Rezension zu Bindung - Trauma - Prävention

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Rezension von Prof. Dr. med. Cornelia Krause-Girth

Herausgeberin und Herausgeber
Die beiden Herausgeber und Autoren Matthias Franz und Beate West-Leuer sind u.a. an der Heinrich-Heine.Universität Düsseldorf tätig – er als Universitätsprofessor und stellvertretender Direktor des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, sie als Lehrbeauftragte – und im Vorstand des Instituts für seelische Gesundheit Düsseldorf. Das Buch geht auf eine von beiden Einrichtungen ausgerichtete Fachtagung in Düsseldorf zurück und lässt namhafte ausgewiesene Experten zum Thema Bindung, Trauma, Prävention zu Wort kommen.

Aufbau
Das Buch ist in 2 Abschnitte gegliedert:
- Im ersten Teil »Frühe Bindung und Psychische Entwicklung« werden theoretische neurowissenschaftliche und entwicklungspsychologische Grundlagen einer bindungsorientierten Prävention dargelegt,
- im zweiten Teil »Vorraussetzungen und Möglichkeiten bindungs- und emotionsorientierter Prävention« sowie konkrete Modelle und spezifische Adressaten präventiver Ansätze.

Erster Teil
Ursachen und Folgen frühkindlicher Belastungen aus neurowissenschaftlicher, bindungstheoretischer, psychoanalytischer und sozialepidemiologischer Sicht sind Gegenstand der ersten fünf grundlegenden Beiträge zur Begründung bindungsorientierter Prävention sowie gesellschaftspolitischen Konsequenzen für Prävention.

Matthias Franz beschreibt neurowissenschaftliche und entwicklungspsychologische Grundlagen der Affektregulation – vom Affekt zum Gefühl und Mitgefühl – in den ersten Lebensjahren durch die Interaktion des Kindes mit den Eltern (oder seinen wichtigsten Bindungspersonen). Entscheidende Voraussetzung für eine gesunde neuronale Entwicklung, Stressverarbeitung, emotionale Wahrnehmungsfähigkeit und Beziehungsregulation ist die Existenz sicherer zwischenmenschlicher Bindungen. Die Langzeitfolgen andauernder psychosozialer Belastungen wie Vernachlässigung und Missbrauch auf das Stress verarbeitende System zeigen sich in Form lebenslang erniedrigter Angst- und Stressschwellen, gestörter emotionaler Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, Beziehungskonflikten, was schon bei Kindern häufiger zu sozialen Beeinträchtigungen und gesundheitlichem Risikoverhalten führt und später oft mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen einhergeht. Präventiv müsste schon im Vorschulalter das emotionale Lernen im Rahmen einer »bindungs- und emotionszentrierten Didaktik und Pädagogik« durch sozialpädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten und Grundschulen stärkere Förderung erfahren.
Gabriele Gloger-Tippelt fasst die Grundlagen der Bindungsforschung, ihre Erhebungsmethoden in der Kindheit und die Auswirkungen von Bindungsqualitäten auf das Sozialverhalten zusammen und geht insbesondere auf die Untersuchungen zur Weitergabe von Bindungsmustern über die Generationen und die Erklärungsansätze von Transmissionslücken ein, und liefert damit die Begründung universeller, primärer, sekundärer und tertiärer bindungsorientierter Präventionsansätze.

Der Psychoanalytiker Mathias Hirsch stellt die Verbindung zwischen den subtilen oder massiven Traumatisierungen von Kindern in ihren Familien, deren psychodynamischen Folgen und dem späteren Auftreten zahlreicher psychischer Störungen und Gewaltformen unter Erwachsenen her. Dabei gibt er einen Überblick über verschiedene Traumatypen: frühe und späte, traumatische Entwicklungsstörungen, silent trauma, kumulatives Trauma, attachment trauma, Mutter- Trauma, Vater-Trauma und deren psychoanalytische Konzeptualisierungen und Wirkungen auf die psychische Entwicklung von Affektkontrolle, Empathie, Körper-Selbst, Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit.
Der Medizin-Soziologe Johannes Siegrist lenkt den Blick auf die gesundheitlichen Folgen sozialer Ungleichheit und belegt eindrucksvoll exemplarisch, dass die soziale Lage von Geburt an einen entscheidenden Einfluss auf Lebenserwartung und Gesundheit hat. Er differenziert gesundheitspolitische Forderungen für die Prävention in den Bereichen Schwangerschaft und frühe Kindheit, Vorschul- und Schulkinder und regionaler Sozial- und Gesundheitspolitik.

Jochen Hardt kommt nach Analyse empirischer Untersuchungen bindungsorientierter Präventionsansätze zu dem Ergebnis, dass frühe Interventionen auf Seiten der Eltern und Kinder Erfolge zeigen, kommt aber zu dem ernüchternden Ergebnis, dass in Deutschland ein gravierenden Mangel an wissenschaftlicher Evidenz für Präventionsmassnahmen besteht.

Zweiter Teil
Im 2. Teil des Buches werden an den Bindungs- und Entwicklungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen orientierte präventive Ansätze (Franz und West-Leuer 2008, 10) konkretisiert.

