Rezension zu Opfer und Täter zugleich? (PDF-E-Book)
Institut für psychosoziale Aufgaben
Rezension von Dieter Gnambs
Im März 1957 wurde in Israel Dr. Rudolf KASTNER, ein Kandidat der
Mapal (der von der Unterorganisation der heutigen Arbeiterpartei),
die sich um den Einzug in den Knesseth bemühte, niedergeschossen
und erlag 10 Tage später seinen schweren Verletzungen. Als Täter
wurde ein rechtsradikaler Israeli festgenommen.
Den Mord als politisch motiviertes Attentat eines dumpfen
Jung-Reaktionismus auf einen etwas liberaleren, unbequem anmutenden
Parlamentsabgeordneten zu dekuvrieren, schien naheliegend. Die
Hintergründe erwiesen sich indessen als komplex genug, um einen
erbitterten Diskurs über eine der schmerzvollsten Wunden der
jüngsten jüdischen Vergangenheit neu zu entfachen.
Das Opfer war nicht irgendein ehrgeiziger Lokalpolitiker. KASTNER,
Journalist und Rechtsanwalt, war zwei Jahre zuvor der
Nazi-Kollaboration für schuldig befunden worden und bemühte sich
seitdem verzweifelt, seinen guten Ruf wiederherzustellen. Als
zionistischer Auslandsfunktionär hatte er 1944 mit dem Versprechen,
Lastkraftwagen und hochwertiges Arbeitsmaterial zu liefern, in
direkten Verhandlungen mit der SS versucht, ungarische Juden vor
der Deportation zu bewahren. 1.684 Menschen, darunter einige
Angehörige seiner eigenen Familie, verdanken ihm letztlich ihr
Leben.
Die Rettung jüdischer Menschenleben war teuer erkauft. KASTNER
wusste sehr wohl über das bevorstehende Vernichtungsschicksal der
ungarischen Juden Bescheid. Trotzdem sah er sich außerstande eine
entsprechende Warnung zu übermitteln, wollte er nicht ein
sofortiges Platzen des perfiden Menschenhandels riskieren. Die
1.684 Überlebenden wurden nolens volens durch das Verschweigen der
bevorstehenden Apokalypse von nahezu 476.000 ungarischen Juden
freigekauft.
›Die Rolle jüdischer Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes
ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen
dunklen Geschichte‹, monierte Hannah ARENDT als Beobachterin im
EICHMANN-Prozess (»Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der
Banalitt des Bösen«, 1964). Um weiter die als Verurteilung zu
verstehende absolut tödliche Frage zu stellen: »Warum habt Ihr die
Mitarbeit an der Zerstörung Eures eigenen Volkes und letztlich an
Eurem eigenen Untergang nicht verweigert?« ARENDT betonte damit
einseitig den negativen Aspekt einer Beziehungsverstrickung, die
keine konstruktive Lösung mehr möglich erscheinen lässt.
Folgerichtig erkannte sie in Kollaborateuren mit den Nazis
durchwegs Werkzeuge des Mordens, gleichgültig aus welchen Motiven
und mit welchem Ergebnis die Kooperation erfolgte.
KASTNERs weitgehend unbedankte Menschenrettungsaktion stellt eines
von mehreren möglichen Moraldilemmata dar. Er konnte nur zwischen
zwei gleichermaßen mörderischen Alternativen wählen, wobei er auf
jeden Fall »Schuld« auf sich laden musste. Entweder er verzichtete
auf den Deal und opferte damit auch die 1.684 letztlich Geretteten,
oder er handelte nazikonform, um einigen Wenigen das Überleben zu
sichern. So oder so: sein Handeln wie sein Nichthandeln bedeutete
den Tod von unzähligen Menschen.
Was Rezipienten ethischer Verstrickungen zu vorschnellen
Parteinahmen zu animieren vermag, bedeutet für die Betroffenen
zeitlebens eine schwere existenzielle Last, die nur unter
Aufbietung enormer psychischer Verdrängungsenergien halbwegs
erträglich erscheint. Oder mitunter auch nicht.
