Rezension zu »Raubtierkapitalismus«?

www.socialnet.de

Rezension von Dr. Jos Schnurer

Gier als paranoid-schizoides Phänomen der Globalisierung?

Über die positiven und negativen Folgen der Situation, dass die Welt sich immer interdependenter entwickelt und die Auswirkungen auf das Leben der Erde in allen Bereichen des menschlichen Daseins, wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch, sowohl individuell, als auch kollektiv, lokal, regional und global spürbar sind, ist bereits viel diskutiert und geschrieben worden. Die Spannweite des Diskurses reicht von Euphorien, die Globalisierung zähle zu den markantesten und folgenreichsten Entwicklungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts und garantiere weltweiten Güteraustausch, Warenvielfalt, unbegrenzte Reisemöglichkeiten und Informationsaustausch (Bundesverband deutscher Banken), über den amerikanischen Nobelpreisträger für Wirtschaft und Chefökonomen der Weltbank, Joseph Stigliz, der »Schatten der Globalisierung« sieht, Horst Afheldts eigenwilligem Plädoyer gewissermaßen zur Schaffung eines »Europa als Sozialstaatskontinent im Meer eines schrankenlosen Liberalismus«, Rüdiger Safranskis Nachfrage, wie viel Globalisierung eigentlich der Mensch vertrüge, bis hin zur Attac(ke) auf die immerhin im offiziellen Bundestagsbericht der Enquete-Kommission (2002) Schwarz auf Weiß gedruckte Analyse, die Globalisierung böte zwar theoretisch große Chancen, in der Praxis aber habe sie nur eine Hand voll Gewinner und eine übergroße Mehrheit Verlierer hervor gebracht. Und weil der Begriff »Globalisierung« mittlerweile als Kennzeichnung für jedes Schlechte wie jedes Gute auf der Welt herhalten müsse, wurde sogar vorgeschlagen, ihn als »Unwort des Jahres« anzuprangern.


Psychodynamische Aspekte der Gobalisierung

Der Kasseler Sozial- und Psychogeograf Peter Jüngst macht mit seinem Buch ein Diskussionsfeld auf, das bisher zwar in vielfältiger Weise bereits in der Psychoanalyse Erich Fromms, der Figurationssoziologie von Norbert Elias und auch den Aggressionstheorien etwa von Konrad Lorenz und anderen bearbeitet wurde, die aber überwiegend sich dahin orientieren, aktuelle territoriale, nationale und kulturelle Konflikte »primär aus der Psychodynamik der unmittelbar beteiligten ethnischen und kulturellen Gruppen und ihrer Führer zu sehen«. Jüngst geht einen Schritt weiter und nimmt psychodynamische Aspekte der heutigen Globalisierungssituationen in den Blick. Er geht von der These aus, dass »die politischen und insbesondere auch ökonomischen Prozesse, die sich in der heutigen Globalisierung artikulieren, ... von eskalierenden Prozessen einer psycho-sozialen Dynamik determiniert werden, die den Beteiligten in einem hohen Ausmaß unbewusst bleiben«. Seine Positionen:

- Die gesellschaftlich-ökonomische und damit auch immer geographische und geopolitische Dynamik der Globalisierung wurzelt in einer engen Wechselwirkung mit weltweit wirksamen psychosozialen Prozessen.
- Die psychosozialen Prozesse werden bestimmt von einer paranoid-schizoiden Dynamik des »Raubtierkapitalismus«, der von einer spekulativen »Gier« der Shareholder-Gesellschaft getrieben wird.
- Die westlich-industriellen Ökonomien und Gesellschaften, die von einer solchen paranoid-schizoiden Dynamik dominiert werden, sind nicht in der Lage, notwendige »emphatische«, ganzheitliche Bezüge zu entwickeln, um eine gerechte Welt zu schaffen.
- Die psychsozialen Prozesse werden weitgehend generiert und gesteuert durch die US-amerikanische Gesellschaft, die durch eine geringe Entfaltung psychosozialer Kompromisse und solidarischer Prinzipien in der Form sozialstaatlicher Regelungen gekennzeichnet ist.
- Krisenhafte Zuspitzungen, gesellschaftliche und staatliche Destabilisierungsprozesse in den Ländern des Südens der Erde, den so genannten Entwicklungsländern, dürfen nicht lösgelöst gesehen werden von den Entwicklungen in den westlich-industriellen Gesellschaften; ja sie sind wichtige Determinanten der Globalisierungsprozesse.
- Die paranoid-schizoiden Aspekte der Globalisierung tragen im wesentlichen zur Eskalation von territorialen Konflikten und ihren zerstörerischen Folgen für die jeweiligen Gesellschaften und die gesamte Menschheit bei.


