Rezension zu Suizidale Männer in der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie
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Rezension von Prof. Dr. Margret Dörr
Autor
Reinhard Lindner, PD Dr. med. ist Facharzt für Neurologie,
Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie. Seit 1994 ist er als wiss. Mitarbeiter am
Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete im Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf tätig.
Thema und Entstehungshintergrund
Bei dem von Reinhard Lindner vorgelegten Band »Suizidale Männer in
der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie« handelt es sich
um eine Monographie über ein (fachlich keineswegs begründbar)
weitgehend marginalisiertes klinisches Spezialgebiet aus der
Psychiatrie und ihrer Nachbardisziplinen. Mit über 10.000
Todesfällen/Jahr stellt der Suizid eine epidemiologisch
herausragende Todesursache dar. In Deutschland sterben dreimal mehr
Männer als Frauen durch Suizid, wobei allerdings die
Suizidversuchsrate der Frauen dreimal höher als die der Männer ist.
Im Alter ist die Situation noch ausgeprägter: Alte Männer zwischen
80 und 90 Jahren suizidieren sich fünfmal häufiger als gleich alte
Frauen, deren Suizidrate deutlich über die der jüngeren Frauen
liegt. Allein diese Sachverhalte rechtfertigen wohl schon eine
besondere Berücksichtigung dieses Themas in der Medizin und
Psychologie. Aber auch den Gesundheitswissenschaften sowie der
Sozialen Arbeit würde eine Forschungspraxis in diesem schwierigen,
komplexen Themenbereich gut anstehen. Es ist erschreckend, dass
sich der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nach wie vor
eher auf epidemiologische (quantitative) Forschungsergebnisse
begrenzt und noch immer Forschungsergebnisse über biographische,
psychosoziale und motivationale Determinanten zahlenmäßig gering
und hinsichtlich ihrer Aussagen mehr als unbefriedigend sind.
Die vorgelegte Arbeit geht aus der klinischen und
wissenschaftlichen Praxis des Therapiezentrums für Suizidgefährdete
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (TZS) hervor, eine
psychoanalytisch orientierte Einrichtung mit einem spezialisierten
ambulanten Behandlungsangebot für klinisch schwer gestörten
Menschen in suizidalen Krisen. Dieses Therapiezentrum genießt nun
schon seit mehr als 15 Jahren eine hohe fachliche Reputation in
Forschungs- und Handlungsfeld zur Suizidalität.
Lindners Annäherung an das in Rede stehende Thema erfolgt unter der
Maßgabe, Suizidalität als eine soziale Handlung in ihren
intersubjektiven und biographischen Vernetzungen zu begreifen und
ihre jeweiligen subjektiven Sinnhorizonte zu erfassen. Diese
Zielsetzung strebt der Autor gut begründet durch den Einsatz einer
hermeneutisch-qualitativen Methode aus der empirischen
Sozialforschung an, mit der - seit Schleiermacher - historische
Erkenntnisse über sinnhafte Zusammenhänge im sozialen und
kulturellen Leben rekonstruiert werden können. Konsequent wird
Suizidalität entziffert »als Ausdruck der Zuspitzung einer
seelischen Entwicklung, in der der Mensch verzweifelt über sich
selbst und sein eigenes Leben ist und keine Hoffnung erleben oder
Perspektiven entwickeln kann« (S.20). Um sich einem Verstehen und
Begreifen dieses komplexen, überdeterminierten sowohl akuten als
auch chronischen, gelegentlich latenten und nicht selten
unbewussten Phänomens anzunähern, nutzt der Autor (auch) zur
Strukturierung seines Buches den psychoanalytisch-theoretischen
Hintergrund des »Dreiecks der Einsicht«, womit die Analyse des
Zusammenhangs von Symptomatik, Beziehungsgestaltung in der Therapie
und der Lebensgeschichte bezeichnet wird. Aufgrund der wesentlich
geschlechtsspezifischen Einflüsse grenzt der Autor mit
überzeugenden Argumenten seinen Forschungsgegenstand auf männliche
Suizidanten ein.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt - nach einem prägnanten Vorwort einschließlich
einer plausiblen Darstellung des Forschungsgegenstandes - mit einem
Prolog: der Darstellung eines psychoanalytisch orientierten
Erstgesprächs mit einem akut suizidalen Patienten.
