Rezension zu Wenn Kinder Völkermord überleben
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Rezension von Dr. Jos. Schnurer
Mit dem Überleben weiter machen
Traumatische Erlebnisse, insbesondere wenn sie auf Kriegsgräuel und
Genozid zurückgehen, hinterlassen vor allem bei Kindern und
Jugendlichen, die die Ereignisse in jungen Jahren miterlebt haben,
oder die sich als Erinnerung in ihrem Gedächtnis festsetzen, in
besonderer Weise Schwierigkeiten zur Bewältigung ihres Lebens. Aus
den entsetzlichen Völkermorden, die sich in der Geschichte der
Menschheit ereignet haben, sind sicherlich zwei von besonderer
Bedeutung: Die Shoah und der Völkermord in Ruanda. Sie sind in das
historische Tagebuch eingraviert vor allem deshalb, weil beide
Genozide an Menschen begangen wurden, die einer von der
bestimmenden Mehrheit und ihrer Ideologie abweichenden Ethnie
angehörten und deshalb vernichtet wurden. Darüber, wie diese
Verbrechen an der Menschlichkeit im Gedächtnis der Völker
aufbewahrt und die Taten erklärbar gemacht werden können, sind
viele Analysen, Erklärungsversuche und Studien erschienen. Die
Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität
in Gießen gilt in Deutschland als die wissenschaftliche
Einrichtung, die die erschienenen Veröffentlichungen sammelt,
klassifiziert und bewertet. Von besonderer Bedeutung bei der
Auseinandersetzung mit Genozid sind dabei zum einen die
Aufbewahrung der Erinnerung an die Taten, zum zweiten die
gesellschaftliche Vermittlung (vgl. dazu auch: Board of Education
of the City of New York, The Holocaust. A Study of Genocide, 1979,
587 S.) und zum dritten den direkt Betroffenen und ihren
Überlebenden professionelle Hilfe zur Verfügung zu stellen.
Autorin
Die schwedische Erziehungswissenschaftlerin, praktizierende
Psychologin und Psychoanalytikerin, sowie Lehrbeauftragte an der
Universität Uppsala, Suzanne Kaplan, beschäftigt sich seit langem
mit der Frage, wie Menschen, die als Kinder und in familiären
Zusammenhängen die Shoah und Völkermorde erlebt haben, dieses
Grauen verarbeiten, an ihm leiden und damit nicht fertig werden.
Ihr Interesse an der Thematik wird verstärkt dadurch, dass sie
selbst in der Familie Holocaust-Opfer und -Überlebende hatte.
Zusammen mit ihrem Mann, den Arzt, Psychoanalytiker und Autor Tomas
Böhm, hat sie 2009 ebenfalls im Psychosozial-Verlag das Buch
»Rache. Zur Psychodynamik einer unheimlichen Lust und ihrer
Zähmung« veröffentlicht.
Aufbau und Inhalt
Als Psychoanalytikerin hat Suzanne Kaplan in ihrer Arbeit wie als
Koordinatorin und Interviewerin des internationalen
Dokumentationsprojektes des Shoah Foundation Institute for Visual
History and Education in Los Angeles – USA und ihrer
Forschungstätigkeit zum psychischen Trauma am Department of
Education an der Universität von Stockholm, immer wieder Menschen
getroffen, deren Lebensschicksale und -probleme im Alltagshandeln
wie in den Krankheitsbildern eng mit den Erfahrungen und
Erinnerungen an die Schreckenszeiten verbunden sind, die sich zu
Traumata in verschiedenen Formen entwickelt haben. Ein bedeutsames
Phänomen zeigt sich z. B. darin, dass ein Genozid Prozesse bewirkt,
die sich als »Generationenzerfall« und damit als Unterbrechung der
familialen, Kommunikations- und Gefühlsstrukturen verdeutlichen.
