Rezension zu Affektregulation und Sinnfindung in der Psychotherapie
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Rezension von Gerald Mackenthun
Körperpsychotherapie hat es nicht in die Liste der von
Krankenkassen bezahlten Therapiemethoden gebracht, spielt aber als
Fortbildungsangebot für approbierte Ärzte und Psychologen eine
zunehmende Rolle. Versucht wird, der Anschauung von der
untrennbaren Einheit von Geist, Seele und Körper gerecht zu werden.
Die dabei angewandten Verfahren sind fast alle tiefenpsychologisch
orientiert, gehen also von der Grundannahme eines Unbewussten im
Menschen aus, unterscheiden sich aber oftmals erheblich in ihrem
konkreten Vorgehen. Der Sammelband »Affektregulation und
Sinnfindung in der Psychotherapie« vereint 13 qualitativ recht
unterschiedliche Aufsätze von Krankenhausärzten und
niedergelassenen Psychotherapeuten aus dem Köln-Bonner Raum. Anders
als der Titel vermuten lässt, befassen sie sich mit den Grundlagen
und der Anwendung von Körperpsychotherapie, ohne sich thematisch
allzu sehr einengen zu lassen. Herausgeber sind Sabine
Trautmann-Voigt und Bernd Voigt, sie Psychologische Therapeutin und
er Facharzt für psychotherapeutische Medizin, beide erfahren in
Körper- und Tanztherapie. Körperorientierte Verfahren beziehen ihre
Legitimation aus dem Umstand, dass nichts Menschliches ohne den
Körper stattfindet. Zusätzlichen Schwung erhalten sie über die
aktuelle neurologische Forschung und die explosionsartig
anwachsenden Erkenntnisse aus der Hirnforschung. Auch das Gehirn
ist Körper. Körperpsychotherapeuten sind von der Entdeckung der
Spiegelneuronen genauso elektrisiert wie alle übrigen Psychologen.
Intersubjektivität erlaubt gemeinsames Handeln, beispielsweise sich
synchron zu bewegen beim
Tanz. Diese Fähigkeit muss, wie fast alles andere Menschliche auch,
angeregt, gelernt und immer wieder geübt werden. Man kann die These
aufstellen: je besser die Spiegelneuronen trainiert sind, desto
größer das Repertoire zur Bewältigung von Lebenssituationen.
Doch bloße Aktivität im Gehirn offenbart noch keine Inhalte. Darauf
macht Bernd Kuck in einem Aufsatz über den »Sinn des Lebens« bei
Alfred Adler aufmerksam. Wenn die Psychologie profitiert, dann
nicht nur von der Neurobiologie, sondern mehr noch von der
Philosophie, genauer gesagt von einer philosophischen Anthropologie
(die selbstverständlich die Forschungsergebnisse der
Naturwissenschaften mitberücksichtigt). Dazu habe Adler dezidierte
Antworten gegeben, und Autor Kuck selbst erfüllt souverän die
Forderung nach einer philosophischen Anthropologie. So ist zum
Beispiel die Benutzung des Begriffs Holon (Ganzheit) geeignet uns
verstehen zu lassen, warum ein Gehirn nicht denken kann, wohl aber
der Mensch, wiederum jedoch nicht eine Gemeinschaft oder eine
Gesellschaft. Damit wird auch klar, dass sich nicht »die Natur«
oder »das Leben« die Sinnfrage stellen kann, sondern nur der
einzelne Mensch und schon nicht mehr ein anderes Säugetier.
In einer heute nicht mehr vertretbaren Weise extrahierten Alfred
Adler und die frühe Individualpsychologie den Sinn des menschlichen
Lebens aus dem »kosmischen Gesetz« der Sozialität. Adler sah den
Sinn des Lebens in einem gemeinschaftlichen Leben und in der
Vervollkommnung jedes einzelnen Individuums. Kuck hält diese
Sichtweise zu Recht für nicht mehr befriedigend. Die Evolution
kennt keinen Zweck und kein Ziel. Das Gemeinschaftsgefühl als
leitende Fiktion kann sich also nur der Mensch ausgedacht haben.
Sozialinteresse und Solidarität können richtungsweisende
Handlungsaufforderungen sein, sie sind aber nicht die einzig
wirksamen Handlungsmaximen im Menschen, sondern stehen
antagonistisch zur Personalität, zur Individuation und zur
zweckfreien Wissenschaft und Kunst.