Im theoretischen Teil gibt Lindner vor dem Hintergrund seiner
psychoanalytischen Orientierung einen sachhaltigen theoretischen
Überblick über den aktuellen Forschungs- und Erkenntnisstand zur
Suizidalität, Übertragung und Gegenübertragung sowie zur Biografie
unter besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte
bei suizidalen Männern. Obgleich dieses Kapitel auf hohem Niveau
geschrieben ist, gelingt es ihm, der Leserin die vielschichtigen
Sachverhalte in einer sprachlich sehr gut verständlichen und
nachvollziehbaren Weise zu präsentieren. Im Mittelpunkt der
Ausführungen stehen psychoanalytische Verständnisansätze zu den
motivationalen Hintergründen des Suizidgeschehens: Neben
Aggressionskonflikten werden vor allem Konflikte um Abhängigkeits-
und Autonomiewünsche herausgearbeitet. Zudem enthüllt Lindner in
seinem Literaturüberblick, dass die Suizidalität keine einheitliche
Psychodynamik hat: Es sind ganz unterschiedliche Typen von
psychischen und psychosozialen Problemkonstellationen, die ihr
zugrunde liegen können, die aber bisher keineswegs hinreichend
ausdifferenziert sind. Als Auslöser von Suizidalität werden an
erster Stelle Trennungen von Lebenspartner genannt, gefolgt von
Ablehnungserfahrungen. Zudem steigt die Suizidgefahr mit der
Schwierigkeit, sich einem anderen Menschen verbunden zu fühlen und
- insbesondere bei Männern - wenn ihr Selbstwert und ihre
Unabhängigkeit durch ökonomische Bedingungen, Arbeitslosigkeit oder
schwere körperliche Erkrankung bedroht ist. Der Blick auf die
Lebensgeschichte des Suizidanten macht außerdem einen häufigen
Zusammenhang zwischen traumatischen Beziehungserfahrungen in
Kindheit und Jugend mit Suchtproblematiken erkennbar. Obgleich es
sich um eine elaborierte Literaturaufarbeitung handelt, so ist
positiv hervorzuheben, dass Lindner seine theoretischen Darlegungen
immer wieder unterbricht und es ihm gelingt, anschauliche klinische
Bezüge herzustellen.
Das Kapitel Material und Methoden umfasst eine detaillierte
Illustration der klinischen Arbeit des TZS, seiner Patienten und
seiner Psychotherapeuten, eine Beschreibung der ausgewählten
Stichprobe (für die qualitative Studie wurde eine konsekutiv
rekrutierte Zufallsstichprobe von 20 männlichen Patienten des TZS
gezogen), gefolgt von methodischen Grundlagen der verstehenden
Typenbildung und der Darstellung der Methodik selbst (das
reichhaltige empirische Material bestand aus Stundenprotokollen,
aus Fallberichten sowie aus Forschungssupervisionsberichten). Zudem
werden wissenschaftstheoretische Überlegungen zum gemeinsamen
Einsatz qualitativer und quantitativer Methoden (Triangulation)
angestellt.
Im Kapitel Ergebnisse stellt Lindner systematisch die
herausgearbeiteten vier Idealtypen und einen Sonderfall suizidaler
Männer vor. Auch diese Darstellung ist hinsichtlich der
zusammenhängenden Ebenen des »Dreiecks der Einsicht«,
Übertragung/Gegenübertragung, Suizidalität und Biografie
übersichtlich strukturiert: Mit dem Idealtypus »Unverbunden« werden
suizidale Menschen charakterisiert, bei denen in der
interpersonellen Beziehungsdynamik ein Unverbundenheitserleben
vorherrscht, das mit Ablehnungserfahrungen verknüpft ist. Der
Idealtypus »Gekränkt« zeichnet sich durch aggressive Verstrickungen
in Beziehungen und der Erkenntnis einer desillusionierenden
Lebensrealität verbunden mit realen Verlusterfahrungen und
Realtraumata in der Kindheit aus. Bei dem Idealtypus »Stürmisch«
werden, vor dem Hintergrund ungelöster Abhängigkeitskonflikte,
unrealistische Helferwünsche durch ein anhänglich-symbiotisches
Übertragungsangebot mobilisiert. Der Idealtypus »Objektabhängig«
ist dadurch charakterisiert, dass in Beziehungen nur Konkretes
verhandelbar ist. Vor dem Hintergrund emotionaler Mangelerfahrung
ist es mithin das einzige Ziel des Suizidanten, bei Trennungen den
Partner zurückzugewinnen. Der Sonderfall »Täter und Opfer:
Gestrafter und bedrohter Verführer« schließlich zeichnet sich
sowohl durch eine spezifische
Übertragungs-/Gegenübertragungssituation aus, durch das
Nebeneinander (Spaltung) von Verleugnung und Anerkennung auf
verschiedenen Strukturebenen und verweist zudem auf besondere
transkulturelle Problematiken. Die Erarbeitung dieses Sonderfalls
ist für Lindner ein Beleg für die Existenz weiterer Typen
suizidaler Männer, die wahrscheinlich in anderen Settings und/oder
in anderen kulturellen Zusammenhängen rekonstruiert werden
könnten.