Revital LUDEWIG-KEDMI, eine junge israelische Psychologin und
Familientherapeutin müht sich seit Jahren, den besonders in Israel
heftig umstrittenen (auerhalb Israels weitgehend tabuisierten)
Täter-Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihnen bei der
Bewältigung ihrer diffizilen Traumata therapeutisch zur Seite zu
stehen. Kein leichtes Unterfangen, wie sie in ihrer Dissertation
dokumentiert, die nunmehr zum Mehrhundertseitenbuch erweitert einer
breiteren Öffentlichkeit vorliegt.
LUDEWIG-KEDMI, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet seit Jahren in
Deutschland und der Schweiz. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin
der Universität St. Gallen, vor allem aber als magebliche
Mitbegründerin von TAMACH, einer mittlerweile höchst renommierten
psychosozialen Beratungsstelle für Holocaustberlebende (und deren
Angehörige) in der Schweiz, entwickelte sie ein international
vielfach beachtetes Konzept zur Analyse und Behandlung von
Moraldilemmata-Betroffenen.
Ausgehend von Untersuchungen an jüdischen Funktionshäftlingen in
der NS-Vernichtungsmaschinerie gelingt es der Autorin, Hannah
ARENDTs undifferenziert anmutendes Verdikt gegen ber allen
Nazi-Kollaborateuren entscheidend zu relativieren.
Mit eiskalt berechnendem Kalkül zwang die SS-Administration
prominente Ghetto-Bewohner (»Judenrat«) und KZ-Häftlinge (»Kapos«)
zur Zusammenarbeit. Judenratsmitglieder wurden zur reibungslosen
ghettointernen Verwaltungsarbeit verpflichtet, wofür sie (
überlebenswichtige) Vergünstigungen in der Lebensmittelund
Wohnraumzuteilung erwarten durften. Die Erstellung von
Deportationslisten zog eine befristete Schonung der eigenen Person
sowie ein begrenztes Freistellungskontingent für Freunde und
Verwandte nach sich. Zuwiderhandlungen kamen dem eigenen
Todesurteil oder Sippenhaftungssanktionen gleich.
Ungefähr 10 Prozent aller jüdischen Häftlinge wurde zu
kollaborativen Tätigkeiten gezwungen, nur ein Bruchteil von ihnen
berlebte das finale Inferno. Dabei standen den Betroffenen drei
Wahlmöglichkeiten als Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung:
Sie erklärten sich zur Kooperation mit den SS-Schergen bereit, um
sich selbst, Familienangehörige oder Freunde zu retten. Spätestens
ab Juni 1941, mit dem Überfall auf die Sowjetunion und dem Beginn
der Endlösungsschlächterei, musste allerdings auch ihnen ihre
»privilegierte« Situation immer fragwürdiger und das drohende
eigene Ende immer unausweichlicher erscheinen. Sie konnten aber
auch kooperieren, um »Schlimmeres zu verhüten« – etwa um, wie
Rudolf KASTNER es versuchte, zumindest einige Wenige zu retten.
Letztendlich stand manchen auch die Wahl der Verweigerung jeglicher
Kooperation zur Verfügung – womit sie ihr eigenes Todesurteil
unterschrieben. Nicht wenige brachten sich vorher selbst um.
Die Befreiung aus den Konzentrationslagern bedeutete für die
wenigen berlebenden keineswegs das Ende ihrer schier ausweglosen
Situation. Um im eigenen Selbstbild und in der Fremdwahrnehmung
durch die Nachkriegsgesellschaften als moralisch integre Wesen mit
den unwiderruflichen Konsequenzen ihrer früheren letalen
Entscheidungen weiterexistieren zu können, bedurfte und bedarf es
noch immer schwerwiegender Verarbeitungsstrategien. Am häufigsten
sties LUDEWIG-KEDMI auf Ausblendungsmuster Um die Unerträglichkeit
vergangener Moralkonfliktsituationen in der Gegenwart nicht spürbar
werden zu lassen, werden die unmenschlichen Beziehungsfallen der
NS-Bürokratie schonungslos angeprangert und ihre Urheber vehement
attackiert. Die eigene (erzwungene) Verstrickung bleibt
ausgeklammert, ins Unbewusste verschoben – angesichts der
Unmöglichkeit einer zufriedenstellenden Lösung ein verständlicher,
aber nur bedingt tauglicher Selbstrettungsversuch, der auch
Angehörige und Kinder mit zu erfassen vermag, die aus
Loyalitätsgründen zu synchronen Abwehrstrategien Zuflucht
nehmen.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Überlebenden Funktionshäftlinge
»zerbrach« nach seiner Rettung. Dekompensationen, Fluchtreaktionen
in psychotische Scheinparadiese, Selbstzerstörungen direkter und
indirekter Art schienen Auswege aus untragbar gewordenen
psychischen Terrorwelten anzubieten. LUDEWIG-KEDMI sieht sich in
diesem Zusammenhang in der Nähe Jean-Paul SARTREs, der auch in
härtesten Moraldilemmata-Zwangslagen auf die Pflicht zur Wahl
verweist.
