Rezension zu Wer nicht leiden will, muss hassen

TOA-Infodienst Nr. 39, März 2010

Rezension von Frank Winter

Im TOA-Infodienst Nr. 37 vom April 2009 ist der Vortrag »Täter-Opfer-Versöhnung« von Horst-Eberhard Richter abgedruckt, den Richter auf dem TOA-Forum gehalten hat. Der Abdruck hat mich angeregt, mich noch einmal und auf andere Weise mit dem Werk von Horst-Eberhard Richter auseinander zu setzen. Standen während meiner Studienzeiten in den 70er Jahren und meiner ersten Berufsjahre in einem psychiatrischen Großkrankennhaus und später in einer psychoanalytischen Praxis in Düsseldorf noch Richters Reformideen und klinische Forschungen (Patient Familie; Eltern, Kind, Neurose) sowie seine praktische Anwendung der Psychoanalyse in gesellschaftlichen Konflikten im Zentrum meiner Aufmerksamkeit, wollte ich aktuell Richters Sicht auf Gewaltphänomene, deren psychische und soziale Determiniertheiten und die Wirkungen der individuellen wie persönlichen historischen Kontexte betrachten. So geriet ich fast zwangsläufig an den handlichen, im Psychosozial-Verlag schon 2004 erschienenen Sammelband »Wer nicht leiden will muss hassen«. Der Psychosozial-Verlag selbst ging übrigens aus der 1978 von Richter gegründeten Zeitschrift »psychosozial« hervor; die als Fachzeitschrift schnell und bis heute an Einfluss gewann. Dazu allerdings fand sich kein Hinweis im Buch.

Wer nicht leiden will muss hassen: Konfliktvermittler im Arbeitsfeld Täter-Opfer-Ausgleich, aber auch Sozialarbeiter, die mit jugendlichen Gruppierungen am Rand unserer Gesellschaft umgehen, Jugendrichter, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -psychiater können aus ihrer angesammelten Empirie sicher unzählige Beispiele beisteuern, die den wunderbaren Titel dieses Buches stützen. Richter hat es als Sammlung von Fachaufsätzen konzipiert und damit einen Rückblick auf seine persönliche Biografie, auf seine unterschiedlichen beruflichen Perspektiven als Sozialphilosoph, Psychiater, Psychoanalytiker und engagierter Friedenskämpfer ermöglicht. Der historische Blick auf unsere deutsche Vergangenheit bildet Folie und liefert das Fallmatierial für seinen Diskurs. In sechs Kapiteln und einem recht persönlichen, das Buch abschließenden Interview mit Richter anlässlich dessen 70.Geburtstags im Jahr 1993 wird ein Aufriss der unterschiedlichen Formen von Gewalt geboten, mit denen sich Richter in seinen Funktionen als Leiter des Sigmund Freud Instituts in Frankfurt, als Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin in Gießen, als Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung oder Mitbegründer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg beschäftigt hat.

Gewalt und Versöhnung sind rückblickend Richters Lebensthema gewesen. Und obwohl er, wenn er von »erschreckender Jugendgewalt«, »Durchbruch eines neuen Rechtsextremismus« (I) oder »epidemisch entflammter Destruktivität« (V) spricht, keine wissenschaftlichen Nachweise dafür anzuführen vermag, bleiben solche an sich Widerspruch evozierenden Begriffe verzeihlich, weil während der gesamten Lektüre des Buches spürbar wird, dass Richter aus einer individuellen Mitleidensfähigkeit heraus argumentiert und es ihm keineswegs um Spaltung oder Bangemacherei durch Schüren von Kriminalitätsfurcht geht, sondern gerade um deren Überwindung und Integration. Richter bleibt in seinen Beiträgen in der Tradition Freuds, der schon früh eine »innere Gegenkraft gegen die Destruktivität« (IV) postulierte.

Das erste Kapitel des Buches handelt von der »Ermutigung zur Scham« (11), es geht um haltlose »geschädigte Jugendliche, die ... ihren letzten Halt in ... militanten Gruppen gefunden haben,« (13) und das Wissen um die ewige Wiederholung: »Die Schwachen reagieren sind an den Allerschwächsten ab« (14). In Kapitel 2, »Illusion, kränkende Einsicht und vorsichtige Hoffnung« (15) veranschaulicht Richter das Ideal der Psychoanalyse wie der Aufklärung: »Wo Es war, soll Ich werden« (20), damit Vernunft und Humanität (21) walten, wo die schwankenden Leidenschaften und dunklen Triebkräfte Destruktivität entfalten könnten. Völkermord und Faschismus im gesellschaftlichen Kontext sowie Fallvignetten familiärer Gewalt, Beispiele aus Paargewalt oder Sektenhörigkeit im individuellen Kontext veranschaulichen die kurzen theoretischen Passagen. Richter kommt hier zugute, dass er neben seiner klinischen Tätigkeit mit Einzelpatienten und Gruppen immer auch im Feld geforscht und praktische Interventionen schon frühzeitig nicht nur im Umgang mit der Studentenbewegung 1968 und dem deutschen Terrorismus bis in die achtziger Jahre hinein gesetzt hat.

In weiteren Kapiteln »Die Ausländer und die Deutschen« (95), »Friedensbewegung und Militarismus« (135) und »Gesundheit und Gesellschaft« spannt Richter einen weiten Bogen, wie wir als einzelne Individuen und als Gesellschaft nicht nur »Hoffnung für die Kinder« (186) haben müssen, wenn wir bei aller Individualität nicht den Blick auf den Anderen vergessen, der uns manchmal als ein Fremder erscheint. Psychische und soziale Integration gelingen nur über »Selbstkritik« (56) und abnehmende »Neigung zum Misstrauen« (ebda.). Und psychische, soziale, aber auch historische Integration ist schwere Arbeit, für die auch Richter wegen individueller »Grenzen der Urteilsfähigkeit ...keine Rezepte« (217) hat.

Sind wir eine »heilende oder strafende Gesellschaft« (73)? Das »letzte Lernziel kann ... nur Versöhnung heißen, wie billig oder wie teuer, mit wie viel Nachsicht oder Strenge sie auch jeweils errungen werden muss«, weiß Richter (IX). Und er mahnt: Wir dürften uns - auch wenn Versöhnung nicht gelingt - keinesfalls enttäuschen lassen: Eine große Gefahr »ist der Rückzug in eine partielle Abstumpfung« (I).

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