Die sich daran anschließende Strukturanalyse dient der Anreichung
der Idealtypen mit Fallmaterial. So werden detaillierte
Charakteristika jeweils bezogen auf die Trias: Suizidalität,
Übertragung/ Gegenübertragung und Biografie skizziert und darüber
weitere Spezifika der Idealtypen anschaulich. Der nachfolgende
Ergebnisteil, der wohl auch den Anforderungen an eine
Habilitationsqualifikation in der Medizin geschuldet ist,
beinhaltet die Triangulation der Idealtypen mit Ergebnissen der
quantitativen Untersuchungen und trägt auf dieser Ebene zu einer
Erweiterung des Verständnisses der Idealtypen bei.
Das Buch schließt mit einem Diskussionskapitel, in dem die
Ergebnisse rekapituliert und vor dem Hintergrund des
Forschungsstandes zusammengefasst werden. Auch dieses Kapitel ist
nach dem klinisch-diagnostischen »Dreieck der Einsicht«
strukturiert. Erörtert werden neue Aspekte zur Phänomenologie und
Psychodynamik der Suizidalität, der Übertragungs- und
Gegenübertragungsdynamiken in der Behandlung von suizidalen Männern
sowie zu geschlechtsspezifischen Entwicklungsstörungen. Ein
besonderer Verdienst ist dabei die Fokussierung auf die Rolle des
Vaters im Rahmen gestörter Individuationsprozesse, ein Aspekt, der
in vielfältigen psychoanalytischen Reflexionen immer noch allzu
häufig vernachlässigt wird. Mit einer kritischen Prüfung und
Würdigung der qualitativen Methode der Typenbildung, einschließlich
der Formulierung einiger methodischer Einwände, schließt Lindner
seine vielschichtigen Reflexionen zur Suizidalität ab.
Fazit
Lindner präsentiert idealtypische klinische Muster der Trias
Suizidalität, Lebensgeschichte und Übertragungsbeziehung von
suizidalen Männern. Die vorliegende Publikation positioniert sich
im wissenschaftlichen Feld sehr unterschiedlicher Perspektiven: Aus
psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht dient sie der Erweiterung
der Erkenntnisse über ein besonders schwieriges Behandlungsfeld:
dem Beginn einer Psychotherapie bei Suizidalität. Aus
psychoanalytischer Perspektive trägt sie zum psychodynamischen
Verständnis geschlechtsspezifischer Aspekte der Suizidalität bei
Männern bei. Aus suizidologischer Sicht präsentiert sie Ergebnisse
aus einer Diagnose- und Behandlungsform bei Suizidalität: der
psychoanalytisch orientierten Kurzpsychotherapie. In
methodologischer Hinsicht dient sie der Auseinandersetzung mit
unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Paradigmen in der
psychiatrisch-psychotherapeutischen Forschung. Entsprechend breit
ist auch der angesprochene Nutzerkreis: Suizidalität berührt die
Beziehung und die Identität eines professionellen Helfers (nicht
nur von Klinikern) und suizidgefährdeten Menschen. Suizidalität ist
ein Phänomen, das Ärzten und Psychotherapeuten - aber auch
Sozialpädagogen/-arbeitern - beinahe in allen (klinischen)
Bereichen begegnet. Daher ist die vorliegende Studie sowohl für
Kliniker, Wissenschaftler und Professionelle erkenntnisreich, die
sich vertiefend mit dem schwierigen Phänomen »Suizidalität«
auseinander setzen wollen, als auch für Rezipienten, die sich einen
wertvollen Überblick über die methodologischen Grundlagen der
verstehenden Typenbildung verschaffen wollen. Meines Erachtens ist
es wünschenswert, dass dieses Buch einen großen Leser(innen)kreis
und eine breite Rezeption, nicht nur in der Medizin und
Psychologie, sondern gerade auch in der Disziplin und Profession
der Sozialen Arbeit und den Gesundheitswissenschaften findet.
Insofern ist es mehr als begrüßenswert, dass nunmehr dieses
vielseitig informative Buch im Psychosozial Verlag vorliegt.