Emotionen sind extrem körpernah, betont der Psychologe Frank van
Well in seinem Beitrag. Indem ich auf meine körperlichen Reaktionen
achte, kann ich meine bewusste Wahrnehmung von Emotionen schulen
und verifizieren. Und man kann Emotionen durch Körperveränderungen
in Atmung, Tanz, Bewegung, Autogenem Training usw. beeinflussen.
Dazu zieht er die Berliner Gestalttheorie, die Leipziger
Ganzheitspsychologie, die neuere neurologische Forschung, den
neuropsychoanalytischen Ansatz von M. Solms und S. Freud heran, um
schließlich bei Greenbergs emotionsfokussierter Therapie zu landen.
Das bestätigt leider nur, dass Freud einen
mathematisch-energetischen Ansatz verfolgte, der zwar von der
Neurobiologie bestätigt wird, aber schon vor Jahrzehnten als
ungeeignet zum Verständnis der Psyche bezeichnet wurde. Jedenfalls
wird vom Autor noch einmal hervorgehoben, dass ein Großteil des
Verhaltens unbewusst ist, dass alles Erleben und Verhalten
überdeterminiert ist, dass jede Situation vom Gehirn organisiert
(und nicht nur einfach abgebildet) wird, und dass jeder Bestandteil
der psychischen Struktur einen aktuellen Anlass braucht, um sich
verwirklichen zu können.
Grundlage aller Selbstregulierung ist das Erkennen von Affekten
sowie ihre rasche Bewertung. Wohltuende und wohlmeinenden Affekte
werden als gut beziehungsweise positiv klassifiziert, schädigende
und Schmerzen bereitende als schlecht beziehungsweise negativ. Die
Bewertung als gut oder schlecht ist allerdings problematisch,
betont Marianne Eberhard-Kaechele, da alle Affekte
evolutionsrelevante und somit lebensnotwendige Funktionen haben.
Ein negatives Gefühl wie Wut hat eine ebenso starke Signalwirkung
wie ein gutes Gefühl. Dauerhafte negative Emotionen sind anders zu
bewerten als kurzzeitige Affekte. Blockierte negative Gefühle
sollen in der Therapie zwar ermöglicht, aber auch begrenzt und
durch positive Affekte ausgeglichen werden.
Die bloße Reproduktion von negativen Affekten in der Tanztherapie,
die zur großen Gruppe der Körperpsychotherapieverfahren zählt,
wurde bald aufgegeben, weil die Wiederholung zu schnell zu stark in
eine Verstetigung führte. Selbstbeobachtung und Reflektion auf der
Basis der Körpererfahrung wurden wichtiger. Der »innere Zeuge«
ermöglicht Selbstregulation. Die Pionierin der Tanztherapie, Liljan
Espenak, fand in der Kulturgeschichte des Tanzes therapeutische
Interventionen zur Förderung der Affektregulation. Ekstase, Trance,
Katharsis, Beschwörung, Verkleidung, Disziplin, Bewusstheit, Ritus,
Selbstkontrolle, Freiheit und Spontaneität – alles lässt sich durch
Tanz ausdrücken und spielt in der Tanztherapie auf die eine oder
andere Art eine Rolle. Das Primat der Sprache löst sich auf. Das
ganze Repertoire der Möglichkeiten wird von der Autorin Marianne
Eberhard-Kaechele kenntnisreich ausgebreitet.
Körperliches Erleben kann in praktisch allen Psychotherapienformen
mit herangezogen werden, natürlich auch in der Traumabehandlung
(Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt). Die Fühl-, Denk- und
Handlungsblockaden in der posttraumatischen Belastungsstörung sind
ja mit den Händen zu greifen. Die beiden Herausgeber des Buches
stellen in ihrem eigenen Beitrag Grundannahmen und praktische
Anwendungen ihrer multimodalen Trauma-Psychotherapie vor, die auf
der tiefenpsychologisch fundierten Tanztherapie beruht. Sie sind so
souverän zu betonen, dass es nicht eine Methode sein kann, die
hilft, mit traumatischen Erlebnissen besser leben zu können.
Vielmehr sollte das therapeutische Vorgehen an jeden Patienten
individuell angepasst werden. Ihre Leitidee ist: »Das Selbst ist
wie ein Haus mit vielen Türen, durchschreite die, die gerade offen
ist«.
