Rezension zu Tabuzonen der Frauen- und Männergesundheit
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Rezension von Mario Paul
Wann ist der Mensch sexuell am aktivsten?
Was ist Harninkontinenz und wie ist dieses Thema heute
tabuisiert?
Warum ist kosmetische Genitalchirurgie bei Frauen das am
schnellsten wachsende Einsatzgebiet kosmetischer Chirurgie in den
USA?
Was ist Pädophilie?
Welche Verhaltenssüchte treten heutzutage am häufigsten auf?
Die Autoren nehmen sich vor, wie sie im Vorwort angeben, mit dem
vorliegenden Buch »ein spannendes aber auch hoch bedeutsames
Themenfeld der Medizinischen Psychologie – tabuisierte Bereiche der
Frauen- und Männergesundheit- « aufzugreifen. Oben ausgewählte
Fragen sind nur wenige Beispiele der in dem vorliegenden Buch zu
erwartenden äußerst unterhaltsamen und zugleich aufklärenden
Themengebiete. Da ich bisher annähernd nichts zu dem hier
behandelten Stoff gelesen habe, bin ich mit großer Erwartung und
Spannung an die Lektüre herangegangen. Auch wenn man gründlicher
sucht, wird man kaum Literatur zum vorliegenden Stoff finden, was
eigentlich sehr schade ist, zumal die Behandlung der vorliegenden
Themen für den Einzelnen nicht nur aufklärend sind, sondern auch
für die Gesamtheit eben gegen die Tabuisierung wirksam sind und
damit beispielsweise zum Teil eine erhebliche Steigerung der
Lebensqualität der Betroffenen zu Folge hätten.
Schon im Vorwort wird angesprochen, worum es hier gehen soll.
Tabuisiert sind heutzutage (immer noch) Bereiche wie die Probleme,
die in irgendeiner Weise mit dem Genital- und Analbereich
zusammenhängen, aber auch bestimmte Körperteile – auch entstellte
und solche, die normativ von den gesellschaftlichen Vorstellungen
abweichen- und bestimmte Körperfunktionen, um nur einen kleinen
Teil dieses Bereichs anzuschneiden. Schon das Sprechen darüber ist
schambehaftet, selbst vor Ärzten, denen man sich eigentlich
anvertrauen sollte; denn dort wird oft eine gewisse
Peinlichkeitsgrenze überschritten und ein Eindringen in die
individuelle Intimsphäre erfahren.
Sehr interessant sind meiner Meinung nach die gewählten Themen
dieses Bandes und gleichzeitig die Tatsache, dass jedes einzelne
Thema hier von verschiedenen Autoren verfasst wurde, die sich
individuell und merklich intensiv mit dem jeweiligen Bereich
beschäftigt haben. Sehr überraschend ist es auch, dass zum
jeweiligen Stoff sehr viele Zitate und unterschiedlichste Literatur
herangezogen wurden, sodass die einzelnen Literaturverzeichnisse
meist zwischen zwei bis sogar beachtlichen vier Seiten reichen!
Dass sich das Wissen also auf viele weitere Fachbücher stützt,
erfreut den Leser, denn dadurch fühlt man sich sehr gut mit echtem
Fachwissen versorgt und kann gleichzeitig vieles über Auffassungen
und den Wissenstand in der Geschichte des jeweiligen Tabuthemas
erfahren.
Die Themen sind: Piercing und Tattoo, Herstellung von Weiblichkeit
mittels Genitalchirurgie, Scham und Menopause: Die Wechseljahre als
Phase des Wandels und Auslöser von Schamgefühlen, Maskulinität und
Maskulinitäten, Harninkontinenz beim Mann, Sexuelle Präferenz- und
Verhaltensstörungen, Störungen der sexuellen Funktionen unter
besonderer Berücksichtigung der Erektionsstörung, weibliche
Sexualität – Individuum und Kultur, Brustkrebserkrankung und
partnerschaftliche Sexualität, Verhaltenssucht bei Frauen, Männer
als Opfer von Gewalt – ein Tabuthema? .
Durchweg habe ich diese Kapitel mit Spannung gelesen und erstmalig
einen sehr informativen Einblick in sonst nicht alltägliche
Themengebiete erhalten. Ich möchte daher einige Themen anschneiden,
da mich vieles doch fasziniert hat.
Beim Thema »Piercing und Tattoo« geht es erstmal allgemein um
Körpermodifikationen (KM), welche sehr vielfältig sein können und
daher auch ausführlich aufgeführt werden. Interessant ist dabei
auch deren Geschichte. Woher kommt der Wille, seinen Körper
umzugestalten? Wie ändert sich das Körperbild heute? Es wird
angesprochen, dass der Körper immer mehr zu einem individuell
veränderbaren Kulturprodukt wird. Dann wird versucht, die
Hintergründe für KM zu finden und es wird außerdem eine Relation zu
verschiedenen Bevölkerungsgruppen und soziodemografischen Faktoren
hergestellt. Dabei werden verschiedene Befragungsmethoden der
Personengruppen vorgestellt und wie oben beschrieben immer wieder
Hintergrundwissen älterer Werke zu dem Thema eingebracht. Wie sehr
ist der Wille zu KM geschlechtsabhängig? Wie ist die
Altersabhängigkeit von KM? Hat z.B. das Leben in Partnerschaft, die
Zugehörigkeit zu einer Religion oder die Arbeitssituation Einfluss
auf die Häufigkeit von Tattoos oder Piercings? Stehen psychische
Probleme und Erfahrungen mit Gewalt damit in Zusammenhang?