Die Autorin gliedert in Buch in vier Teile: Den ersten Teil
»Überlebende Kinder interviewen«, mit den Kapiteln »Kontakte«,
»Kriegserlebnisse von Kindern aus psychoanalytischer Perspekte«,
»Überleben als Kind und die Geburt eigener Kinder«; den zweiten
»Was wird kommuniziert?« mit »Analyse von Traumata in
Lebensgeschichten«, »Kinder während der Shoah« und »Völkermord in
Ruanda«. Im dritten Teil fragt die Autorin »Wie werden Erinnerungen
abgerufen?«, indem sie anhand von Fallbeispielen die Erinnerungen
von Jungen darstellt und analysiert. Im vierten Teil fokussiert sie
die Ergebnisse ihrer Resilienzforschung in ihrem theoretischen
Modell des »Affektpropellers« und wendet die dort dargestellten
Prozesse der Affektregulierung, als »zentrales Organisationsprinzip
der menschlichen Entwicklung und Motivation«, auf die
therapeutische, klinische und pädagogische Arbeit an.
Schauen wir uns das Konzept des »Affektpropellers«, als einen neuen
Zugang zur Analyse und Therapie von traumabezogenen Affekten, etwas
näher an: Das viergegliederte, jeweils dreigefächerte, aus dem
»Affektdiagramm« entwickelte Modell, soll den dynamischen Prozess
verdeutlichen, der in unterschiedlichen Ebenen und Ausdrucksformen
bei der Traumabindung, der Affektaktivierung, -symbolisierung,
-einströmung und -isolierung, abläuft. Die notwendige
Konzeptualisierung bietet im Behandlungsablauf die Möglichkeit,
»als analytisches Instrument genutzt (zu) werden, um den
gegenwärtigen Fokus der Affektregulierung eines Individuums als
Teil des traumatischen Prozesses zu verstehen«. Weil »Erinnerungen
nicht als etwas Statisches gespeichert werden, sondern als etwas
Veränderliches«, deshalb bedarf es bei der Analyse der Erzählung
einer differenzierten Betrachtung von situativen, räumlichen und
zeitlichen Situationen und die Erkenntnis, dass »ein Außenstehender
... die Geschichte unserer affektiven Erlebnisse kennen muss, aber
auch, wie das Gedächtnis die Aufnahme aktueller Emotionen
beeinflusst« (D .I. Nathanson, 1992).
Fazit
Die Lebensgeschichten, die von Überlebenden erzählt werden, die
während der Shoah und des Völkermords in Ruanda 1994 Kinder waren,
machen deutlich, dass die auftretenden und meist ein Leben lang
andauernden, komplexen psychischen Prozesse bei Traumatisierungen
einer »Perforierung« bedürfen, von Situationen, »von denen wir uns
nicht vorstellen können, sie selbst zu erleben«. In der
praktischen, psychologischen, pädagogischen und therapeutischen
Arbeit geht es dann im wesentlichen darum, dem Selbstbild des
traumatisierten Menschen »Raum zu schaffen«, nämlich »einen
psychischen Raum für alle Arten von Gedanken« zu ermöglichen, von
Rachegefühlen bis hin zur Vermittlung von Kompetenzen, seine
Einstellungen zu seiner Lebenswelt zu verändern. Eine wesentliche
Erkenntnis bereichert und ergänzt die bisherigen theoretischen und
praktischen Konzepte zur Traumaforschung: »Frühere traumatische
Erfahrungen (werden) nicht als Erinnerungen im eigentlichen Sinne
des Wortes zurückerlagt ( ), sondern als Affekte, die in die
Gegenwart einströmen«. Das als Anlage vollständig abgedruckte
Interview mit der 1931 in Lublin – Polen geborenen »Emilia«, die
die Shoah als Kind erlebt hat, gibt denjenigen, die Suzanne Kaplans
Forschungsarbeiten nachvollziehen und davon profitieren wollen,
gute Einblicke in die dabei benutzten Analyseverfahren und
angewandten Methoden.
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