Rezension zu Was Freud und Jung nicht zu hoffen wagten …

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Rezension von Dr. Jos Schnurer

Die Psychoanalyse hat ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Anlässe vernachlässigt

Das Autorenteam – Wolfgang Mertens, der Psychoanalytiker und Professor für Klinische Psychologie bzw. Psychoanalyse an der Münchener Universität, der Schweizer Arzt und »Jungianischer« Psychoanalytiker Willy Obrist und der Personalleiter eines internationalen Technologie-Konzerns Herbert Scholpp – begibt sich mit ihrem Buch auf ein schwieriges Terrain. Sie unternehmen den Versuch, die im aktuellen Diskurs augenscheinlich angesichts des rasanten Zuwachses von neurowissenschaftlichen und kognitionspsychologischen Befunden und der offensichtlichen Überschätzung der positivistischen Tatsächlichkeiten zu kurz kommende Aufmerksamkeit auf die traditionelle Grundlage der Tiefenpsychologie zu lenken, als Wissenschaft vom Menschen. Ihre Klage: Die Psychoanalyse Freuds, die Analytische Psychologie Jungs, wie auch die Individualpsychologie Alfred Adlers, deren Schulen sich heute zwar unter einem standespolitischen Dach zusammen fänden, würden trotzdem noch erhebliche Richtungsauseinandersetzungen gegeneinander ausfechten. Könnte es sein, dass der gemeinsame Widerstand gegen den »neurowissenschaftlichen Reduktionismus«, der den Irrglaube enthalte, aus dem Menschen einen neurobiologischen Apparat machen zu können, der sich allein durch physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten seines Hirnstoffwechsels erklären ließe, eine gemeinsame Front gegen den »neurowissenschaftlich-industriellen Komplex« entstehen lässt? Die Autoren argumentieren gegen die »introspektive und selbstreflexive Denkfaulheit« in den verschiedenen psychoanalytischen Richtungen. Die auf eine instrumentelle und technische Verwertung hin zielende Naturbeherrschung der positivistischen Wissenschaften habe nicht nur eine ethische Leerstelle im Denken und Handeln der Menschen hinterlassen; sie habe auch die Gefahr einer potentiell sich selbst zerstörenden Menschheit hervor gebracht: »In der hochtechnisierten Apparate-Medizin verschwindet der leidende und fühlende Mensch immer mehr und wird zu einem Teilobjekt, an dem zwar bewundernswerte medizinische Leistungen vollbracht werden können, ohne dass dieser jedoch den Sinnzusammenhang von Krankheit und seinem bisherigen Leben zu begreifen in der Lage ist«. Auch im Bereich der Psychotherapie habe eine derartige unpersönliche und von Sinnzusammenhängen abgekoppelte Zweckrationalität Einzug gehalten.


Inhalt

Die Kritik der Anhänger des tiefenpsychologischen Menschenbildes an den herkömmlichen positivistischen Wissenschaften: Sie haben ethische Fragen stets in den Bereich des Vorwissenschaftlichen verwiesen.
Der tiefenpsychologisch ausgebildete Personalleiter eines Konzerns, Herbert Scholpp, beginnt denn auch seinen Beitrag »Selbstbewusstwerdung der europäischen Naturwissenschaft über den Weg der Selbstaufklärung« mit der provokanten Frage, ob die naturwissenschaftlichen Denkformen und Methoden in ihrer vermeintlichen Objektivität, »die das Experiment und die statistische Auswertung einsetzt und die Ergebnisse mit Hilfe der Logik interpretiert, wirklich so objektiv und wertneutral, wie wir immer wieder selbstverständlich annehmen?«. Gegen den naturwissenschaftlich-positivistischen Denk- und Wahrnehmungsrahmen, der mit Hilfe der aristotelischen Logik, der empirischen Induktion und dem Rationalismus zur Welterfassung führen soll, setzt Scholpp die tiefenpsychologischen Elemente der Selbstbewusstwerdung, wie Erkennen, Verstehen und Bewusstmachen unbewusster Motivationen, Phantasien, Vorstellungen, Ideologien, Denkmuster, wunscherfüllender Illusionen und des trieb- und affektgesteuerten Handelns. Dabei wendet er sich gegen die Auswirkungen der positivistischen Wissenschaft auf die akademische Psychologie: »Die akademische Psychologie folgt immer noch, um als ›wissenschaftlich‹ zu gelten, in ihren Methoden dem Vorbild der positivistischen Naturwissenschaft«. In seiner Auseinandersetzung mit den neurobiologischen und -psychologischen Theorien geht es dem Autor nicht um Konfrontation, sondern um die Anregung zum interdisziplinären Dialog. An einem Beispiel versucht er, die Unterschiede der verschiedenen Systeme deutlich zu machen: Ein Patient befindet sich in einer depressiven Phase. Die Hirnforschung sage dazu, dass dies ein bestimmter Zustand oder Ablauf in seinem Nervensystem sei; richtig und interessant. Die weitere Diagnose jedoch, dass es sich bei diesem Ablauf im zentralen Nervensystem um die Depression handele, fuße auf dem cartesianischen Denkrahmen. Die Tiefenpsychologie jedoch frage weiter, z. B. nach der individuellen Erlebnisqualität und den Verarbeitungsmodi, dem Umgang mit der Depression, betrachte das sozial erzeugte Umfeld, die Ansprüche des Patienten, usw. In einem Exkurs stellt er den wissenschaftlichen Briefwechsel des Physikers Wolfgang Pauli mit Carl Gustav Jung aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor und fordert damit auf, »mit dem Reflektieren über die aus dem Positivismus ausgesonderten und unterdrückten Denkformen zu beginnen«.

