Rezension zu Opfer und Täter zugleich?
Politische Psychologie 4-2001
Rezension von Freihart Regner
Die Shoah gilt nicht wenigen als das Paradigma für ein
Täter-Opfer-Verhältnis. In den NS-Konzentrationslagern verdichtete
sich dieses Gefälle, gestützt durch eine ideologische Einteilung in
»Herren-« und »Untermenschen«, in zeitlicher wie räumlicher
Hinsicht: Hier trafen die politischen Täter unmittelbar auf die
Opfer, um sie auf systematische Weise zu quälen, zu demütigen, als
Arbeitssklaven und »wissenschaftliche« Versuchsobjekte zu
mißbrauchen und schließlich zu ermorden. Neben einer ernüchterten
und ethisch differenzierten Betrachtung des Unvorstellbaren kann
diese Konstellation leicht auch als Vorlage zur – individuellen wie
kollektiven – Identitätsstiftung und Mythologisierung dienen, so
eindeutig und ethisch unmißverständlich erscheint die Lage, so
einfach und gewinnbringend eine moralische Positionierung; der
oberflächliche »Antifaschismus« der DDR oder die teilweise
ideologischen Züge der 68erBewegung sind historische Beispiele
dafür, aber auch der heutige Diskurs um die Shoah wird nicht selten
von solchen Ideologemen und Narzißmen bestimmt.
Indessen gibt es Erscheinungen, die diese so griffige Einteilung
der Lebenswelt in Täter und Opfer, Mächtige und Ohnmächtige. Böse
und Gute, mit ihren vielfältigen direkten und indirekten, bewußten
und unbewußten Identifikationsmöglichkeiten, empfindlich
irritieren. Zu diesen gehören die sog. jüdischen
Funktionshäftlinge; das sind diejenigen Verfolgten, die von den
Nazis perfiderweise in ihre Vernichtungsmaschinerie eingespannt
wurden, um Angehörige ihrer eigenen Gruppe zu verfolgen und zu
töten, beispielsweise indem sie in den Ghettos Deportationslisten
aufstellten oder in den Konzentrationslagern als sog. Kapos, als
Lageraufseher fungierten. Sind diese Menschen »Opfer und Täter
zugleich?« Diese Frage stellt die aus Israel stammende Psychologin
und Familientherapeutin Revital Ludewig-Kedmi, Mitbegründerin und
Mitarbeiterin bei »Tamach«, einer psychosozialen Beratungsstelle
fur Holocaust-Überlebende und deren Angehörige in der Schweiz, in
einer nun vorliegenden gekürzten Fassung ihrer Dissertation.
Die Autorin versucht sich dieser Frage durch
autobiographisch-narrative Interviews mit Betroffenen aus vier
Familien zu nähern, die qualitativ ausgewertet werden. Dabei geht
sie davon aus, daß es wesentlich »Morabdilemniata« gewesen sind,
vor denen diese Funktionshäftlinge gestanden haben und durch die
sie moralisch traumatisiert wurden. »Eine Person steht vor einem
Moraldilemma, wenn sie zwei Werte verfolgen möchte, die aber auf
der Handlungsebene nicht gleichzeitig durchfuhrbar sind, da sie
sich gegenseitig ausschließen« (10) Bei den Funktionshäftlingen war
diese Situation beispielsweise gegeben, wenn die sog. Judenräte im
Ghetto entscheiden mußten, »ob sie Juden, die aus dem Ghetto
fliehen wollten, denunzieren sollten. Wenn jemand aus dem Ghetto
floh, kam es zur kollektiven Bestrafung der ganzen Gemeinde, und
andere Juden hätten getötet werden können. Wenn der Judenrat die
Leute, die fliehen wollten, vorher denunzierte, wurden die
Denunzierten von den Nazis sofort ermordet.« (21) Traumatisch sind
derartige Erfahrungen aus der humanistisch geprägten Sicht der
Autorin deshalb, weil: »Jeder Mensch strebt danach, sich als
moralisch gut zu erleben, und zwar im Sinne seiner eigenen Werte
bzw. im Sinne seiner eigenen subjektiven Moralphilosophie.« (95)
Entsprechend können die durch extreme Dilemmata herbeigeflihrten
Werteverbetzungen mit einer weitgehenden Zerstörung des moralischen
Selbstbildes der Person einhergehen, was eine intensive psychische
Verarbeitung verlangt (96). Wie bewältigen ehemalige
Funktionshäftlinge die Belastungen durch die damals widerfahrenen
Moraldilemmata? Dies ist die zentrale Forschungsfrage der Autorin.
Es gelingt ihr, bei den vier Flauptinterviewpartnern verschiedene
Bewältigungstrategien zu identifizieren:
1. Heldentum: Die Funktionstätigkeit wird ausschließlich positiv
geschildert, ethisch anrüchige Aspekte werden ausgeblendet.
2. Scham: Die Betroffene ist am Moraldilemma zerbrochen, leidet an
schweren Scham- und Schuldgefühlen und ist suizidal.
3. Familiäre Loyalität: Die Funktionsgefangene ging »mit einem
sauberen Gewissen und erhobenem Kopf aus der Sache heraus«, u.a.
weil sie ihre Mutter mit jener Tätigkeit unterstützen konnte.
