Entlastung durch die überkommene Form, etwa bei der
Trauerbewältigung, die Wilhelm Schmid (S.27-35) am georgischen
Trauer-Ritual analysiert;
- als Moment gemeinschaftsbezogener Identitätsfindung;
- in einer kulturell vorgeformten, emotional fundierten
Sinn-Stiftung und
- als Macht-Fixierung, die, wie bei allen kulturellen Formen,
denjenigen zu Gute kommt, die deren Funktion definieren, nutzen und
leiten können.
Offen bleibt heute mehr denn je das Verhältnis zwischen kultureller
Form und der darin vermittelten Sinnhaftigkeit, wie auch die Frage,
inwieweit Rituale individuell wie gesellschaftlich gestaltet,
variiert und erneuert werden können.
Der Kontext
Der vorliegende Band versammelt die Referate, Stellungnahmen und
Diskussionen einer Tagung von Ritualforschern und Ritualpraktikern,
die im Jahr 2004 vom Heidelberger Sonderforschungsbereich
»Ritualdynamik - Soziokulturelle und historische Prozesse im
Kulturvergleich« (www.ritualdynamik.uni-hd.de) veranstaltet
wurde.
Einen Schwerpunkt dieser Tagung bildete das Forschungsprojekt
»Ritualdynamik und Salutogenese beim Gebrauch und Missbrauch
psychoaktiver Substanzen (RISA)«. Hier, im Grenzbereich zwischen
»Trance, Traum und Rausch« (Dirk Revenstorf, S. 217-237) zeigt sich
die »dialektische« Reichweite des Ritual-Konzepts besonders gut:
Drogenkonsum als Grenzüberschreitung bildet seit jeher einen
bedeutsamen Bestandteil alter und moderner Rituale ebenso, wie
umgekehrt die kulturelle Form solcher Rituale das kontrollierende
setting gelingenden Transzendierens bereitstellen kann: »going back
to the research with psychedelics, we could say rituals are the
conscious arrangement of set and setting« meint Ralph Metzer,
Mitglied der Arbeitsgruppe von Timothy Leary in den frühen 60ger
Jahren (S.256): Dies reicht vom five-o-clock-tea über den
kreisenden Joint bis zur lärmenden Abiturfeier, vom Münchener
Oktoberfest bis hin in die neuen Formen der Ayahuasca-Rituale, die
Eduard Luna (S.319-337) beschreibt.
Zum Inhalt
Die recht kunterbunte Sammlung setzt drei Schwerpunkte:
- Zunächst versucht sie das Ritual-Konzept theoretisch zu verorten.
Hierfür steht eine gute Einführung der drei Herausgeber (S.9-26)
sowie ein interessanter Versuch, die dynamischen Beziehungen
zwischen Form und Gehalt sowie zwischen individueller und
kollektiver Sinngebung für eine Konkretisierung des Ritual-Begriffs
einzusetzen (Norbert Groeben: »Verhalten, Tun und Handeln in
Ritualen« S.195-211). Die anthropologische Tiefendimension dieser
Dialektik untersucht Klaus-Peter Köpping (»The Transgression of
Limits and the Limits of Transgression in Collective Ritual«
S.267-292) unter Bezug auf den französischen Denker Bataille in
einem nicht ganz einfach zu lesendem Beitrag als Paradox der -
geordneten - Transgression zur Erhaltung der Norm: »The paradox of
the necessity of norms and the desire to overstep their boundaries«
bzw. »if there is no occasion for ritual transgression, true mayhem
and madness may overtake society« (S.287, 280).
- Ein zweiter Schwerpunkt gilt in mehreren Beiträgen der
Ritual-Praxis: In der Familien- und Musik-Therapie, bei der
Bestattung , im Alltag der Heidelberger Oberbürgermeisterin oder in
der Praxis des dortigen Rektorats. Besonders überzeugend analysiert
Stephan Marks (»Faszination, Rausch, Trance - über die Wirkung von
Ritualen im Nationalsozialismus« S. 113-135) an Hand einschlägiger
Interviews den nationalsozialistischen Macht-Missbrauch solcher
Rituale, um aufzuzeigen, welche regressiven Mechanismen die
affirmative Haltung der angesprochenen Bevölkerung aufrecht
erhielten. Bewusst eingesetzte Ritual-Funktionen, die William Sax
(»At the Borders of Morality: rituals of aggression« S.297-314), am
Beispiel indischer Verfluchungs-Rituale verdeutlichen, und deren
Funktionieren Rolf Verres (»Was macht Rituale attraktiv? Eine
motivationspsychologische Analyse« S.137-155)
individualpsychologisch erklären kann.
- Die Beziehung zwischen Ritual, Rausch und Drogenkonsum bildet den
dritten Schwerpunkt. Eingerahmt durch einen ausführlichen
Erfahrungsbericht von Konstantin Wecker über seine
Kokainabhängigkeit sowie durch die Geschichte der Ayahuasca-Rituale
ordnet Ralph Metzner (»Varieties of Ritual Involving Altered States
of Consciousness« S.253-266) den psychedelischen Drogenkonsum in
größere Zusammenhänge ein, während Juraj Styk (»Die Kultivierung
veränderter Bewusstseinszustände in der Schweizerischen
Ärztegesellschaft für psycholytische Therapien« S.339-353) über
dessen in der Schweiz mögliche psychotherapeutische Verwendung
berichtet. Inwieweit schließlich das Ritual-Konzept auch für den
Umgang mit jugendlichem Drogen-Konsum fruchtbar gemacht werden
kann, diskutiert Henrik Jungaberle (»Rituale und
Integrationskompetenz beim Gebrauch psychoaktiver Substanzen«
S.77-106). Er möchte solche Rituale als »Lernkontexte« fassen:
»Statt Kontrollfixierung ist es notwendig eine umfassende Theorie
der Integration von Rausch und Drogen in die Lebensganzheit einer
Person zu entwickeln, die der Komplexität des Phänomens gerecht
wird« (S.77), zumal - angesichts fehlender Übergangsrituale für
Jugendliche (Metzner S.363) - die zur Zeit üblichen jugendlichen
»Rituale - im Sinn von Settings für den Drogengebrauch - in der
Regel wenig entwickelt, instabil , experimentell und an der
Imitation von älteren Jugendlichen orientiert« seien (359f). »Die
Devise ›Just say no to drugs‹ löst gar nichts. Es ist besser,
Menschen zu unterrichten, wie man sie korrekt verwendet« beendet
Luna (S.365) diese Diskussion über die Frage »Können Rituale
Drogenmissbrauch verhindern?« (S.357-365).
Fazit
Ein hochinteressantes Thema, dessen reichhaltige Facetten zwar
angesprochen werden, doch dessen Ertrag, wie so oft in solchen
Tagungsbänden, eher unterzugehen droht. Zu unterschiedlich fallen
die Beiträge aus, kaum durch die kurzen Überleitungen der
Herausgeber gebündelt, im Niveau von der Grenze zur Esoterik über
die klassisch ethnologische Analyse und Erfahrungs-Berichte bis
hinein in ähnlich grenznahe theoretische Reflexionen. Vielleicht
als Diskussion-Basis geeignet in der Hoffnung auf künftige
Ergebnisse insbesondere auch des RISA-Projekts.