Rezension zu Das (Nicht-)Sprechen über die Judenvernichtung
www.socialnet.de
Rezension von Prof. Dr. Leonie Wagner
Katharina Rothe untersucht das Sprechen und Nichtsprechen über
Deportationen jüdischer MitbürgerInnen auf der Grundlage einer
Mehrgenerationenstudie. Die Zeitzeugengeneration sind in diesem
Fall ehemalige Schüler, die zum Zeitpunkt der Deportationen etwa 11
Jahre alt waren. Sie nahmen einerseits an einer Gruppendiskussion
teil und wurden z.T. in ergänzenden Einzelinterviews befragt.
Interviews wurden darüber hinaus mit zwei Töchtern und zwei
Enkelinnen geführt. Methodisch ist die Untersuchung in der
psychoanalytisch orientierten Sozialforschung angesiedelt.
Autorin und Entstehungshintergrund
Katharina Rothe ist Diplom-Psychologin und arbeitet mit
psychoanalytisch orientierten Methoden zu verschiedenen
Ausgrenzungsideologien. Sie hat u.a. an der von der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Untersuchung "Ein
Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und
demokratischer Einstellungen in Deutschland" (Berlin 2008)
mitgearbeitet. In der Studie wird mit einem teilweise ähnlichen
methodischen und analytischen Instrumentarium wie in dem hier
besprochenen Buch gearbeitet. Das vorliegende Buch wurde 2008 als
Dissertation bei Thomas Leithäuser und Elfriede Löchel an der
Universität Bremen eingereicht.
Aufbau und Inhalt
In einer kurzen Einleitung skizziert die Autorin den
gesellschaftlichen Rahmen und ihre Fragestellung. Ausgehend von
verschiedenen vorwiegend medialen Ereignissen, in denen ein
"Schlussstrich" unter die NS-Geschichte gezogen werden soll bzw. in
denen "die Deutschen" als "Opfer" erscheinen, geht die Autorin
davon aus, dass hier antisemitische Affekte aufscheinen, die auf
Unbearbeitetes verweisen. Durch eine Gruppendiskussion und
Einzelinterviews mit unterschiedlichen Generationen sollen insofern
unbewusste Aspekte im (inter-)generationellen Diskurs über den
Holocaust untersucht werden. Ausgangspunkt sind dabei die
Deportationen von JüdInnen aus einer nordhessischen Stadt. Die
JüdInnen mussten sich dort auf Schulhöfen versammeln, also Orten,
an denen die damaligen Schüler präsent waren.
Im zweiten Kapitel wird der Forschungsstand skizziert und die
Untersuchung in diesen eingebettet. Bezugspunkte sind insofern
"klassische" psychoanalytische und sozialpsychologische (z.B.
Institut für Sozialforschung, A. und M. Mischerlich) sowie
aktuellere intergenerationelle Studien (z.B. Rosenthal, Welzer).
Katharina Rothe will diese durch einen Ansatz ergänzen, in dem die
»unbewussten Dynamiken der Konflikt- und Abwehrformen aller
Beteiligten« (S. 18) systematisch analysiert wird. Mit dem von
Devereux entwickelten Konzepts des »ethnischen Unbewussten« will
sie zudem die Interviews bezogen auf die Idee der »Nation« bzw.
deren diskursive und unbewusste Tradierung auswerten.
Die methodischen Ansätze werden im 3. Kapitel erläutert: Die
Autorin ordnet ihre qualitative Untersuchung in die
psychoanalytisch orientierte Sozialforschung ein. Dabei geht es
darum, mit psychoanalytischen Theorien und Erkenntnissen »das
Allgemeine im Besonderen« herauszuarbeiten. Sie bedient sich dabei
psychoanalytischer Begriffe und Konzepte (z.B. Re-Inszenierung,
Übertragung) und kombiniert diese mit verschiedenen
Auswertungsmethoden (z.B. Kernsatz- und Sequenzanalyse). Relevant
dabei ist, dass nicht allein die Interviewtexte ausgewertet,
sondern auch die Affekte und Interaktionen zwischen Interviewten
und InterviewerInnen einbezogen werden.
In Kapitel 4 wird die Untersuchungsgruppe näher vorgestellt und die
spezifischen Fragestellungen beschrieben. Die Kapitel 5 bis 8
behandeln auf der Grundlage von Interviewpassagen dann
unterschiedliche Aspekte der Auswertung. Dabei geht es zum einen um
das »fortgesetzte Verschwinden der Opfer im sprechenden
Nicht-Sprechen« (Kapitel 5), in dem Katharina Rothe bezogen auf die
ehemaligen Schüler eine permanente »Wegbewegung« vom Thema der
Deportation bzw. deren Konsequenzen und damit zugleich eine
»(Re-)Inszenierung« der in der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik angelegten Bewegung erkennt (Verschweigen,
Verleugnen, Verdrängen der Opfer). In den Interviews mit den
nachfolgenden Generationen taucht diese Bewegung - wenn auch
teilweise mit anderer Motivlage - wieder auf. Im 6. Kapitel geht es
um die Konstruktion der »Wir«-Gruppe und, damit im Zusammenhang,
des »Phantasmas der Nation« bzw. die darin eingelagerte Ausgrenzung
der Anderen (in diesem Fall der jüdischen Bevölkerung), im 7.
