Rezension zu »Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin«
www.amazon.de
Rezension von Winfried Stanzick
Unter dem Titel »Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu
erklären« ist das nun noch einmal überarbeitete und um einige
zusätzliche Aufsätze ergänzte Buch schon 1995 erschienen.
Die in der DDR aufgewachsene und sozialisierte Psychoanalytikerin
Annette Simon hat schon damals mit ihren Aufsätzen und
Einmischungen nicht nur ihren Berufskollegen im Westen, sondern
einer breiteren Öffentlichkeit einen fundierten und authentischen,
von ihrer beruflichen Tätigkeit geprägten Zugang über »ostdeutsche
Identitäten« ermöglicht.
In seinem Vorwort zur Neuausgabe begrüßt Joachim Gauck die ergänzte
Neuauflage, denn »was zehn Jahre nach dem Mauerfall notwendig war,
hat sich auch 20 Jahre danach offenkundig noch immer nicht
erledigt. Für den kritischen Zeitgenossen in den alten wie in den
neuen Bundesländern sind Fremdheit und Verständnislosigkeit
zwischen Ost- und Westdeutschen weiter mit Händen zu greifen.«
Er weist, durchaus im Sinne der Autorin, darauf hin, dass es
Jahrzehnte gedauert hat, die 12-jährige Nazidiktatur zu verarbeiten
und denkt, dass für die ostdeutsche Identität ähnlich lange
Zeiträume gebraucht werden, um das zu verarbeiten, was die DDR und
ihre Kultur mit ihnen gemacht haben.
Der Dichter Thomas Brasch hat schon 1977 dieses Gefühl in einem
Gedicht ausgedrückt, das der Neuauflage ihren Titel gegeben
hat:
»Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
Die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
Wo ich sterbe, da will ich nicht hin.
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.«
Wer verstehen will, warum die von Joachim Gauck beschrieben und für
jeden wachen Zeitgenossen in seiner Umgebung spürbare Entfremdung
zwischen den »Ossis« und Den »Wessis« immer noch wirkt , dem seien
diese luziden Essays von Annette Simon unbedingt empfohlen. Sie
geben gleichzeitig einen Einblick in die Tätigkeit einer
Psychoanalytikerin in der besten Tradition der Klassiker, die immer
neben dem einzelnen Patienten die Kultur und die Gesellschaft im
Blick hatten, in der sie lebten und für deren Veränderung sie sich
einsetzten.
www.amazon.de