Bei der Lektüre fällt an einigen Beiträgen (van Well, U. Sachsse,
R. Vogt) die sprachliche Verkomplizierung von eigentlich
alltäglichen Interaktionen auf. Die mehr oder weniger sinnvollen
Handlungsmuster werden mit einem neuen Vokabular belegt, von denen
der Alltagsverstand sagt, dass sie für die Kommunikation mit den
Patienten untauglich ist. Das gilt im Prinzip schon für die
Psychoanalyse. Wie gelingt denn eigentlich das Übersetzen dessen,
was vom Patienten erwartet wird, in dessen Sprache? Im Grunde geht
es um das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Affekten wie Wut
oder Angst. Warum bedarf es eines Inszenierens, eines
Mentalisierens, einer Vitalisierung, einer Reintegration, der
Sensibilisierung, der Körperselbstkontrolle, der Stabilisierung der
Körpergrenzen? Das kann man natürlich alles so benennen, aber hilft
es dem Patienten?
Das manchmal hohe theoretische Abstraktionsniveau steht im
verblüffenden Gegensatz zu der Begegnung eines Vaters und seines
Sohnes mit dem »Therapiehund« des Therapeuten Konrad Oelmann. Wenn
ich es recht verstehe, sind die »Inszenierungen« das, was andere
Rollenspiele nennen, oder handelt es sich hier um Provokationen?
Der therapeutische Prozess mag als Re-Inszenierung des unbewussten
Dramas definiert werden, aber sollte nicht die Frage diskutiert
werden, ob ein Patient dazu in der Lage und bereit ist?
In einer bioenergetischen Gruppe werden Rituale südamerikanischer
Indios aufgeführt. Der Grad an regressiver Selbstentäußerung ist
frappant. Die Erfahrungen in solchen Gruppen sind ohne Zweifel
beeindruckend. In Gruppen werden Beziehungsmuster schneller
deutlich als in Einzelgesprächen, das wusste schon Irvin Yalom.
Deutlich wird bei Oelmann anhand mehrerer Fallvignetten, wie die
dosierte Verwendung körperlicher Angebote sein analytisches und
tiefenpsychologisches Vorgehen sinnvoll ergänzen. Die einzelnen
Ingredienzien dieses Vorgehens werden immer neu gemixt und an die
Bedürfnisse des Patienten angepasst.
Die anschaulichen Fallbeispiele von Gabriele Oelmann führen direkt
hinein in den vielschichtigen Prozess körpertherapeutischer Arbeit.
Wichtig scheint zu sein, anschließend die körperliche Erfahrung zu
verbalisieren. G. Oelmann macht nicht den Fehler, Körpertherapie
als allein seligmachendes Verfahren zu preisen, vielmehr benennt
sie die möglichen Schattenseiten und Gefahren der
körpertherapeutischen Intervention. Interventionen machen einen
Sinn, wenn sie einen neuen oder zusätzlichen Zugang zu verdrängten
Affekten möglich machen.
Manchmal entsteht der Wunsch, diese Quälereien mögen aufhören.
Therapeuten appellieren dann zu schnell an die
Bewältigungsressourcen und an die Einsicht des Patienten. Die frühe
Individualpsychologie ist dafür ein gutes Beispiel. Eine
vorschnelle Harmonie kann von den verschütteten Wünschen nach Liebe
und Zuneigung wegführen. Dieser Prozess dauert lange, und die
Beispiele von Oelmann betreffen Patienten, die schon mindestens
eine »vollständige« Therapie hinter sich hatten und nach weiteren
Erfahrungen suchten. Affekte können zugelassen, unterbrochen oder
verstärkt werden. Die Stabilisierung des Ich scheint wichtiger zu
sein als die Durcharbeitung des Traumas, und manchmal sind
Therapien nicht lang genug, um zum zweiten Punkt zu kommen. Dabei
müssen manchmal schwierige Affekte ausgehalten werden. Gleichzeitig
muss vom Therapeuten erwartet werden, dass er in der Lage ist,
diese Affekte zu regulieren. Den Beitrag von Gabriele Oelmann halte
ich für den interessantesten und brauchbarsten des Buches.
Wie kann das Körperselbstbild und -erleben gemessen werden? Peter
Joraschky, Direktor der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik
am Universitätsklinikum Dresden, und Mitarbeiterin Karin Pöhlmann
stellen dazu den Dresdner Körperbild-Fragebogen (DKB-35) vor, ein
Fragebogen zur Erfassung von Einstellungen zum eigenen Körper.
Gesunde und psychisch Kranke unterscheiden sich stark in ihrer
körperlichen Selbstakzeptanz, was nicht weiter verwundern dürfte.
