Rezension zu Opfer und Täter zugleich?

Systhema 95

Rezension von Hans Schindler

Nach Untersuchungen zu den Folgen der Shoa wagt sich die Autorin in diesem Buch an ein bisher stark tabuisiertes Thema, die Rolle der jüdischen Kapos im Vernichtungssystem der SS. Sie interviewte ehemalige jüdische Funktionshäftlinge und ihre Kinder und nahm sich zum Ziel, die generationsübergreifenden Verarbeitungsmuster in diesen Familien herauszuarbeiten: »Im Verlauf meiner Forschungsarbeit entdeckte ich in der Begegnung mit Kapos ›normale‹ Menschen, die keine ›amoralischen Monster‹ waren, sondern die aufgrund ihrer Zwischenposition zwischen den Tätern und den Opfern in Extremsituationen vor schweren Entscheidungen standen« (5.341).

Ihr Schlüssel für das Verständnis der Psychologie der Kapos sind deren Moraldilemmata. Dieser stark an Sartre angelehnte Begriff beschreibt eine Situation, in der es um die Wahl zwischen »Böse und Böse«, das heißt gleichzeitig zwischen »helfen und helfen« geht. »Durch die Funktionstätigkeit konnten die Kapos einzelnen Mithäftlingen auch helfen. Der Preis dafür war aber immer, daß sie in ihrer Funktionstätigkeit gleichzeitig den Nazis halfen« (S.28). Anders als bei den politischen »roten Kapos«, deren politische Identität und Organisation ihnen in diesen schwierigen Situationen half, erlebten die jüdischen Kapos ein Defizit in ihrem moralischem Selbstbild. Dies wurde nicht zuletzt durch die Diffamierung der Kapos in Israel bis heute verfestigt.

Die Autorin findet bei der Analyse der Interviews bei den Kapos drei unterschiedliche individuelle Bewältigungsmuster: 1. das Zerbrechen an den Moraldilemmata, 2. deren völliges Ausblenden und 3. das Aushalten der Dilemmata. Nicht nur unter familientherapeutischen Gesichtspunkten ist es sehr beeindruckend, wie die Kinder dieser Kapos in die Bewältigungsstrategien ihrer Eltern eingebunden sind. Sehr bewegend sind die Interviews der Kinder der ersten und der zweiten Gruppe (Zerbrechen bzw. Ausblenden), die ganz im Sinne der Eltern die familiäre Bewältigung auf ihre Schultern nehmen, während in der dritten Gruppe, in der die Eltern selbst die Herausforderung in ihrer Widersprüchlichkeit annehmen, die Kinder (relativ) frei von Bewältigungsaufgaben sind.

Sowohl die breite Behandlung des Tabuthemas »jüdische Kapos« als auch die differenzierte Herausarbeitung der generationsübergreifenden Muster bei der Verarbeitung der Moraldilemmata machen diese Arbeit zu einer äußerst anregenden Lektüre. Mich hat dieses Konzept zu einem erweiterten Verständnis der Prozesse in Täterfamilien angeregt.

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