Rezension zu Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung

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Rezension von Prof. Dr. Margarete Dörr

Thema

Das Fachbuch begründet Positionen kritischer Elementarpädagogik. Es entwirft einerseits ein Bild vom Kind und seiner Entwicklung, das die innerpsychischen Prozesse, die Gefühle und Bedürfnisse als Verarbeitung von sozialen Erfahrungen in Beziehungen und Institutionen begreift. Andererseits wirft es einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der kindlichen Entwicklung immer schon vorausgesetzt sind, in denen Erwachsene erziehen und in denen Kinder notwendig aufwachsen. Auf diese Weise werden sowohl die Potentiale und Beschädigungen kindlicher Entwicklung, als auch die gesellschaftlichen Spielräume und Grenzen der Pädagogik sichtbar und pädagogische Konsequenzen für eine hinreichend gelingende Praxis in Kindertagesstätten ausgelotet und eingefordert.


Autor

Thilo Maria Naumann, Dr. phil, Dipl.-Pol., ist Professor für Pädagogik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Er ist Gruppenanalytiker sowie Mitglied im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP) und verfügt über langjährige Praxiserfahrungen in der Kinder- und Jugendarbeit. Sein Schwerpunkt sind Kindertageseinrichtungen.


Entstehungshintergrund

Der derzeitige Mainstream der Bildungsdebatte über die frühkindliche Entwicklung folgt dem postmodernen Leitbild einer »erfolgreichen« Subjektivität, und unterliegt mit der Forderung nach Leistungsbereitschaft, Flexibilität, Selbständigkeit, Fitness, Konsumfreudigkeit etc. dem Zwang zur permanenten Selbstoptimierung. Dies setzt Eltern, Erzieherinnen und Erzieher aber vor allem auch bereits kleine Kinder unter Erfolgsdruck und verkleinert die Möglichkeitsräume einer selbstbestimmten Entfaltung. Von diesen gesellschaftlichen Beschleunigungstendenzen sind auch frühkindliche Bildungseinrichtungen, z.B. Kindertageseinrichtungen, betroffen. Auf der Folie einer kritischen Elementarpädagogik bzw. Psychoanalytischen Pädagogik gibt der Autor begründete Antworten auf die Fragen nach den Voraussetzungen hinreichend gelingender kindlicher Entwicklungs- und Bildungsbedingungen in der Spätmoderne und formuliert Aussichten, wie Spielräume einer glücklichen Entwicklung eingefordert und ausgeweitet werden können.


Aufbau

Das vorliegende Buch gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil (Kapitel I-III) stellt die entwicklungs- und gesellschaftstheoretische Verortung kindlichen Aufwachsens in den Fokus. Der zweite Teil (Kapitel IV- V) weist mit den Formulierungen pädagogischer Konsequenzen die Psychoanalytische Pädagogik dezidiert als kritische Elementarpädagogik aus.


Inhalt

In einer kurzen Einführung erläutert Naumann sein Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit, das von der Frage geleitet ist, wie angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse kindliche Bildungsprozesse gelingen können. Damit eröffnet er seinen Argumentationsgang, wie die Psychoanalytische Pädagogik ihren Widerspruch gegen die herrschenden Tendenzen der Bildungsdebatte fachlich begründet.
In Kapitel I Kindliche Entwicklung entwirft er die Grundlage einer differenzierten Vorstellung kindlicher Entwicklung, die die Bedeutung der Affektregulierung, die Balance von Autonomie und Bindung sowie die Verinnerlichung von konkreten Interaktionserfahrungen betont. In enger Bezugnahme auf Alfred Lorenzers materialistische Sozialisationstheorie, der Bindungsforschung, Familien- und Gruppendynamik sowie der aktuellen psychoanalytischen Entwicklungspsychologie gibt er der Leserin einen theoretisch gehaltvollen und gut verständlichen Überblick über innerpsychische Prozesse und Beziehungsdynamiken von scheiternden und gelingenden Entwicklungen. Damit erörtert er entwicklungspsychologische Wissensbestände, die für eine professionelle elementarpädagogische Praxis notwendig sind, um das Verhalten von Kindern als Botschaften in Beziehung zu verstehen, die nach pädagogischen Antworten in Beziehung verlangen.
Kapitel II Gesellschaft, Subjektivität und Soziale Arbeit befasst sich mit der kritischen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und kritisiert u.a. das postmodernistische Leitbild flexibler Subjektivität mit seinen psychosozialen Folgekosten im Hinblick auf Freizeitkonsum, Arbeitswelt und Liebe. Ferner wird das Spannungsverhältnis der Sozialen Arbeit zwischen Ökonomisierung und Emanzipation thematisiert, das auch in Kindergarteneinrichtungen eine fatale Dynamik in Gang gesetzt hat, so dass derzeit weniger die kindlichen Bedürfnisse, die altersgemäße Bildung, Erziehung und Betreuung von (Klein)Kindern die entscheidende Rolle zu spielen scheinen als vielmehr die Interessen und Bedürfnisse von Wirtschaft, Kirchen und Politik.

