Rezension zu Einsicht in Gewalt
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Rezension von Prof. Dr. Ute Ingrid Haas
Thema
Die Wirkungsforschung kriminalpräventiver Projekte und justizieller
Maßnahmen zur Reintegration und Prävention als Reaktion auf
abweichendes Verhalten, vor allen Dingen jugendlicher und
heranwachsender Rechtsbrecher, hat in jüngster Vergangenheit wieder
mehr Beachtung gefunden und durch – zwar leider immer noch wenige,
dafür aber um so beachtlichere – Arbeiten Aufwind erfahren. Eine
dieser beachtlichen Arbeiten ist das hier vorliegende Werk von
Svenja Taubner, die sich mit der Wirkung des Täter-Opfer-Ausgleichs
auf jugendliche bzw. heranwachsende Rechtsbrecher auseinandersetzt.
Svenja Taubner geht der Frage nach, ob der Täter-Opfer-Ausgleich
geeignet ist, Einsicht in das gewalttätige Verhalten der Täter zu
erzeugen. Damit wird nach über 20jähriger Praxis des
Täter-Opfer-Ausgleichs und in Wissenschaft und Praxis genereller
Akzeptanz dieser, weil das Opfer in besonderer Weise
inkludierenden, Maßnahme der Versuch unternommen, die Wirkung auch
praktisch und nicht länger nur theoretisch nachzuweisen. Vorsicht
sei für all’ diejenigen angemahnt, die sich auf eine scheinbar
einfach gestellte Frage, wie die nach der Wirkung, auch monokausale
Antworten erhoffen. Es gibt sie auch in dem hier vorliegenden
Kontext nicht, wie die Erklärung abweichenden Verhaltens und der
Versuch der Eindämmung auch niemals monokausal erklärt werden kann,
es sei denn an Stammtischen.
Entstehungshintergrund
Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um die Dissertation der
Verfasserin. Die Dissertation ist vor dem Hintergrund eigener
Tätigkeit der Verfasserin als Mediatorin in Strafsachen entstanden,
die sie beim Täter-Opfer-Ausgleich in Bremen ausgeübt hatte. Der
Täter-Opfer-Ausgleich in Bremen zeichnet sich durch eine
analytisch-orientierte Sichtweise und Herangehensweise an die
Schlichtungsfälle aus und beschäftigt überwiegend psychologisch
ausgebildete Mediatoren in Strafsachen. So ist es nicht
verwunderlich, dass sich die Autorin nach ihrer Mediationstätigkeit
in einer Ausbildung zur analytischen psychologischen
Psychotherapeutin befindet. Diese analytisch-psychologisch
orientierte Sichtweise auf eine ansonsten überwiegend von Juristen,
Kriminologen und der Sozialen Arbeit dominierten Materie bereichert
die Diskussion zur Mediation im Strafrecht und die
Wirkungsforschung ungemein.
Aufbau
Das umfangreiche Werk der Verfasserin gliedert sich in einen
theoretischen (Kapitel 1 – 4) und einen empirischen Teil (Kapitel 5
– 9). Es folgt ein ausgesprochen eindrucksvolles
Literaturverzeichnis, welches an sich schon ein Gewinn ist. Über 23
Seiten wurde die Literatur zu dem Thema zusammengetragen. Im Anhang
finden sich dann die Untersuchungs- und Erhebungsinstrumente,
gefolgt von einem umfangreichen Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
zu den Auswertungen.
Theoretischer Teil
Im theoretischen Teil der Arbeit setzt sich die Verfasserin im 1.
Kapitel mit der Entwicklung von Einsichtsfähigkeit als Chance des
Täter-Opfer-Ausgleichs auseinander. Immerhin ist es ein erklärtes
Ziel dieser Maßnahme, über die Entwicklung von Einsicht Empathie
für das Opfer und eine Anerkenntnis der Normen zu erreichen, damit
zukünftige Straftaten möglichst verhindert werden können. Die
Beförderung von Einsicht beim Täter stellt also ein zentrales
Element des Mediationsverfahrens dar. Allerdings kommt die Autorin
nach der Aufarbeitung der theoretischen und empirischen
Forschungsarbeiten zum Täter-Opfer-Ausgleich zu dem Ergebnis, dass
gerade die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Einsicht und erst
recht eine empirische Überprüfung ein Desiderat darstellen.
