Rezension zu Inklusion statt Integration?

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Rezension von Prof. Dr. Ursula Henke

Inklusion – Integration in der Heilpädagogik – Begriffsklärungen
Markus Dederich, Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler gehen der Frage »Inklusion oder Integration« nach, indem sie nach Konkretisierungsmöglichkeiten im Arbeitsfeld bzw. Umfeld der Heilpädagogik suchen. Was aber heißt denn überhaupt Integration und was heißt Inklusion, Fragen die im ersten Abschnitt des Buches. durch Beiträge von Markus Dederich (»Exklusion«), Emil E. Kobi (»Inklusion, ein pädagogischer Mythos?«) und Swantje Köbsell (»Im Prinzip »Jein««) geklärt werden sollen. Integration wird entweder verstanden als »größtmögliche Teilhabe behinderter Menschen an der Gemeinschaft« oder als Anpassung an bestehende Normen und Werte. »Integration (gibt) es nur zu den Bedingungen der Nichtbehinderten.« (Köbsell, 65). Nach Dederich kann Exklusion verstanden werden als Marginalisierung, als Innen-Außen-Differenzierung eines sozialen Systems, als ein Begriff im Umfeld sozialer Ungleichheit. Und muss im Umkehrschluss Inklusion verstanden werden als »inklusives Egalitätsprinzip« (Kobi), das Differenzierungen verbietet? Heißt das in der Konsequenz: Eine Schule für alle, die nicht mehr ausgrenzt und nicht zur Anpassung zwingt? Oder »alle Schulen für einen« (Kobi, 42)?

Inklusion wird in mehreren Beiträgen verstanden als ein im Sinne Niklas Luhmanns systemtheoretisch zu begreifender Kommunikationsprozess, der Ein- oder Ausschlussmechanismen (Greving) zu erkennen hilft. Inklusion ist in Zusammenhang mit lernender Organisation, mit persönlichem Können aller Mitglieder eine »gemeinsame Vision« (Greving), die Lernprozesse vernetzt, neue Denkweisen und Kommunikationsmöglichkeiten ermöglicht, »Ver-Mittlungsprozesse« (Greving) aufweist und in sich wandelnden Organisationskulturen zu verorten ist.
Inklusion ist Systemwechsel, ist Paradigmenwechsel, ist der Begriff eines neuen Denkens, das sich in Netzwerkarbeit, im Empowermentansatz, in der Gemeinwesenarbeit als community-care, in folgenden Bereichen wiederfindet:
- Wohnen (Seifert),
- Arbeit (Vieweg),
- Schule bzw. Pädagogik (Greving, Kobi, Hollenweger) und auch
- Hochschule als inclusive education (Stein bzw. Lanwer).


Diskussion

Den Autoren ist es gelungen, unterschiedlichste Beiträge so zusammen zu stellen, dass Inklusion als eine Kulturtechnik im Kontext heilpädagogischen Handelns sichtbar wird. Insgesamt lassen sich die einzelnen Beiträge aber eher als theoretische Standortbestimmungen beschreiben, denn als eindeutige Wegweiser in neue Realitäten. Das ist aber auch nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass der Begriff Inklusion in einem ersten Schritt meta-theoretisch erfasst und verstanden werden muss, bevor Realisierungen möglich werden. Diesen ersten Schritt sind die Verfasser und Verfasserinnen gegangen, manchmal jedoch in Bereiche, die etwas irritierend in den Gesamtzusammenhang passen. Einige Beiträge führen den Leser weit weg und überfordern ihn manchmal auch sprachlich etwas. »Inklusion inkludiert somit auch zwangsläufig »stachelschweinische Widersprüche«.« (Kobi, 42). Was ist eine »rhetorisch verabsolutierende Inklusion« (Mürner, 189) oder eine »illusionslose Inklusion« (Mürner, 186)? Mürner zeigt doch gerade auf, dass ganz im Sinne der Inklusion im oben beschriebenen Sinn Sprichwörter und Schlagzeilen als verbale Ausschlussmechanismen zu entlarven sind, die eine »trennende Durchschlagskraft« (Mürner) haben.
Eine stringentere Gliederung und Selektion hätte diesen Irrungen entgegenwirken können. Einbezug (s. nur Hollenweger) und Diskussion der englischsprachigen Literatur insgesamt hätte helfen können, Begriffsbestimmungen und begriffliche Abgrenzungen eventuell klarer vorzugeben und in den Konsequenzen zu diskutieren. Wünschenswert wäre das verstärkte Aufzeigen der Umsetzungsmöglichkeiten auch und gerade im Bereich Schule. Aber »bis heute fehlen gemeinsam geklärte konzeptuelle Grundlagen.« (Hollenweger, 49). Doch es gibt sie, die Beispiele für gelingende Inklusion in der Schule (vgl. Booth, Ainscow, Index for Inclusion, 2000; Kailer, Inclusion in Schools, 2006).


Fazit

Insgesamt sei der vorliegende Band all jenen empfohlen, die sich einer neuen Realität nicht verschließen, die ein Unbehangen in der vorhanden Realität spüren, die nach neuen Wegen der gesellschaftlichen Teilhabe suchen. Dieser Leser lässt sich auf theoretische, sozialwissenschaftliche Exkurse, Begriffsbestimmungen, erste Visionen und Umsetzungsmöglichkeiten ein, die nichts mit trockenem Seminarwissen zu tun haben, sondern als Grundlage dienen können, das eigene Denken zu verändern. Und diese veränderte, verstörte Neubestimmung des eigenen Denkens lässt in der Folge vielleicht auch neues Handeln zu.

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