Rezension zu Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung
psychosozial 26
Rezension von Bernd Nitzschke
Ernst Federn, Rudolf Ekstein, Bruno Bettelheim, diese drei Pioniere
der psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung, alle Anfang des 20.
Jahrhunderts geboren, sind die Protagonisten einer Geschichte, die
Roland Kaufhold mit Sachverstand und Einfühlungsvermögen
nacherzählt hat. Alle drei trugen zur Weiterentwicklung der
Pädagogischen Psychoanalyse bei – und jeder von ihnen setzte sich
mit dem politischen Terror der Nationalsozialisten auseinander, dem
er zeitweise ausgeliefert war. Alle drei überlebten – äußerlich;
und jeder setzte sich mit den leidvollen Konsequenzen von
Verfolgung, Haft und Exil innerlich auseinander.
Ernst Federn, im Herzen Trotzkist, war in jungen Jahren der
Sozialistischen Partei Österreichs beigetreten. 1938, nach dem
Einmarsch der deutschen Truppen, wurde er verhaftet. Seine
Personalakten lagen ja bereits bei der Polizei, da er sich schon
vorher im Kampf gegen den Austrofaschismus illegal betätigt hatte.
Federn überlebte acht Jahre in Dachau und Buchenwald. Nach der
Niederlage des »Dritten Reiches« emigrierte er in die USA. 1948
erschien seine wegweisende Arbeit über das System des Terrors der
Konzentrationslager. Er absolvierte eine Ausbildung als social
worker und widmete sich im Anschluß daran sozialtherapeutischer
Arbeit mit Jugendlichen. Gemeinsam mit Herman Nunberg editierte er
die »Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung«. Nach
seiner Re-Emigration arbeitete er im österreichischen Strafvollzug
als Konsulent.
Bruno Bettelheim, der 1938 ebenfalls verhaftet worden war, hatte
Federn als Mithäftling in Buchenwald kennen gelernt. Nach
zehnmonatiger Haft wurde Bettelheim entlassen. Kaufhold merkt an,
dass »die näheren Umstände dieser Freilassung (...) letztlich nie
exakt eruiert werden« könnten (S. 143). Bettelheim emigrierte in
die USA. Dort arbeitete er mit schwer gestörten Kindern und
Jugendlichen. Er avancierte zu einem viel gelesenen und populären
psychoanalytischen Schriftsteller (Stichwort: »Kinder brauchen
Märchen«). Er beschrieb aber auch immer wieder die Erlebnisse der
Lagerhaft und setzte sich mit den (Un-)Möglichkeiten auseinander,
sie psychisch zu bewältigen. Im Alter resignierte Bettelheim
zusehends. In einem Gespräch mit Daniel Karlin, der einen Film über
die Orthogenic School gedreht hatte, in der – unter Leitung von
Bettelheim – psychotische Kinder betreut wurden, merkte er (in
Kaufholds Worten ausgedrückt) an, er werde »zunehmend stärker (...)
von den zerstörerischen Erinnerungen an das Leiden und an die
Ermordeten überschwemmt« (S. 244). Es waren quälende Erinnerungen,
die – neben der Angst vor Siechtum infolge zweier Schlaganfälle und
dem tragisch gescheiterten Versuch, nach dem Tod der Ehefrau mit
der Tochter in einer Wohnung zusammenzuleben – zu Bettelheims
Selbstmord führten. Die Art dieses Selbstmords – er hatte sich eine
Plastiktüte über den Kopf gezogen – symbolisierte einen Zustand,
aus dem Bettelheim andere Menschen (psychotische Kinder) zu
befreien versucht hatte: Isolation, Einsamkeit. In einer seiner
Schriften heißt es: »Stellen wir uns vor, der gestörte Mensch sei
ein gefangener im Verließ, überzeugt, dass die Fühllosigkeit der
Welt ihn für immer hoffnungslos macht. Es hilft nichts, ihm die Tür
ins Freie zu öffnen. Eine Einladung ins Freie ist völlig falsch,
denn der Gefangene ist ja überzeugt, dass draußen nur Feinde sind.
Wir müssen bereit sein, mit ihm im Kerker zu leben« (zit. n.
Kaufhold, S. 171). Am Ende fand sich offenbar niemand bereit,
Bettelheims – inneres und erinnertes – Schicksal zu teilen.