Adipöse haben ebenso wie Anorektikerinnen in allen Aspekten des
Körperbildes negativere Einstellungen zu ihrem Körper als gesunde
beziehungsweise normalgewichtigen Personen. Sie fühlen sich
körperlich weniger leistungsfähig und akzeptieren ihren Körper
weniger, sie lehnen Körperkontakt stärker ab und bewerten ihr
sexuelles Erleben negativer. Die Autoren erläutern den Fragebogen
am Beispiel einer Patientin mit einer Borderline-Störung mit
schweren Selbstverletzungen nach sechsjähriger Psychotherapie. Die
Patientin konnte soweit wiederhergestellt werden, dass sie als
Landärztin arbeitet. Was die beiden Autoren nicht thematisieren ist
die äußerst marginale Rolle des Körperfragebogens für den
Therapieprozess.
Gefühle und Affekte spielen in jeder Therapie eine Rolle, aber
»mörderische Affekte«, wie Ralf Vogt behauptet? Unangenehm ist der
intellektualistische Stil des Autors, der zu solchen Wortungetümen
greift wie Täterintrojektchronifizierungstendenz. Seltsam fällt
auch der hohe Abstraktionsgrad auf im Vergleich zu banalen
körperlichen Übungen wie Klotzschieben, Riesensacktreten oder
»Davongehen in Zuggurten«. Der Leser fragt sich, ob der Autor in
der Lage ist, ein normales Gespräch mit einem Klienten zu führen.
Es wird die These aufgestellt, dass Patienten nach der
Psychoedukations- und Stabilisierungsphase in der Lage sind, ihre
Affekte in einer Stärke von 40 bis 60 Prozent selbst zu steuern. Im
wesentlichen scheint es darum zu gehen, extreme Affektzustände
dosiert zum Ausdruck zu bringen, um eine Psychotrauma-Bearbeitung
einzuleiten.
Zwei Beiträge fallen aus dem Rahmen. Der Bonner Theologie-Professor
Ulrich Eibach wendet sich in seinem Beitrag zurecht gegen die
Ansicht, Religiosität sei ein reines »Hirnprodukt«. Trotz aller
Erkenntnisfortschritte in der Hirnphysiologie lassen sich Denk- und
Gefühlsakte nicht als bloßes Epiphänomen physiologischer
Hirnvorgänge definieren. Buchtitel wie »Sitzt Gott im rechten
Schläfenlappen?« dienen eher der Verkaufsförderung, weniger der
Erkenntnis. Die Tatsache, dass bestimmte benennbare Gehirnareale
aktiv sind bei religiösen Erlebnissen sind allerdings kein
empirischer Beweis für die Existenz Gottes. Eibach möchte das
Eigentliche der Religiosität bewahren. Aber was ist das? Er
bezeichnet das Gehirn als »Empfänger des Geistes Gottes«. Er müsste
nach dem bisher Gesagten davon ausgehen, dass der Geist Gottes eine
materielle Basis hat. Das ist, zurückhaltend gesagt, fraglich. So
klug und interessant seine Ausführungen sind, hier hat sich ein
Denkfehler eingeschlichen. Für die Existenz Gottes jedenfalls
liefert die Neurobiologie weder Beweise noch Gegenbeweise.
Dem Kölner Arzt und Psychotherapeuten Konrad Heiland fiel auf, dass
Psychoanalyse und Jazz sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallel
entwickelten. Woody Allan hat wie kaum ein anderer diese
Parallelität zum Ausdruck gebracht. In einem Schwindel erregenden
Wirbel verbindet Heiland das Jüdische, das Schwarze, das
Tenorsaxophon, den Antisemitismus, Adorno, verschiedene
Jazz-Stilrichtungen, Charly Parker, Miles Davies, den
kontrollierten Kontrollverlust in der Improvisation, die freie
Assoziation in der Psychoanalyse, die Arbeitsbedingungen im
Kapitalismus, die Abgründe der Jazz-Keller und die Abgründe der
Seele, Keith Jarrett, Oliver Sacks usw.
Haben nach über 100 Jahren Psychoanalyse und Jazz ihre Blütezeit
hinter sich? Der Jazz wandelte sich und verschmolz mit anderen
Stilrichtungen, die psychoanalytische Theorie verband sich mit der
Praxis anderer Therapieformen. Jazz und Psychoanalyse scheinen
gerade deswegen nicht tot, sondern leben verwandelt weiter. Musiker
und Therapeuten bewegen sich in eleganter Leichtigkeit zwischen den
Stilen hin und her (sollten sie jedenfalls). In der Musik
dominieren heute andere Stilrichtungen und in der Psychologie die
Verhaltenstherapie. Zu entscheiden, ob das was zu bedeuten hat,
bleibt dem Leser überlassen.
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