Beispielhaft werden weitere Faktoren diskutiert.
Beim Thema »Herstellung von Weiblichkeit mittels Genitalchirurgie
gestern und heute aus medizinpsychologischer Perspektive« geht es,
wie das Thema schon vermuten lässt, auch um den rasanten Zuwachs
des weiblichen Wunsches nach kosmetischer Perfektion ihrer
Genitalbereiche. Hier werden unterschiedliche chirurgische
Eingriffsmöglichkeiten genannt und erläutert sowie deren
Häufigkeitsverteilung mit Studien untermauert. Wieder sind
historische Hintergründe hierzu sehr interessant, wie zum Beispiel,
dass die Entfernung der Klitoris um 1866 beispielsweise in London
Gang und Gäbe war und wie dieser Eingriff mit dem Ziel der
Veränderung der weiblichen Psyche nach der Reflextheorie verknüpft
war, wohingegen heute mit der Verbesserung des weiblichen
Lustempfindens durch kosmetische Genitalchirurgie geworben wird,
und das selbst an Hamburger Bahnhöfen!
Das Thema »Harninkontinenz beim Mann« wird erstmal allgemein
erläutert, um auch dem Nicht-Mediziner einen fachlichen Einblick zu
geben und gleichzeitig über dieses sehr häufig auftretende und
nicht unbedingt nur altersabhängige Problem aufzuklären, denn auch
hier existieren heute immer noch Tabus. Warum das so ist, warum
nicht darüber gesprochen wird, wird hier zu erläutern versucht. Wie
sich mit Harninkontinenz das Bild des Mannes, die Psyche, das Leben
verändert, wird eindrucksvoll dargelegt und abschließend
Möglichkeiten zur Verbesserung der durch dieses Problem häufig
eingeschränkten Lebensqualität angeführt. Dass auch hier die Scham
unbegründet ist und man darüber häufiger sprechen sollte, wird
hilfreich kommuniziert.
Äußerst interessant fand ich auch die Aufklärung zu sexuellen
Präferenz- und Verhaltensstörungen. Was ist Pädophilie? Was ist der
Unterschied zur Pädosexualität? Fatale Folgen der Gleichsetzung
dieser Begriffe werden angeführt und geben ein neues Verständnis
für die Betroffenen. Des Weiteren werden Themen wie Stalking und
sexueller Missbrauch erläutert und es werden verschiedene
Klassifikationssysteme diskutiert inklusive deren Vor- und
Nachteile unter Berücksichtigung des heutigen Wissensstandes
sexualmedizinischer Betrachtung.
Weiterhin sehr aufschlussreich sind Themen wie Erektionsstörung und
ihre (psychischen) Folgen heutzutage. Lobenswert finde ich die
Kritik an Begriffsunterscheidungen bezüglich Störung und
Beeinträchtigung der Erektion und wie diese Begrifflichkeiten in
verschiedenen Studien vermischt werden, was eine teilweise
Unvergleichbarkeit von statistischen Untersuchungen zur Folge
hat.
Andere Fragestellungen, die das Buch stellt und meist auch
fachgerecht beantwortet sind beispielsweise:
Wann ist der Mensch sexuell am aktivsten? Hängt das damit zusammen,
wann die Reproduktionsfunktion am besten ist? Wie und wann hat sich
die Vorstellung von Sexualität in der modernen Zeit grundlegend
verändert (sexuelle Revolution 1968)? Wie kann man Sexualität in
Ost und West vergleichen bzw. gibt es immer noch Unterschiede in
der Sexualität, so wie kurz nach dem Mauerfall?
Leider kann ich nicht alle Themen erläutern und ich muss einräumen,
dass ich definitiv von keinem der Fachartikel enttäuscht war. Durch
jeden einzelnen konnte ich andere Sichtweisen durch interessante
Fakten und gleichfalls Hintergrundinformationen zu geschichtlichen
Zusammenhängen gewinnen. Außerdem möchte ich anderen interessierten
Lesern den Lesespaß lassen und hoffe Neugier geweckt zu haben.
Lektüren wie diese ernten meinen vollen Respekt, da sie sich mit
Themen beschäftigen, die angesprochen werden sollten, da Tabus in
diesem Kontext auch gesundheitlich stark einschränken können, wenn
man sie nicht oder nur unzureichend kommuniziert.
Dieses Buch eignet sich nicht nur für Leute aus dem Fach, sondern
für alle Interessierten und gerade das Offenlegen von tabuisierten
Bereichen, die auch heute noch zahlreich vorhanden sind, ist
hiermit sehr gut gelungen und meiner Meinung nach äußerst
wichtig.
Aus diesem Grund kann ich das vorliegende Buch in jedem Fall
weiterempfehlen und wünsche mir für die Zukunft mehr Literatur zu
diesen Themengebieten.
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