Rezension zu ADHS

Sonderpädagogische Förderung heute, 54. Jg, April 2009

Rezension von Corinna Klose

Hyperaktiv, unruhig, unaufmerksam, impulsiv, aggressiv ... - mit diesen Beschreibungen werden Kinder unter der Diagnose ADHS zusammengefasst. Doch was steckt hinter diesen Symptombeschreibungen? Ist es mehr als nur störendes Verhalten, mit dem die Kinder in ihrer Umwelt anecken und bei ihrem Gegenüber Verunsicherung, Hilflosigkeit, Reizbarkeit, Unbehagen, Wut oder auch Mitgefühl auslösen?

Der Titel des Buches »ADHS. Symptome verstehen - Beziehungen verändern« weist bereits darauf hin, dass sich hinter diesen Verhaltensauffälligkeiten mehr verbirgt. Kinder teilen ihre inneren Befindlichkeiten, ihre Gefühle, Vorstellungen und Motive meist nicht durch Worte mit, sondern bringen diese durch motorische Aktivität, Unaufmerksamkeit oder Impulsivität zum Ausdruck. Durch dieses störende Verhalten bleibt die Innenwelt des Kindes für sein Gegenüber verborgen und die Botschaften, die es sendet, werden von den Erwachsenen – ob nun Eltern, Erziehern und Erzieherinnen, Lehrern und Lehrerinnen oder anderen Kontaktpersonen des Kindes – nicht erhört.

Die Idee zu diesem Buch entstand, während einer vierjährigen interdisziplinären Intervisionsarbeit zum Thema ADHS, in einer Gruppe von fünf Fachärztinnen und Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (Matthias Wildermuth, Anne Sparenborg-Nolte, Anna Maria SantUnione, Helmut Wagner und Terje Neraal), einem klinischen Psychologen (Herbert Seitz-Stroh) und einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Elke Rosenstock-Heinz). Die Autoren verdeutlichen in ihrem Buch, dass im Umgang mit Verhaltensstörungen eines Kindes eine Oberflächen-Diagnose ›ADHS‹ nicht ausreicht. Sie eröffnen durch ihre psychodynamischen, beziehungs- und familientherapeutischen Ausführungen einen Zugang zur Innenwelt beziehungsweise zu den inneren Spannungen der betroffenen Kinder und erreichen damit, dass die Sicht auf das Thema ADHS erweitert wird.

Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil stellt Terje Neraal die unterschiedlichen Theorieansätze von ADHS dar. Zunächst versucht er über eine alltagspsychologische Betrachtung der Verhaltensauffälligkeiten die Tür zur Innenwelt der Kinder zu öffnen. Dabei verdeutlicht er die Bedeutung und den Sinn der Symptome sowie die Rolle, die die Diagnostik von ADHS einnehmen kann, um die verschlüsselten Botschaften zu verstehen. Die Probleme und Konflikte der Kinder und ihrer Familienangehörigen werden dem Leser durch psychodynamische sowie beziehungs- und familiendynamische Theorien näher gebracht. Dabei finden neuere Erkenntnisse zur Bindungstheorie und zu frühen Regulationsstörungen zwischen Eltern und Kind Verwendung. Schließlich zeigen die familiendynamischen Erklärungsmodelle, welche Störungen in den innerfamiliären Beziehungen zu den Auffälligkeiten des Kindes führen oder dazu beitragen können.

Im zweiten Teil werden zehn Fallbeispiele von Kindern mit der Diagnose ADHS oder mit dem Verdacht auf ADHS von verschiedenen Autoren dargestellt. Die Therapie der Kinder und deren Familien fand in unterschiedlichen Settings statt: Auf einer kinderpsychiatrischen Station, in einer kinderpsychiatrischen Ambulanz oder Praxis sowie bei einer niedergelassenen Kinder- und Familientherapeutin. Die Autoren geben eine detaillierte Beschreibung ihrer psychotherapeutischen Arbeit und veranschaulichen die unterschiedlichen Hintergründe für die Verhaltensstörungen der Kinder. Anhand dieser Fallbeispiele wird die Bedeutung für eine bedürfnisangepasste familientherapeutische Behandlung für Kinder mit ADHS deutlich herausgestellt.

Matthias Wildermuth beschreibt im dritten und abschließenden Teil die Praxeologie, die darin besteht, eine alltagsorientierte und alltagstaugliche, diagnostische und therapeutische Methodik zu erarbeiten. Er schildert die Voraussetzungen für das Entstehen von vertrauensvollen Beziehungen zwischen Familien und Helfern und verdeutlicht die Bedeutung einer individuellen und bedürfnisangepassten Untersuchung und Behandlung. Besonders hebt er hervor, wie wichtig es ist, dass die verschiedenen Kooperationspartner im pädagogischen, sozialen und medizinischen Bereich zusammenarbeiten. Außerdem stellen Matthias Wildermuth und Anna Maria SantUnione in diesem praxeologischen Teil des Buches die gemeinsam durchgeführte katamnestische Studie »Zur Therapie des hyperkinetischen Syndroms« inklusive seiner Unterformen (ADS, ADHS, hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens) sowie der damit einhergehenden komorbiden Störungen in der sozialpsychiatrischen Praxis dar. Sie zeigen anhand dieser im Jahr 2005 durchgeführten Studie, wie durch psychotherapeutische Hilfen für das Kind und seine Familie Symptome entschlüsselt und verstanden werden konnten, und vor allem, dass eine medikamentöse Therapie mit Psychostimulanzien zunehmend überflüssig wurde. Diese verhaltensregulierende Maßnahme ist dadurch bedingt, dass nach dem gängigen Erklärungsmodell als Ursache von ADHS eine Regulationsstörung der Neurotransmitter im Gehirn angenommen wird, welche die Verarbeitung von Reizen beeinflusst und somit die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes verantwortet. Die Autoren dieses Buches präsentieren dazu eine veränderte Sichtweise, die sich nicht mit der Beschreibung der äußerlichen Verhaltensauffälligkeiten des Kindes begnügt, sondern diese als Ausdrucksform von inneren Spannungen begreift. Diese können durch familiäre oder institutionelle Konflikte und Schwierigkeiten hervorgerufen sein. Die Autoren sensibilisieren mit diesem Buch für die psychodynamische Sichtweise und ermutigen damit auch andere Fachkräfte für die Umsetzung dieser ernstzunehmenden Alternative. Durch den gut verständlichen Schreibstil, den starken Praxisbezug und den empirisch wissenschaftlichen Teil wendet sich das Buch an eine breite Leserschaft, zu welcher Mediziner, Therapeuten, Psychologen, Erzieher, Lehrer und auch betroffene Eltern oder Jugendliche gleichermaßen gehören.

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