4. Solidarität: Die Funktionstätigkeit wird im Dienste der
zionistischen Bewegung gesehen, der Häftling erlebt sich auch im
nachhinein als solidarischer Genosse.
R. Ludewig-Kedmi hat sich an ein brisantes und emotional
hochbesetztes Thema gewagt: »Das ist mutig, daß Du es kannst, oder
vielleicht bist Du ein böser Mensch«, sagte die Tochter eines
Holocaust-Überlebenden zu ihr (9). Es ist ihr auf insgesamt
souveräne Weise gelungen, den damit verbundenen Anspruch
einzulösen. Bei analytisch klarem Aufbau mit hilfreichen
Schaubildern und in unprätentiösem Schreibstil rekonstruiert sie
sehr gründlich und dabei respektvoll die biographischen Erzählungen
ihrer Interviewpartnerlnnen und läßt deren schwierige Lebens- und
Bewältigungsgeschichte vor dem Leser plastisch werden. Die
Einbeziehung der Familien- und MehrgenerationenPerspektive erweist
sich dabei als lohnenswert; so weisen die Befunde in die Richtung
Je mehr Probleme die erste Generation bei der Bearbeitung ihrer
Moraldilemmata hat, desto mehr Bewältigungsarbeit muß von seiten
der Familie -
also von der zweiten Genenation und (fein Ehepartner – geleistet
werden (322). Aus professioneller Distanz und ohne tendenziösen
oder bewertenden Gestus rekonstruiert die Autorin die
Lebensgeschichten ihrer lnterviewparterlnnen und scheut dabei auch
Darstellungen nicht, die zunächst irritieren können. Dabei nutzt
sie gemäß den Prinzipien qualitativer Sozialforschung ihre
persönliche Resonanz auf das Forschungsgeschehen als Dimension des
Verstehens, ohne diese dem Leser aufzudrängen – etwa bei der
Rekonstruktion der Biographie von »Lola Fröhlich«, die ihre
Lagererfahrung als überwiegend positiv und bereichernd darstellt,
das Grauen dagegen bagatellisiert. An einer Interviewstelle preist
sie »phantastische Schönheit der Lagerlandschaft«: »Lolas
Beschreibung machte mich zuerst fassungslos. Wie soll ich mit der
›Schönheit des Lagers‹ umgehen? Ich brauchte Zeit, um beide Bilder
– die landschaftliche Schönheit und die physische Bedrohung des
Lagers – zu integrieren, um zu verstehen, daß Lolas Art und Weise
des Umgangs eine ist, die neben der anderen stellen darf und kann,
auch wenn die Mehrheit es anders erlebt hat und sich anders
erinnert.« (230)
Kritisch ist anzumerken, daß der Versuch einer kommunikativen
Validierung der Interpretationen mit den Interviewpartnern weder
versucht noch als methodische Option zumindest angesprochen wurde.
So kann stellenweise der Eindruck nicht genügend kontrollierter
Interpretationsmacht entstehen, beispielsweise wenn die Autorin
einen »Freudschen Versprecher« eines Interviewpartners als
triftiges Indiz Ihr ihre Deutung heranzieht: »Es ist die Loyalität
zur Mutter, die zu dem Versprecher führt, denn Nathan nimmt sich
vor, nur die moralischen Seiten der Funktionstätigkeit seiner
Mutter anzusprechen. (...) Durch Nathans Versprecher lernen wir
seine Ambivalenz zum Judenrat kennen.« Sprachlich wird hier das
Bestehen eines objektiven Sachverhalts suggiet, während es sich
zunächst doch nur um eine mehr oder minder plausible Interpretation
handelt eine »konstruktivistischere« Darstellung (z.B. »aus
tiefenpsychologiseher Perspektive könnte dies so und so
rekonstruiert werden«) mit entsprechenden Relativierungen erschiene
hier angemessener. Wie haben die Interviewpartner auf solche
Interpretationen reagiert? Das wäre interessant gewesen zu
erfahren, insofern sich beim Leser die Resonanz einstellen kann,
selbst nicht gerne passiv solch durchdringender ›Tiefenhermeneutik‹
ausgesetzt sein zu wollen.
Weiterhin ist der nüchterne Stil der Autorin zwar zu schätzen, doch
scheinen die theoretischen Referenzen dabei nicht immer zu
gewinnen. So werden verschiedentlich philosophische Ethiken
herangezogen, die indes eher oberflächlich referiert und
eingearbeitet werden, etwa: »Während nach Kant die Absicht einer
Flandlung zentral ist, weist Hegel darauf hin, daß die beste
Absicht sich in das Gegenteil verkehren kann. Diese beiden Aspekte
können psychologisch gesehen eine Rolle bei der Bewältigung von
Moraldileinniata spielen.« (198)
Insgesamt ist Revital Ludewig-Kedmi ein wichtiger, psychologisch
gründlich fundierter Beitrag zum Diskurs um die Shoah und um
politische Traumatisierung gelungen, der gerade durch seine
brisante und ambivalente Thematik in förderlicher Weise irritieren
und zu differenziertem ethischem Weiterfragen anregen kann
außerhalb und innerhalb des therapeutischen Feldes, mit
entsprechenden Konsequenzen für die Praxis.