Inhalt

Der Autor beginnt seine Arbeit mit der Darstellung der bisher zum Themenkomplex vorfindbaren Forschungsergebnisse und Theorien. Das ist deshalb wichtig, weil gerade dieses Feld in der Globalisierungsdiskussion vernachlässigt wird. Besonders interessant sind dabei die Ansätze, wie sie etwa aus der amerikanischen »Ich-Psychologie« (R. Wallerstein) entwickelt wurden und sich im Konzept der »paranoid-schizoiden und depressiven Position« (C.Alford) darstellen. Jüngsts Schlüsselbegriff zur Erklärung seiner These, der »Raubtierkapitalismus der Globalisierung« sei ein Resultat paranoid-schizoider Prozesse, ist der der »Gier als bestimmendes Prinzip in der Phase der flexiblen Kapitalakkumulation«. Durch die postfordistische Entwicklung veränderten sich die Produktionsvorgänge und der Faktor »Arbeit« in rasantem Maße. Dies führe zu Deregulierungen in den Bereichen der Produktionsstandorte und vor allem zum Abbau rechtlicher und vertraglicher Regelungen, die zuvor den psychosozialen Kompromiss des Sozialstaates bestimmt haben. Die Konzernpolitiken und die auf den Topmanagern lastenden Drucke, das fortwährende Ringen um Wachstum, Spitzenpositionen und wirtschaftlichen Überlebensstrategien führten zu einer fortwährenden, weltweiten Labilisierung und Auflösung von psychosozialen Kompromissen. Die »Innovationen« der Raubtierkapitalismen der USA und der westlichen Industrieländer hätten entscheidende Ein- und Auswirkungen auf die Globalisierungsentwicklungen in der gesamten Welt.

»Wir werden das Spiel spielen müssen und es gleichzeitig nicht akzeptieren – und es nicht akzeptieren, indem man es anders spielt« – Andreas Novy kommt bei seinem Nachdenken darüber, wie Gesellschaftsveränderungen in der Einen Welt, angesichts der Missentwicklung der Globalisierung möglich sind, in seinem Büchlein »Entwicklung gestalten« (2002) zu der Erkenntnis, der sicherlich auch Jüngst zustimmen würde, dass eine Ansammlung von homines oeconomici niemals eine humane und gerechte Gesellschaft ergeben könne, nirgendwo in der Welt. Die dringende Aufforderung der Weltkommission »Kultur und Entwicklung« (1995 – 1997) wäre zu beherzigen, dass die Menschheit (heute!) vor der Herausforderung stehe, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, also: neue Lebensformen zu finden. Dazu ist es erforderlich, kultur-, bildungspolitische und bildungsgeographische Zielsetzungen nicht mehr weiter auf Begrifflichkeiten wie »Optimierung formaler Fähigkeiten« hin zu steuern, sondern in familialen, schulischen und außerschulischen Bildungsprozessen stärker emphatische Kompetenzen zu berücksichtigen.


Fazit

Peter Jüngsts Arbeit ist kennzeichnet durch eine eindeutige Benennung der globalisierten Situation auf der Erde. Die Schemata zur Erklärung von bestimmenden Prinzipien und Shareholder-Entwicklungen ermöglichen einen guten Überblick über die Thesen und Ausführungen. Sie stellen gleichsam ein »didaktisches« Mittel zur Bewusstseinmachung der Probleme dar, wie sie uns der »Raubtierkapitalismus« beschert. Die Arbeit kann als ein ausgezeichneter Beitrag zur kritischen Reflexion über andere Sichtweisen der Globalisierung betrachtet werden. Studierende jeder Fachrichtung, vor allem der wirtschafts-, sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen, sollten das Buch lesen. Die in der Zeitschrift »Entwicklung und Zusammenarbeit« (E plus Z) erfreulicherweise vor einigen Jahren begonnene Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Entwicklungstheorien und -theoretikern macht den Reichtum der theoretischen Diskussion deutlich; die Adaption von den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Fächern steht noch aus. Der von Jüngst begonnene Diskurs muss weiter geführt werden. Seine Gedanken und Analysen können dabei Maßstab und Messlatte sein.

www.socialnet.de

zurück zum Titel