Rezension zu Löwin im Dschungel (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Heilpädagogik 12/2009
Rezension von Ingrid Birkhold
Die Diagnose einer lebensverändernden chronischen Erkrankung oder
das Eintreten einer schwerwiegenden Behinderung bedeutet für
Betroffene und ihre Familien, alles bisher Bewährte und zukünftig
Geplante in Frage zu stellen und sich vollkommen neu zu
orientieren. Zur Auseinandersetzung mit der körperlichen
Einschränkung kommt oftmals die Erfahrung der gesellschaftlichen
Ausgrenzung. Exemplarisch wird im vorliegenden Buch am Beispiel der
Sehbehinderung aufgezeigt, wie die bewusste und unbewusste
Auseinandersetzung mit der Behinderung zur
Persönlichkeitsentwicklung und zu einem sinnerfüllten Leben
beitragen kann.
Dr. Eva-Maria Glofke-Schulz ist Dipl.-Psychologin und
Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis. Einer ihrer
Arbeitsschwerpunkte ist Psychotherapie mit behinderten Menschen.
Sie ist selbst von Geburt an sehbehindert und seit vielen Jahren
erblindet. Dieser autobiographische Erfahrungshintergrund, die
Berichte aus Selbsthilfegesprächsgruppen und die Ergebnisse ihrer
Arbeit mit ihren Patientinnen und Patienten verleihen dem Buch
Authentizität. Die eingeschobenen Erlebnisskizzen der Autorin
lassen in lebendiger und manchmal humorvoller Weise einen
Perspektivwechsel zu.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil werden unter
Verwendung des Stigma-Begriffs von Goffman einige begriffliche und
theoretische Probleme des Stigmakonzepts geklärt sowie mögliche
Funktionen und Ursachen von Stigmatisierung diskutiert, nicht ohne
darauf hinzuweisen, dass es eine endgültige Erklärung des Phänomens
Stigmatisierung wohl nie geben wird.
Nach einer kritischen Reflexion des Begriffs »Behinderung« unter
kulturellem und sozialem Aspekt setzt sich Glofke-Schulz mit den
Einstellungen gegenüber behinderten Menschen auseinander. Die
sozialen Phänomene wie Diskriminierung, Stigmatisierung und
Ausgrenzung werden solchen Reaktionen gegenübergestellt, die nur
auf den ersten Blick positiv erscheinen, wie z.B. Mitleid. Sehr
eindrücklich wird zwischen Mitleid und Mitgefühl differenziert
unter Hinweis auf die neurobiologischen Forschungsergebnisse der
sog. Spiegelneuronen.
Schon an dieser Stelle wird aufgezeigt, dass ein offener Umgang mit
der Behinderung erheblich zum Gelingen einer Begegnung in
gemischten sozialen Kontakten (Behinderte – Nichtbehinderte)
beitragen kann und dass alle beteiligten Interaktionspartner in je
eigener Weise davon profitieren.
Nach einem Überblick über die in der Sonderpädagogik bekannten
Paradigmen der Behindertenforschung werden verschiedene aktuelle
Forschungskonzepte aus Philosophie und Psychologie vorgestellt, wie
etwa der symbolische Interaktionismus (Mead), die dialogische
Philosophie (Buber), die Existenzanalyse (Frankl), das
intersubjektive Paradigma der Psychoanalyse, sowie dialogische
Ansätze der Identitätsforschung. Als Gemeinsamkeit dieser Ansätze
arbeitet Glofke-Schulz heraus, dass anstelle der Trennung zwischen
Subjekt und Objekt das Dialogische in den Mittelpunkt rückt. Das
Menschenbild, das sie hierbei zugrunde legt, ist dasjenige eines
aktiv handelnden, reflexiven und sozialen Individuums auf der Suche
nach Sinn und seelischem Wachstum.
Der zweite Teil des Buches widmet sich der Auseinandersetzung mit
einer Behinderung als Prozess der Selbstwerdung, dargestellt am
Beispiel Sehschädigung. Dabei werden die zahlreichen
gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Faktoren
beschrieben, die Einfluss auf den Umgang mit einer Behinderung
haben. Neben Urvertrauen, Kontaktbereitschaft und Selbstsicherheit
werden auch Humor und Kreativität als wichtige
Persönlichkeitsvariablen genannt. Dass die Krisenverarbeitung keine
statische Aufeinanderfolge von Bewältigungsphasen ist, sondern ein
dynamischer Prozess ohne endgültigen Abschluss, wird anhand des
Spiralphasenmodells von Schuchardt aufgezeigt. Der Akzeptanzbegriff
wird dahingehend erweitert, dass er wiederkehrende Krisen und
emotionale Erschütterungen einschließt. Von gelungener
Krisenverarbeitung kann nach Ansicht der Autorin dann gesprochen
werden, wenn es gelingt, unter den veränderten Bedingungen einen
realistischen Lebensentwurf zu entwickeln. Aus den Erkenntnissen
der Neurowissenschaften über das Zusammenwirken positiver und
negativer Gefühle resultiere eine ressourcen- und
lösungsorientierte Perspektive. Glofke-Schulz leitet daraus die
Notwendigkeit ab, »die Suche nach Schutzfaktoren und Möglichkeiten
der Ressourcenaktivierung [... ] in die beratende bzw.
psychotherapeutische Arbeit einzubeziehen« (S. 353). Zahlreiche
Fallbeispiele aus der Praxis der Autorin belegen, dass auch Träume
eine wichtige Rolle in der Krisenverarbeitung spielen und sogar
katalysierend auf den Verarbeitungsprozess wirken können. Dem
eindrucksvollen Traumbild eines Patienten, der beschreibt, wie eine
Löwin ihn sicher durch den gefahrvollen Dschungel der drohenden
Erblindung geleitet, verdankt das Buch seinen Titel. Der Untertitel
»Blinde und sehbehinderte Menschen zwischen Stigma und
Selbstwerdung« weist zwar auf die besondere Problematik dieses
Personenkreises hin. Das Buch lässt sich jedoch sowohl auf andere
Arten der Behinderung als auch auf lebensverändernde Erkrankungen
übertragen. Es wirft die Frage auf nach Gestaltungsspielräumen
innerhalb einer Umwelt, die behinderten und chronisch kranken
Menschen immer noch ambivalent, oft stigmatisierend begegnet.
Behinderungsverarbeitung, Integration und Partizipation wird als
komplementärer Lernprozess verstanden. Erfolgreiche
Krisenverarbeitung könne so zur Persönlichkeitsentwicklung
beitragen, die bestehenden gesellschaftlichen Werte kritisch
hinterfragen und einen kulturellen Wertewandel einleiten. Die
Autorin beschreibt es als ihre Vision, »das Zusammenleben von
Menschen mit und ohne Behinderung neu zu gestalten im Sinne von
Entstigmatisierung und Integration ohne einseitige Anpassung« (S.
16).
Das Buch bietet Betroffenen wertvolle Impulse für ihre
Selbstauseinandersetzung. Professionell in der Arbeit mit
Behinderten und chronisch Kranken Tätige finden in dem
umfangreichen wissenschaftlichen Material eine Zusammenschau
aktueller Forschungsansätze und die Anregung künftiger empirischer
Fragestellungen. Es ist somit für alle Leserinnen und Leser eine
Bereicherung und kann uneingeschränkt empfohlen werden.