»Als ein junger Mann bei SARTRE nach Rat sucht, ob er bei seiner
kranken Mutter bleiben solle, die
allein lebt, oder an der Front für sein Vaterland (gegen die Nazis)
kämpfen solle, erklärt ihm SARTRE, dass keine philosophische Lehre
ihm helfen kann, die Entscheidung zu treffen. Er stehe ganz allein
vor dem Zwang zur Wahl. Die verschiedenen Moraltheorien würden nur
eine allgemeine Richtung bei der Entscheidung geben. Sie stellen
jedoch keine Hilfe im konkreten Einzelfall dar.« Die ganze Härte
dieser existenzialistischen Erkenntnis der letztlich unaufhebbaren
eigenen Einsamkeit kommt in einem Roman des jüdischen
Schriftstellers W. STYRON zum Vorschein. Er beschreibt eine junge
Jüdin in Auschwitz, die ein SS-Mann zwingt, eines ihrer beiden
Kinder auf die Rampe (und damit auf den direkten Weg in die
Gaskammer) zu schicken. Eine Nichtwahl würde für alle beide den
sofortigen Tod bedeuten. Die Mutter zwingt sich im letzten
Augenblick zu einer Entscheidung, um wenigstens eines ihrer Kinder
zu retten. Womit sie selbst nicht rechnete: sie überlebt und wird
aus dem KZ befreit. Wenige Wochen später dekompensiert sie schwer
psychotisch und bringt sich um (W. STYRON, Sophies Choice
1981).
Die Autorin beschreibt noch weitere Verarbeitungsmechanismen, die
(als solche nicht erkennbar) in der Fremdwahrnehmung nicht selten
neue Sekundärverurteilungen nach sich ziehen: exzessiver
antifaschistischer Aktionismus etwa, der das Leben der Betroffenen
einzig auf den Kampf gegen Nazismus und Judengenozid einzuengen
scheint – um dann von flachen Blitzdenkern ferndiagnostisch als
»Holocaust-Kommerz« denunziert zu werden.
Das Buch ist nicht so sehr von zeitgeschichtlichem Wert. Literatur
zur Judenrat-Problematik gibt es bereits, wenn auch in sehr
bescheidenem Umfang und fast immer in simplen Pro- oder
Kontra-Zeichnungen. Eines der seltenen um Ausgewogenheit bemühten
Werke zum Thema stammt von Isaiah TRUNK (»Judenrat – The Jewish
Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation Prozent 1972) und
wurde meines Wissens bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.
LUDEWIG-KEDMIs Untersuchung, obgleich sehr klar und präzise
formuliert, ist in ihrer Themenstellung nicht leicht zu lesen,
streckenweise grenzt sie ans schwer Erträgliche. Wer sich
allerdings mit den Double-Bind-Auswirkungen von Folter, Krieg und
Genozid grundlegend befassen will, wird darum nicht
herumkommen.
Das Buch handelt nicht nur von einem dunklen Kapitel unserer
Vergangenheit, es ist von brandheißer Aktualität, verweist es doch
indirekt auf permanent wirksame Moralkonfliktsituationen in
»geschlossenen Systemen«. US-Army mit Scharen dekompensierter
Vietnamkriegsveteranen, Kirchenfundamentalisten mit ihren Herden
»ecclesiogener« Neurotiker oder politische Kreuzzugspsychotiker mit
unbegrenzter Funktionsmacht – das Gewerbe der Konstrukteure immer
perfekterer, immer effizienterer, immer subtilerer Moraldilemmata
boomt wie nie zuvor.
Quelle: Institut für psychosoziale Aufgaben 06.06.2003