Es folgt in Kapitel 2 eine philosophische und juristische
Auseinandersetzung zur Auffassung von Einsicht. Die Autorin stellt
den philosophischen und juristischen Diskurs zur Einsicht überaus
interessant und lesenswert dar und bietet eine Fülle hervorragender
Literatur als Grundlage ihrer Ausführungen an. Letztendlich, so ihr
Fazit, liegt die Herangehensweise der jeweiligen Disziplinen gar
nicht so weit auseinander. Im juristischen Diskurs, so stellt die
Autorin fest, wird ein Ringen um Definitionen deutlich, das
Einsicht als Erkenntnis des Unrechts einer Tat nicht von der
emotional getragenen moralischen Entwicklung einer Person trennt
und in den sozialen Kontext des Handelnden einbettet. Der aus dem
juristisch-philosophischen Diskurs heraus entwickelte
Einsichtsbegriff bietet also stärkere Differenzierungen als wir es
bislang in der Forschung zum Täter-Opfer-Ausgleich vorfinden. Um im
Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs eben auch mit der Gewinnung von
Einsicht »werben« zu können, darf die empirische Überprüfbarkeit
nicht fehlen. Hier bietet die Autorin in ihrem Werk geeignete
Kriterien für die Entwicklung eines Begriffs von Einsicht an, die
dann die empirische Überprüfung erst ermöglichen würde. Die Autorin
wird darlegen, dass das Konzept der Reflexiven Kompetenz einen
derartigen Begriff von Einsichtsfähigkeit transportiert.
Dem psychoanalytisch begründeten Einsichtsbegriff ist das gesamte
dritte Kapitel gewidmet. Hier entwickelt die Autorin einen explizit
psychoanalytisch begründeten Begriff von Einsicht. Den Vorteil
psychoanalytischer Erklärungsansätze sieht die Autorin darin, dass
Einsicht nur dann die von Mediationsverfahren erhofften
Auswirkungen haben kann, wenn sie sich nicht nur kognitiv, sondern
auch emotional-sinnlich einstellt, also Einsicht auch erlebt werden
kann. Damit werden die emotionalen und psychodynamischen Aspekte
als Grundlage aller kognitiven Prozesse unterstrichen. Zumindest
für die Förderung von Empathie und Akzeptanz der Gefühle des Opfers
als wesentlicher Zielsetzung des Täter-Opfer-Ausgleichs wirkt
dieses Konzept überzeugend. Die Autorin weist zugleich darauf hin,
dass damit natürlich entsprechende Anforderungen an das Setting des
Täter-Opfer-Ausgleichs verbunden sind, als auch an die Ausbildung
der Mediatoren. Ein psychoanalytisch ausgerichtetes Konzept und
eine entsprechend adäquate Ausbildung der Mediatoren müssen dann
Hand in Hand gehen – wie im Bremer Täter-Opfer-Ausgleich seit 20
Jahren erfolgreich praktiziert.
Im vierten Kapitel findet die Auseinandersetzung mit dem
Einsichtsbegriff vor dem Hintergrund gewalttätigen Verhaltens in
der Adoleszenz statt. Hier diskutiert die Autorin die
vorangegangenen Ausführungen unter Berücksichtigung
psychoanalytischer und kriminologischer Erkenntnisse zur
Einsichtsfähigkeit in der Adoleszenz generell und besonders
gewalttätiger Jugendlicher speziell. Besonders hervorzuheben ist
hier die Darstellung des Zusammenhanges von beschädigten
beziehungsweise gescheiterten Lebenspfaden und
Entwicklungsverläufen, möglicherweise verbunden mit einer
beginnenden schwerwiegenden Ich-Störung im Sinne des dissozialen
Syndroms auf der einen Seite und gewalttätigem Verhalten auf der
anderen. Diese Zusammenhänge von nicht immer klar zu trennenden
Opfer-Täter-Rollen in der Biografie des einzelnen Jugendlichen und
Täters im Täter-Opfer-Ausgleich stellen eine Herausforderung für
die Strafjustiz und Soziale Arbeit im Umgang mit ihnen, unter
Berücksichtigung des »Erziehungsprinzips«, dar. Für den
Täter-Opfer-Ausgleich bedeuten diese Voraussetzungen in der Person
des jugendlichen Täters mögliche Grenzen in dem, was die Maßnahme
als Zielsetzung für sich (auch) formuliert.
Empirischer Teil
In Teil II ihres umfangreichen Werkes stellt die Verfasserin ihren
empirischen Teil dar.