Der Schweizer Arzt und jungianischer Analytiker Willy Obrist stellt in seinem Beitrag »Tiefenpsychologie als Basaldisziplin einer integralen Humanwissenschaft« die These auf, dass mit der Tiefenpsychologie nicht einfach nur eine neue wissenschaftliche Disziplin entstanden sei, sondern mit ihr ein neuer Typ einer empirischen Wissenschaft. Dabei definiert er Tiefenpsychologie als eine »empirisch-wissenschaftliche Psychologie, welche die Existenz eines unbewussten – dem Bewusstsein nicht direkt zugänglichen – Bereichs der Psyche anerkennt und eine Methode besitzt, diesen zu erforschen«. Mit seinem Schema »Die innere Struktur der Tiefenpsychologie« und der Herleitung der Methoden von der Bewusstseins- zur Tiefenpsychologie, von der mythischen zur empirischen Psychologie, bringt er sicherlich einen interessanten Baustein in den Diskurs ein. Mit dem jungianischen Prinzip der »Selbstregulation« will er die Brücke schlagen zu einer systemischen Natur- und damit Menschenbetrachtung. Ja, die Tiefenpsychologie erschließe damit ein neues Menschenbild und schaffe schließlich die Adaptation einer Ethik als eine Quelle ethischer Normen, die die Existenz der Menschheit und die Bewältigung Hier und Heute ermögliche. Damit kristallisiere sich die Tiefenpsychologie als Natur- und Kulturwissenschaft heraus. Und sie könne als »Basaldisziplin einer integralen Humanwissenschaft« dienen, ein probates Mittel gegen die derzeit herrschende Wissenschaftsfeindlichkeit.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Mertens von der Universität München stellt in einem spannenden Expose fiktive »Fragen an Freud – Wenn Freud heute noch leben würde«. Seine Gedanken zur Entwicklung der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert sind gleichzeitig eine Reflexion zur Adaption und Weiterentwicklung der Freudschen Psychoanalyse, beginnend mit Freuds Auffassungen zu den Aphasien (1891) und damit der Grundlegung, Krankheiten nicht nur auf Physiologie und Anatomie zu reduzieren, sondern sie als »psychische Phänomene im eigenen Recht zu begreifen; über seine Studien zur Hysterie (1895) und damit in Konfrontation mit den neueren Auffassungen zum impliziten Gedächtnis; seinem Entwurf einer Psychologie (1895); bis hin zu seinen »Traumdeutungen« (1900). Auch hier, wie bei den weiteren Freudschen Arbeiten, baut Mertens geschickt in das fiktive Fragen- und Antwortgerüst postfreudianische Adaptionen und Weiterentwicklungen ein, wie etwa das Symbolverständnis von Ernst Cassirer u.a.


Diskussion

Die zahlreiche, in den Texten zitierte historische und aktuelle Literatur, die ausführlichen Literatur- und Personenverzeichnisse machen das Buch der »Querdenker der Tiefenpsychologie« zu einem wichtigen Kompendium für Studierende der Humanwissenschaften. Einige der Provokationen und dezidiert vorgetragenen Behauptungen werden in den verschiedenen Richtungen der Fachwissenschaften auf Widerspruch stoßen; andere werden in den Darstellungen allzu deutlich die Freudsche Parole erkennen: »Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst«. Was bleibt, und was vielleicht als Scharnier für den von den Autoren erhofften interdisziplinären Dialog als Brücke dienen könnte, im Hier und Heute und Jetzt, und mit dem Blick auf das Morgen der Menschheit, ist die Reflexion und Weiterentwicklung eines »selbstreflexiven Bewusstseins«, das in der Tat ein Grundpfeiler der humanwissenschaftlichen Reflexion und des Handelns sein könnte. Denn auch die Neurobiologie hat ihren Standpunkt (hoffentlich!) noch nicht gefunden; etwa, wenn Gerhard Roth formuliert: »Der Mensch ist nicht frei, sondern ein Vollzugsorgan dessen, was im Gehirn neuronal determiniert ist«, oder Wolf Singers Auffassung, dass das, was der Mensch als freie Entscheidung erfährt, nichts anderes sei als eine nachträgliche Begründung von Zustandsveränderungen, die ohnehin eingetreten wären (vgl. dazu auch: Thomas Geduhn, in: RM vom 1.7.04, S. 23).


Fazit

Es ist zu hoffen, dass möglichst viele Menschen, die in ihrer beruflichen Arbeit, aber auch in ihrem individuellen Nachdenken die Überzeugung vermitteln und leben, dass der Mensch mehr ist als ein kybernetisch gesteuertes Apparatewesen und dass eine »Wissenschaft vom Menschen« die Grundlagen und Eckpfeiler einer globalen Ethik zu vermitteln vermag, dieses Buch entdecken. Denn Wolfgang Mertens, Willy Obrists und Herbert Scholpps verdienstvolle Arbeit ist ein Baustein dazu!

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