Rezension zu Psychotherapie dynamisch - intensiv - direkt
Psycho 11/2006
Rezension von Peter Pfisterer
Stürmische Winde trieben Odysseus auf der Heimfahrt von Troja ins
Land der Kyklopen. Nach abenteuerlichen Fahrten verbrachte er den
Winter auf der Insel der Kirke, wurde sieben Jahre lang auf
Kalypsos Insel festgehalten, von wo ihm die Flucht auf einem Floß
gelang, so daß er wieder nach Ithaka zuti and, wo ihn Penelope in
ihre Arme schloß.
Im Vorwort seines Lehrbuchs zur Intensiven Dynamischen
Kurzpsychotherapie beschreibt Paul Troendle eine ähnliche Odyssee:
seine Lebensreise durch verschiedene Therapien. Mit Schalk und
Charme blickt er versöhnlich zurück auf seine eigenen
Therapieerfahrungen, erst als Analysand, dann als Klient im Feld
humanistischer Angebote bis hin zu seinem Zielhafen, der Intensiven
Dynamischen Kurzpsychotherapie. Allein dieses Vorwort macht die
Lektüre dieses Werks notwendig. Für Therapeuten ist es ein Genuß,
den Autor auf seiner Wanderung durch die verschiedenen
Therapielandschaften zu begleiten. Manch einer wird sich lachend an
eigene Erfahrungen erinnern und sich vielleicht versöhnen mit
selbsterlebten therapeutischen Kränkungen.
Anhand der eigenen Therapieausbildungen stellt Troendle
schonungslos die entscheidenden Fragen an die Wirksamkeit der
verschiedenen Therapieansätze und verweist auf Textstellen, an
denen er darauf Antworten gibt. Eigentlich wünschte man sich, in
diesem Stil weiter lesen zu dürfen. Dem Anspruch eines Lehrbuchs
verpflichtet, wechselt der Autor jedoch von der persönlichen
Dynamik zur Dynamik der Psychotherapiegeschichte und erweist sich
als profunder Kenner der psychoanalytischen Pionierzeit. Stringent
verfolgt er die Forschungsansätze der Kurzpsychotherapien. Mit
nahezu kriminologischem Gespür zeichnet der Autor die Linie nach,
wie Freud bemerkte, daß seine Patienten ihm schmerzliche
Erfahrungen kaum mitteilten und dadurch den Zugang zum Unbewußten
erschwerten. Freud fand dafür den Begriff des Widerstands. Während
er und andere den Weg beschritten, durch passive Techniken zu
Inhalten des Unbewußten vorzustoßen, verfolgten Rank, Ferenczi,
French, Alexander und andere Freuds ursprüngliche Idee, durch
aktive Interaktionen im Hier und Jetzt zum Unbewußten der Patienten
vorzudringen.
Nach dem 2. Weltkrieg experimentierten verschiedene Gruppen
(Balint, Ornstein, Malan, Sifneos, Mann, Goldmann, Davanloo u. a.)
relativ unabhängig voneinander mit kurzzeitlichen Modellen. Anfang
der 70er Jahre entdeckte Habib Davanloo, heute emeritierter
Professor der McGill Universität in Montreal und ehemaliger
Chefarzt am Montreal General Hospital, der seine auf Videoband
aufgezeichneten Therapien analysierte, daß durch ausschließliches
und konsequentes Eingehen auf die Patient-Therapeuten-Beziehung
sich rasch intensive Übertragungsgefühle einstellen. Mörderische
Impulse, schmerzliche, schuld- und trauerbeladene Gefühle aus dem
Unbewußten werden direkt erlebt.
Davanloo fand, wonach Freud ein Leben lang gesucht hatte. Es ist
verständlich und auch nachvollziehbar, daß er über seine
Entdeckung, einen direkten Zugang zum Unbewußten gefunden zu haben,
zunächst erschrak. In jahrzehntelanger Forschung hat er eine
Methode entwickelt, mit der die Widerstände, die den Zugang zum
Unbewußten versperren, durchbrochen werden können und so der
Kontakt zum Unbewußten bzw. zu tiefer liegenden Gefühlen
wiederhergestellt wird. Fundamental an Davanloos Entdeckung ist die
Tatsache, daß nur das unmittelbar in der Übertragung Erlebte für
den Patienten und den therapeutischen Prozeß hilfreich ist. Das
setzt ein tiefgehendes Bündnis des Therapeuten mit dem Patienten
voraus. Mit dem Konzept der unbewußten therapeutischen Allianz
(UTA) öffnet Davanloo einen neuen Weg der Psychotherapie bzw.
-forschung, der ermöglicht, unbewußte Gefühle offenzulegen und
dadurch eine Befreiung von unbewußten Fesseln zu bewirken.
Troendle hat sich mit seinem Lehrbuch die Aufgabe gestellt,
Davanloos Forschungsergebnisse erstmals in einer Systematik
darzustellen und zu kommentieren. In diesem Sinne ist das Buch
keine Anleitung zur Erlernung dieser Methode. Vielmehr ist es ein
Grundlagenwerk, das in Theorie und Technik der psychoanalytisch
orientierten Kurzpsychotherapie einführt und an den Leser gewisse
Ansprüche stellt.