Sie beschreibt in Kapitel 5 die Planung und Operationalisierung
ihrer Vorher-Nachher-Studie mit Fragestellung und
Forschungsannahmen, dem Konzept der Studie, Durchführung und
Darlegung ihrer Forschungsinstrumente. Ihre Untersuchungsgruppe
bestand aus 19 adoleszenten Beschuldigten, die auf Grund einer
Gewalttat im Bremer Täter-Opfer-Ausgleich an einem
Mediationsverfahren teilnahmen. Diese 19 männlichen Probanden
wurden jeweils vor Beginn des Täter-Opfer-Ausgleichs befragt; 18
von ihnen konnten in einem Abstand von mindestens einem Jahr nach
Abschluss der Schlichtung und des Verfahrens im Rahmen einer
Nachuntersuchung erneut befragt werden.
In Kapitel 6 werden in einer deskriptiven Analyse die
Ausgangsmerkmale der Untersuchungsgruppe behandelt. Hier sind unter
anderem sehr eindrucksvoll und anschaulich-nachvollziehbar die
Auswertungsbeispiele gelungen.
Es folgt die statistische Analyse der Vorher-Nachher-Untersuchung
in Kapitel 7 mit anschließender qualitativer Auswertung der
Prä-Post-Veränderungen von Einsicht in Kapitel 8. Hier sind
exemplarisch die Textbeispiele zur Reduktion des Datenmaterials
(Kap. 8.1.2) hervorzuheben.
Diesen zweiten Teil der Arbeit von Svenja Taubner ausführlich zu
besprechen, sprengt den Rahmen. Der empirische Teil ist so
ausgezeichnet gelungen und so dezidiert und akribisch beschrieben,
dass er nahezu als exemplarisch für hervorragende Forschungsarbeit
bezeichnet werden kann. Bei dieser Sorgfalt im Umgang mit ihrer
Fragestellung zeigt sich die analytische Herangehensweise der
Verfasserin, und es wird deutlich, wo die Zeit während eines
Forschungsprojektes bleiben kann!
Im neunten Kapitel werden die Ergebnisse diskutiert und die
Schlussfolgerungen vorgestellt. Hier wird überaus differenziert die
Wirkung des Täter-Opfer-Ausgleichs auf die einzelnen Probanden
geschildert, und die Autorin kommt zu teilweise überraschenden
Ergebnissen.
Zielgruppen
Das vorliegende Werk von Svenja Taubner ist besonders mit seinem
theoretischen Teil für all’ diejenigen, die im
Täter-Opfer-Ausgleich involviert sind, ein sehr
horizonterweiterndes und zum Nachdenken anregendes Werk! Gerade
Konfliktschlichter, Mediatoren, Jugendstaatsanwälte und
Jugendrichter und an diesem Thema interessierte Juristen,
Kriminologen und Rechtspsychologen bekommen fundiert analytische
Einsichten über den Hintergrund und die Haltung jugendlicher
(Gewalt-)Straftäter und die Frage präsentiert, welcher Umgang mit
ihnen dergestalt von Nutzen ist, dass sie ihre Gewalttätigkeit
überdenken und im besten Falle aufgeben können und so in die
Gesellschaft wieder integriert werden. Das gesamte Buch mit seinem
empirischen Teil erweitert die Adressatengruppe auf die in
Forschung und Wissenschaft Tätigen und an diesen methodischen
Fragen besonders Interessierten. Speziell für Doktoranden bzw.
Habilitanden der einschlägigen Wissensrichtung kann die Arbeit von
Svenja Taubner ein hervorragendes Beispiel guter wissenschaftlicher
Arbeit sein. Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass
nach den Standards guter wissenschaftlicher Arbeit die Ich-Form in
einer wissenschaftlichen Schrift nichts verloren hat!
Fazit
Das Werk von Svenja Taubner ist von großem Wert für die
Wirkungsforschung und die Auseinandersetzung mit der Effektivität
des Täter-Opfer-Ausgleichs. Es bringt nicht nur Einsicht in Gewalt
sondern Einsicht in die Wirkungsweise justitzieller Maßnahmen für
jugendliche (Gewalt)-Straftäter. Der Blick auf jugendliche
Rechtsbrecher wird jenseits medialer Inszenierungen und
Schuldzuweisungen ganz analytisch-nüchtern auf die Ursachen
abweichenden Verhaltens aufgrund schwierig verlaufender Lebenswege
gerichtet und hat damit gleichzeitig Appellwirkung, zielgerichteter
und ursachenorientierter in der Auswahl von Maßnahmen zur
Reintegration jugendlicher Straftäter vorzugehen.