Karl Heinz Brisch stellt vor dem Hintergrund der Entwicklung von Bindungsstörungen, die das Kindswohl gefährden können, vor wie nicht nur Bindungssicherheit und Empathiefähigkeit von Eltern durch das primär präventiv ausgerichtete Programm für werdende Eltern SAFE- Sichere Ausbildung für Eltern – verbessert werden kann – sondern zusätzlich Diagnostik und Therapie von unverarbeiteten Traumen der Eltern möglich ist. Das Programm BASE – Babywatching gegen Aggression und Angst zur Förderung von Sensitivität und Empathie dient der sekundären Prävention von Verhaltensstörungen bei Vorschul- und Grundschulkindern.

Das inzwischen weit verbreitete Programm »Faustlos« zur Gewaltprävention kann – wie die von Bowi, Ott und Tress vorgestellte Evaluationsstudie zeigt, aggressive Verhaltensweisen bei Grundschulkindern vermindern und die Empathiefähigkeit vergrößern.
Wenn Symptome von Kindern als Hilferufe verstanden und in einer Psychoanalytischen Kinderanalyse oder Psychotherapie erfolgreich behandelt werden, so ist dies eine wirksame Prävention schwerer psychischer Erkrankungen, insbesondere auch Suchterkrankungen. Die beiden Kinderanalytikerinnen Renate Gaspar und Ulrike Hadrich verdeutlichen die psychoanalytischen Ansätze zum Verstehen und Behandeln von Suchterkrankungen anschaulich illustriert durch Fallbeispiele.

Das von Eberhardt Motzkau zusammengefasste Wissen über körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung von Kindern, Risikofaktoren und die Psychodynamik bei Opfern, Tätern und Helfenden unterstreicht die Notwendigkeit frühzeitiger multiprofessioneller Zusammenarbeit.

Kinder drogenabhängiger Mütter haben ein erhöhtes Risiko psychische Störungen schon im Kleinkind bis Schulalter und später selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. Wie für psychisch kranken Müttern allgemein gibt es für suchtkranke Mütter und deren Säuglinge kaum Versorgungsangebote. Die naturalistische Studie von Alexander Trost zeigt die besonderen Probleme in der Mutter-Kind-Beziehung und die Ansatzpunkte effektiver präventiver interdisziplinärer Hilfeangebote zur Stabilisierung der meist überaus instabilen unsicheren Mutter-Kind Bindung.

Die Selbstbilder jugendlicher Raucherinnen und Raucher angefertigt im Rahmen eines Präventionsprojekts zum Nikotinkonsum an Düsseldorfer Schulen werden von Beate West-Leuer bindungstheoretisch und geschlechtsspezifisch interpretiert und geben damit wichtige Hinweise für hier genau dort ansetzende Präventionsangebote.

Die spezifischen gesundheitlichen und sozialen Risiken allein erziehender Mütter und die Folgen für die Kinder gehen – laut der Düsseldorfer Alleinerziehenden Studie von Matthias Franz u.a. – einher mit einem intensiven Unterstützungs- und Hilfewunsch. Das bindungsorientierte Elterntraining PALME ermöglicht emotionales Lernen und konstruktive Veränderungen zwischen den teilnehmenden Müttern und ihren Kindern swie eine Senkung ihrer psychischen Gesamtbelastung. Leider kommen nur wenige Alleinerziehende in den Genuss solcher Programme.

Diskussion
Wie lassen sich die Bindungs- und Entwicklungsbedürfnisse von gefährdeten oder belasteten Kindern schützen und gewährleisten, wie können sie vor Verletzungen bewahrt werden? Diese Fragestellung liegt dem vorliegenden Buch zugrunde. Hervorragend ist schon im 1. Teil die Verbindung von theoretischen Grundlagen mit den Konsequenzen für die Prävention. Grundlagenforscher befassen sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Erkenntnisse und schlagen den Bogen von der Theorie zur Praxis. Der Schwerpunkt liegt in der Beschreibung traumatisierender Beziehungserfahrungen und einer bindungsorientierten Frühprävention. Auch dem bindungstheoretisch nicht versierten Leser werden die Grundlagen zum Erkennen und Verstehen der Auswirkungen pathologischer Beziehungs- und Bindungserfahrungen deutlich und die Relevanz genau dort ansetzender Prävention. Allerdings wird auch deutlich, dass es einer interdisziplinären Kooperation von Professionellen im Gesundheits-, Sozial und Bildungsbereich bedarf, um belastete Kinder und Eltern flächendeckend erreichen zu können.

Der 2. Teil zeigt exemplarisch, dass und wie bindungsorientierte Prävention möglich ist und wie bessere Beziehungserfahrungen (auch der Mütter) die Entwicklungschancen von Kindern vergrößern können. Umso erschreckender ist die mangelnde Verbreitung dieser Art präventiver Arbeit in der Praxis.

Fazit
Das Buch bietet wissenschaftliche Grundlagen und in der Praxis evaluierte Ansätze für eine hochrelevante gesundheitspolitische Debatte über die mögliche bindungsorientierte Prävention häufig beklagter Traumatisierungen im Kindesalter, die allen damit befassten Berufsgruppen wertvolle Anregungen bietet. Dem Buch ist eine breite Rezeption zu wünschen, damit die frühzeitige wirksame interdisziplinäre Prävention psychischer Probleme nicht weiterhin die Ausnahme bleibt, sondern zunehmend in die Regelversorgung integriert wird.

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