Kapitel um Bilder von »den Juden« sowie die Konstruktion des
»deutschen Opfers« und im 8. Kapitel um die Entlastung der Eltern
durch die folgenden Generationen. Im 9. Kapitel wird ein
Gesamtresümee gezogen. Literaturverzeichnis, Transkriptionsregeln
und eine Danksagung schließen den Band ab.
Diskussion
Angesichts einer Vielzahl von Publikationen, Ausstellungen,
Gedenkstätten und Gedenktagen erscheint das Thema des
»(Nicht-)Sprechens über die Judenvernichtung« zunächst
anachronistisch, wurde doch in den letzten Jahren die Mentalität
des Schweigens und des Schlussstrichs zunehmend aufgegeben und der
Holocaust als eine Art negativer Bezug der deutschen Geschichte
zumindest scheinbar akzeptiert. Auch zu den Fragen des
Alltagsdiskurses über den Nationalsozialismus und den Holocaust
liegen dezidierte Untersuchungen vor, in denen nicht zuletzt die
generationelle Tradierung einen wesentlichen Bezugspunkt darstellt.
Was also leistet die Untersuchung von Katharina Rothe?
Das Spannende an der Studie liegt im Wesentlichen in der Verbindung
von Gegenstand und Methode. Zum einen geht die Autorin methodisch
klar und nachvollziehbar den Diskursbewegungen im Sprechen bzw. im
Umgehen des Sprechens über eine Deportation jüdischer BürgerInnen
aus einer Kleinstadt nach; zum anderen ermöglicht sie durch die
detaillierten Darstellungen des methodischen Vorgehens einen guten
Einblick in empirische Untersuchungen auf psychoanalytischer
Grundlage und deren Erkenntniserträgen für Forschungen zum Diskurs
über den NS. Ausgesprochen interessant sind dabei auch viele der
Interviewpassagen sowie die anschließenden Auswertungen. »Neu« sind
dabei nicht so sehr die Erkenntnisse über die Bezugsebenen und
Verdrängungen, als vielmehr das akribische Herausarbeiten der
Spuren der NS-Ideologie (sowie dem nach 1945 einsetzenden Umgang
damit) in aktuellen Diskursen und dessen psychoanalytische
Einordnung. Katharina Rothe nimmt damit eine Kritik an der
psychologischen und psychoanalytischen Forschung zum NS und dessen
Tradierung auf und versucht, deren teilweise ungesicherten
Feststellungen empirisch zu untermauern.
Auffallend sind jedoch folgende Punkte:
Die Gruppendiskussion und Einzelinterviews mit den ehemaligen
Schülern nehmen in der Auswertung den breitesten Raum ein. Dies mag
daran liegen, dass sie auch quantitativ in der Erhebung dominieren,
lässt jedoch auch kritische Nachfragen hinsichtlich des
Aussagewertes der intergenerationellen Perspektive zu.
Katharina Rothe reflektiert zwar ihre eigenen Affekte und bezieht
diese in die Auswertung ein - dabei wird aber deutlich, dass sie in
der Regel konfrontativ vorgeht, d.h. an der Evozierung der Schuld-,
Scham- und Abwehrgefühle elementar beteiligt ist. Diese eigene
Position fällt bereits im ersten Satz des Buchtextes auf, in dem
die Autorin vom »Zivilisationsbruch Auschwitz« schreibt. Es ist
insofern denkbar, dass die Äußerungen der Interviewten anders
ausgefallen wären, wenn von Seiten der Interviewenden andere
Positionen eingenommen worden wären.
Die Möglichkeiten der Brechung des scheinbar dominanten
Abwehrdiskurses erscheinen eher gering. Auch wenn das
Interviewmaterial dies nahe legt, stellt sich doch die Frage, wie
angesichts dieser scheinbar kaum aufgearbeiteten Geschichte eine
zunehmende Anerkennung und Aufnahme in den gesellschaftlichen
Diskurs möglich ist.
Eine Kontextualisierung durch Heranziehen von Ergebnissen anderer
Disziplinen findet weitgehend nicht statt. Noch erstaunlicher ist,
dass wichtige Ergebnisse aus der eigenen Disziplin nicht auftauchen
- verdrängt wurden? So fehlen u.a. die Arbeiten von Dan Bar-On und
Gudrun Brockhaus in der Erarbeitung des Forschungsstandes und den
Auswertungen. Gleichzeitig findet eine enge Anlehnung an
»traditionelle« psychoanalytische Ansätze statt, so dass sich
bisweilen der Eindruck einstellt, hier gehe es darum, diese
nachträglich empirisch zu belegen.
Fazit
Das Buch ist in methodischer Hinsicht interessant, da die Autorin
ihre Herangehensweisen klar und nachvollziehbar beschreibt und auch
Grenzen des Vorgehens benennt. Interessant sind auch die
Interviewpassagen, deren psychoanalytisch geleitete Interpretation
und die systematische Verknüpfung mit den eigenen Affekten der
Interviewerin. Insofern gelingt Katharina Rothe eine interessante
Verknüpfung von Methodik und Gegenstand. Zwar werden keine »neuen«
Erkenntnisse über den Umgang mit dem Nationalsozialismus erlangt,
aber dessen Manifestation im Bewussten und vor allem Unbewussten
herausgearbeitet. Dabei wird jedoch der intergenerationellen
Perspektive vergleichsweise nur wenig Raum geschenkt. Problematisch
erscheinen mir zudem fehlende Kontexualisierung mit Ergebnissen
anderer Disziplinen bzw. auch Ergebnissen anderer
psychologisch-analytischer Untersuchungen.