Rezension zu Ich, das Geräusch
Psychiatrische Praxis, Heft 07, Jg. 36, Oktober 2009
Rezension von Helmut Dachale
Mit dem Geräusch ins Gespräch kommen
Wenn es im Ohr ständig piept, muss es nicht am Ohr liegen. Die
Volkskrankheit Tinnitus hat tiefere Ursachen, heißt es in einem
neuen Ratgeber. Der Autor rät, das krankmachende Getöne als Symptom
für innere Spannungen und Konflikte anzuerkennen – und die
Botschaft zu entschlüsseln.
»Wer nicht fühlen will, muss hören.« Einer Patientin sei diese
Umkehrung des Sprichwortes eingefallen, schreibt Michael Tillmann
gleich am Anfang seines Ratgebers für Tinnitus-Betroffene. Eine
Formulierung, die er für treffend hält. Skizziert sie doch in aller
Kürze, auf was der Bremer Psychoanalytiker hinaus will: Was
allgemein als Tinnitus bezeichnet wird, ist zumeist eine
psychosomatische Erkrankung. »Ein Schrei der Seele, die sich dem
Körper ausdrückt.« Ein Notsignal, ausgesendet, weil der Mensch
überfordert ist und verlernt hat, sich einzufühlen.
Von einem chronischen subjektiven Tinnitus aurium geht man aus,
wenn es im Ohr fortwährend pfeift, piept, saust oder rattert. Und
wenn nach dem üblichen Gang durch die Praxen von
Allgemeinmedizinern und HNO-Ärzten das Urteil gefällt worden ist:
Ursache nicht erkennbar. Rund drei Millionen Menschen müssen in
Deutschland mit dem chronischen Leiden leben. Die Deutsche
Tinnitus-Liga spricht von einer Volkskrankheit, in ihrem Ausmaß
längst mit Diabetes vergleichbar. Und Michael Tillmann fügt hinzu,
auch in anderen Industrieländern – und nicht nur dort – seien seit
gut 20 Jahren die Menschen »quer durch alle Generationen von der
Tinnitus-Symptomatik in epidemischem Ausmaß betroffen«. Doch von
Unheilbarkeit könne nicht die Rede sein, davon ist er überzeugt:
»Was gekommen ist, kann auch wieder gehen.«
Medizinisch und pharmazeutisch wird ja auch so einiges aufgeboten.
Und den meisten dieser Angebote, gängigen wie exotischen, misstraut
der Autor des fachchinesisch-freien Taschenbuchs: »Die Liste der
mehr oder weniger wirkungslosen Medikamente und Therapien ist
lang.« Wenn jemand vom Kampf gegen den Tinnitus profitiere, dann
die Gesundheitsindustrie. Herzlich wenig hält er von der immer noch
als Basisbehandlung angesehenen 1nfusionstherapie. »Zu teuer und zu
nutzlos.« Auch TRT (Tinnitus-Retraining-Therapie), bei der mit
einem Gegenton zum Gegenangriff übergegangen wird, kommt bei ihm
schlecht weg. Einen Alarm abschalten, ihn unhörbar machen, das sei
ein Verhalten wie auf der Titanic. Wie der Versuch der Bordkapelle,
das SOS der Schiffssirene zu übertönen.
Es ist nicht zu überlesen: Tillmann, Psychotherapeut und
-analytiker, betrachtet das Ohrsausen aus seiner fachlichen
Position. Sicher, »es gibt nicht DIE Lösung für den Tinnitus, die
Wege sind so unterschiedlich wie die Menschen, die darunter leiden«
- auch dieser Satz ist bei ihm zu finden. Doch grundsätzlich sieht
er in den belastenden Geräuschen eine Form von Kommunikation.
Klopfzeichen aus dem Unbewussten, die auf innere Spannungen, auf
eingekapselte Konflikte hindeuten. Die Seele melde sich zu Wort.
Indes in einer Art und Weise, die der genervte Mensch am liebsten
überhören würde. Wie soll er auch auf das Gesprächsangebot
eingehen, wenn er es als solches gar nicht wahrnimmt, vielmehr das
Getöne als sinnlos und leidvoll erfährt? Tillmann plädiert dafür,
die Signale nicht zu unterdrücken, sie vielmehr zu entschlüsseln
und sich dabei eines professionellen Übersetzers zu bedienen. Kurz
und gut: Er empfiehlt einen Psychotherapeuten. »Seine Aufgabe ist
es, einfühlsam zu sein, ohne mitleiden zu müssen. Das ermöglicht
einen gemeinsamen Denkprozess.«
Die Fallbeispiele des Ratgebers lassen vermuten, dass in einer
solchen Aufarbeitung immer wieder ähnliche Konfliktfelder zu
beackern sind: Ablösung, Trennung, Entwicklung und
Selbstständigwerden – der klassische Nährboden für vielerlei
Krankheiten. Das sieht auf den ersten Blick nach Blessuren aus, die
man sich ganz individuell, in persönlichen Beziehungen zuzieht.
Doch Tillmann betont, »auch gesellschaftlich-kulturelle Prozesse
können solche Entwicklungen hervorrufen.« Was erklären würde, warum
der Tinnitus gerade in den letzten 20 Jahren zu einem
Massenphänomen geworden ist. Schließlich leben wir mittlerweile in
einer Welt, die in rasantem Tempo neue Produkte, neue Werte und
neue Gedanken produziert. In einer Welt, in der dauernd
irgendjemand dazu auffordert, dies zu machen und jenes lieber zu
lassen. Und damit in einem Milieu, das fürs eigene Fühlen und
Denken nicht gerade förderlich zu sein scheint.
Michael Tillmanns Buch animiert zu einer ganzheitlichen
Betrachtungsweise. Und dennoch hat er kein dickleibiges Theoriewerk
vorgelegt, sondern einen ebenso flott wie einfühlsam geschriebenen
Ratgeber. Sicherlich, einige dürften sich damit schwertun.
Womöglich Schulmediziner, die ausschließlich somatisch orientiert
sind. Vielleicht auch Patienten, für die das Problem im Ohr sitzt
und nirgendwo sonst. Und die deshalb den Zusammenhang mit der Seele
zunächst für abwegig halten. Ihnen macht Tillmann Mut, die wahren
Ursachen zu erforschen. Und das durchaus auch mal mit einem
saloppen Spruch: »Psychotherapie ist nicht für Verrückte.«