Kapitel III Kindheit heute: Gesellschaftliche Kontexte und psychosoziale Folgen betrachtet ausgiebig die förderlichen und schädigenden Bedingungen und Folgen von Sozialisation in der Familie, verweist auf mögliche Spielräume zur Formung spezifischer Familienkulturen zur Selbstverständigung und Orientierung innerhalb immer komplexer gewordenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Zudem wirft der Autor einen informierten Blick auf die Geschlechtersozialisation; betont begründet die Forderung an die Soziale Arbeit, besonders aufmerksam auf die Gefahren des kulturellen Rassismus zu achten, d.h. die pädagogische Praxis durch einen vorurteilsbewussten Rahmen abzusichern. Schließlich diskutiert Naumann das Fernsehen als Sozialisationsfaktor und setzt sich differenziert mit den sich daraus ergebenden pädagogischen Herausforderungen auseinander.

Vor dem Hintergrund der theoretischen Gehalte dieser ersten drei Kapitel werden in Kapitel IV Psychoanalytische Pädagogik als kritische Elementarpädagogik weiterführende elementarpädagogische Positionen dargelegt. Themen wie Selbstbildung und Verständigung, Prävention psychosozialer Störungen, pädagogisches Setting, pädagogische Haltung, institutionelle Bedingungen und Elternarbeit werden ebenso anschaulich mit dem Fokus auf entwicklungsförderliche Potenziale Psychoanalytischer Pädagogik ausgearbeitet wie zentrale Überlegungen zu einer hinreichend gelingenden pädagogischen Praxis in Kindertagesstätten im Hinblick auf Entwicklungsbündnis, Optimalstrukturierung, szenischem Verstehen und Situationsansatz.

Im Kapitel V Qualitätsentwicklung gelingt es Naumann zu zeigen, dass eine an Gefühlen, Beziehungen und Prozessen orientierte Elementarpädagogik einer ebensolchen Qualitätsentwicklung bedarf. Dabei grenzt er sich nicht nur gewinnbringend von einem instrumentellen Qualitätsbegriff ab, der normierte Endprodukte in der Elementarpädagogik meint herstellen und messen zu können, sondern begründet einen normativen Qualitätsbegriff, der Qualitätskriterien enthält, die in einem dialogischen Prozess aller Beteiligten erarbeitet werden und in dessen Zentrum pädagogische Fachlichkeit steht.


Diskussion

Die vorliegende Publikation fasst gekonnt wesentliche psychosoziale Wissensbestände für eine hinreichend gelingende pädagogische Praxis in Kindertagesstätten zusammen. Dabei wird die Frage nach den Entwicklungs- und Bildungsprozessen bei Kindern – auf der Folie einer Psychoanalytischen Pädagogik – ausführlich, sachhaltig und in einer gut verständlichen Sprache beantwortet. Besondere Berücksichtigung findet hierbei die Bedeutung von Affektregulierung, Mentalisierung sowie die Verinnerlichung von Interaktionserfahrungen. Eine Perspektive, die leider (nicht nur) in der derzeitigen Elementarpädagogik noch immer deutlich unterbelichtet ist. Entsprechend der Tatsache, dass Gesellschaft und Kultur Voraussetzungen pädagogischer Praxis sind und auch kindliche Entwicklung unhintergehbar innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Kontexte stattfindet, analysiert Naumann kritisch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, um darauf aufbauend die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern sowie deren psychosozialen Folgen zu untersuchen. Besonders hervorzuheben sind auch seine konstruktiven Überlegungen zur Frage, welche Beziehungsangebote und institutionellen Bedingungen Kindertageseinrichtungen dafür zur Verfügung stellen sollten sowie seine anschaulichen, weil didaktisch gut aufbereiteten Fallbeispiele: Der »Förderwahn«, der heute in vielen Einrichtungen die Regel ist, sollte – so sein Plädoyer – durch eine gute Beziehungsarbeit mit dem Kind und der Gruppe ersetzt werden, womit der unabdingbare Zusammenhang von Selbstbildung und Verständigung betont wird.


Fazit

Dieses empfehlenswerte Fachbuch macht die Leserin vertraut mit den wichtigsten Erkenntnissen der Psychoanalytischen Pädagogik und ihren möglichen Einsatz in der Kindertagesstätte. Es enthält für den elementarpädagogischen Bereich wesentliche entwicklungspsychologische und soziologische Wissensbestände. Überzeugend wird gezeigt, wie mithilfe der Psychoanalytischen Pädagogik die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kindertagesstätten dafür sensibilisiert werden können, das kindliche Verhalten besser zu verstehen und auf seine Bedürfnisse angemessen zu reagieren. Diese Publikation bereichert aber nicht nur den Fachdiskurs der Elementarpädagogik, sondern ist allgemein für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit – bereits in der (Aus)Bildung – mehr als geeignet.

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