Die neun Kapitel sind systematisch aufgebaut. Jedes Kapitel beginnt
mit einer theoretischen Einführung, in der aufgezeigt wird, wo sich
die Intensive Short-Term Dynamic Psychotherapy (ISTDP) im Kanon der
klassischen Psychoanalyse situiert bzw. wo sie abweicht. Die
wichtigsten Punkte sind optisch hervorgehoben und in Merksätzen
zusammengefaßt. Schematische Darstellungen veranschaulichen zudem
die theoretischen Ausführungen. Zum Verständnis der Theorie sind
jeweils entsprechende Therapiesequenzen angeführt, die als
Vignetten bezeichnet sind. Ein Leser, der sich schnell einen
Einblick verschaffen will, kann sich daran orientieren.
Im ersten Kapitel werden anthropologische Grundannahmen
verschiedener Disziplinen erörtert. Die Intensive Short-Term
Dynamic Psychotherapie (ISTDP) baut Theorie und Praxis auf der
dialogischen Prämisse auf, daß das Ich nur existieren kann, indem
es auf ein Du bezogen ist. Die Entwicklung einer Persönlichkeit
wird demzufolge durch Bindungen an andere Menschen ausgestaltet. In
diesem Sinne sind psychische Störungen als Beziehungsstörungen zu
betrachten. Von praktischem Nutzen für jeden Therapeuten sind die
grundlegenden Ausführungen zu Angst und Widerständen und der damit
einhergehenden unterschiedlichen therapeutischen
Vorgehensweisen.
Als wichtigstes therapeutisches Mittel arbeitet die ISTDP – im
Gegensatz zu den herkömmlichen Therapien – mit Druck. In kurzen
Therapieausschnitten wird aufgezeigt, wie ein ISTDP-Therapeut damit
Widerstände herausfordert, um so möglichst rasch die geforderte
unbewußte Allianz des Patienten mit dem Therapeuten zu erlangen.
Die aktive Mitarbeit des Therapeuten besteht in einer äußerst
subtilen Begleitung des Patienten, indem er den Fokus auf die
therapeutische Beziehung beibehält und sich nicht durch
Abwehrmechanismen ablenken läßt. Dies ermöglicht es dem Patienten,
zu seinen Primärgefühlen vorzustoßen, seine innersten Geheimnisse
zu offenbaren.
Das körperliche Erleben von Wut, Trauer, Schmerz, Schuld und Liebe
bewirkt Befreiung und Versöhnung mit seinen primären
Beziehungspersonen. Indem der Patient seine Gefühle körperlich
erlebt, nimmt er gleichzeitig Kontakt zu seinem Unbewußten auf und
erfährt, daß das, was er eigentlich schon lange gewußt oder
zumindest geahnt hat, nun auch sein darf. Gefühle, insbesondere
gewalttätige, die in der Kindheit aus existentiellen Gründen nicht
wahr sein durften und deshalb verdrängt bzw. unterdrückt wurden,
dürfen sein und verlieren dadurch ihre bedrohliche Kraft. Dies
befreit den Patienten von schuldbeladenen Meinungen über sich
selbst, und selbstdestruktive Handlungen, die sein bisheriges Leben
unbewußt geleitet haben, werden für ihn hinfällig. Neue
Lebensperspektiven eröffnen sich.
Was hier verkürzt und vereinfacht dargestellt ist, wird im Lehrbuch
ausführlich behandelt. Aus den Kapiteln Kasuistik und Merkmale der
Therapieverläufe geht eines hervor: Beim Autor muß es sich um einen
sachkundigen, kompetenten und feinfühligen Therapeuten handeln.
Seine Sorgfalt und seine hohe Achtung gegenüber der Autonomie
seiner Patienten ist zwischen den Zeilen zu lesen. Das bringt es
mit sich, daß dieses Lehrbuch auch für Therapeuten anderer Schulen
als ein wichtiger wissenschaftlicher Beitrag zur Therapieforschung
ernst genommen werden muß.
In Troendles Schlußkapitel wird die Ausbildung zum
ISTDP-Therapeuten angesprochen. Eindrücklich auch hier, wie
zukünftige Therapeuten auf eigene Fehler und Begrenzungen
aufmerksam gemacht werden.
Für die Redlichkeit des Autors spricht, daß er die ISTDP nicht als
neue Heilslehre in den Kampf um die Vorherrschaft des richtigen
Wegs schickt. Als Co-Autor setzt sich Heiner Lachenmeier kritisch
mit dieser Therapieform und deren Entwicklung auseinander. Die
Offenheit, mit der beide Autoren die Intensive Short-Term Dynamic
Psychotherapy zur wissenschaftlichen Diskussion stellen, würde auch
anderen Therapieschulen gut anstehen.
Dieses Buch läßt aufhorchen. Es bietet einen Schulen übergreifenden
Beitrag zur Diskussion der Therapiewirksamkeit.