Rudolf Ekstein, der dritte der von Kaufhold portraitierten Pioniere
der psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung, war mit Bettelheim eng
befreundet. Er kannte dessen Persönlichkeit aus der Nähe – und
konnte auch deren Wirkung auf Fernerstehende gut beurteilen.
»Bettelheim is indeed a charismatic man, but his charisma can go
both ways: positively or negatively. (...) He has strong opinions,
and he often invites strong reactions (...)« (Ekstein – zit n.
Kaufhold, S. 189). Anders gesagt: Bettelheim vertrat seine
Meinungen stets mit großem Selbstbewusstsein – auch und gerade
dann, wenn sie nicht nach dem Geschmack seiner (politisch links
engagierten) Freunde waren. So bezeichnete er etwa 1969 in der
»Chicago Tribune« die Anti-Vietnamkriegsbewegung in den USA als
»Faschismus von Links« (womit er sich in bester – oder eben in
schlechtester – Gesellschaft befand, denn in Deutschland hatte
Jürgen Habermas rebellierenden Studenten schon 1967
»Linksfaschismus« vorgeworfen). Ekstein, der sich – wie Ernst
Federn – in früher Jugend politisch engagierte und der SDAP
(Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs) beitrat, hat
diese Perspektive gewiss nicht geteilt. Er hatte sich 1934,
enttäuscht von der halbherzigen Politik der Sozialdemokraten
gegenüber dem drohenden Faschismus, dem kommunistischen
Jugendverband angeschlossen. Mehrfach – zuletzt im Juli 1938 –
verhaftet, konnte er noch rechtzeitig über Belgien und England in
die USA emigrieren. Nach einer Ausbildung als social worker wurde
er Mitarbeiter der Menninger Foundation. Ende der 1957 übersiedelte
er nach Los Angeles, wo er mit psychotischen Kindern
weiterarbeitete. Das dort »von ihm aufgebaute Psychoseprojekt«
(Reiss-Davis Chilf Study Cente) sowie das zugehörige
»Forschungsbulletin« (Reiss-Davis Clinic Bulletin) wurden Mitte der
1970er Jahre »aus finanziellen Gründen eingestellt« (S. 113).
Alle drei von Kaufhold portraitierten und anhand ihrer
wissenschaftlichen Werke vorgestellten Pioniere verkörpern einen
Teil der Geschichte der psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung,
deren Institutionalisierung im Roten Wien der 1920er Jahre begann.
In den 1930er Jahren fand diese Geschichte (scheinbar) ein jähes
Ende: Es folgten Verbot und Exil und ein langes Vergessen. Kaufhold
hat die biographischen, wissenschaftlichen und politischen Details
dieser Geschichte rekonstruiert und aufgezeigt, in welch breiter
Verzweigung sich deren Einflüsse etwa in der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie bemerkbar gemacht haben. Kaufholds
Sympathien liegen erkennbar bei den Protagonisten dieser
Geschichte, aber auch bei denen, die sie als erste hierzulande
wieder erinnert haben: »Die Psychoanalytische Pädagogik ist im
deutschsprachigen Raum in Folge der 68er-Bewegung wiederentdeckt
worden« (S. 49).
Die Wiederaneignung der Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik
sollte nun aber nicht nur abstraktem Wissen dienen; sie sollte auch
den Mut zu konkretem Handeln in scheinbar aussichtslosen
Situationen befördern. Denn auch dafür stehen die Lebensgeschichten
der Portraitierten: »Sowohl ihre theoretischen Studien als auch ihr
praktisches Handeln mit psychotischen beziehungsweise psychisch
sehr traumatisierten Kindern und Jugendlichen sind durchgängig
durch ein leidenschaftliches Engagement, das Gefühl einer inneren
Verpflichtung, motiviert. (...) Sie verfügen über innere
Kraftquellen, mächtige biographische Motive, die vielen anderen
Pädagogen nicht zur Verfügung stehen. (...) Ihre traumatischen
Lebenserfahrungen als politisch bzw. rassistisch Verfolgte
inspirierten ihr pädagogisch-therapeutisches Handeln, und dieses
professionelle Engagement stellte zugleich einen – bewussten oder
unbewussten – Reparationsversuch gegenüber den entwurzelnden
Erfahrungen der Vertreibung dar« (S. 15). Widerstand und
Widerstehen erinnert und diese Erinnerung an die nächste
(Leser-)Generation weitergegeben zu haben, das ist Kaufholds
bleibendes Verdienst.