Rezension zu Opfer und Täter zugleich? (PDF-E-Book)
Journal für Psychologie 2001
Rezension von Sascha Karminski
Funktionshäftlinge wurden von den Nazis zu ihren Mithelferlnnen und
Mittäterlnnen gemacht. Ludewig-Kedmi umfasst mit dem Begriff
»Jüdische Funktionshäftlinge« sowohl die Judenräte in den Ghettos,
die beispielsweise Deportationslisten erstellen mussten, als auch
die Kapos in den KZs, die direkt der SS unterstellt waren. Beide
trugen volle Verantwortung für die Umsetzung deutscher Befehle und
wurden somit von anderen JüdInnen als direkte VerfolgerInnen
erlebt. Dafür erhielten sie Privilegien wie zusätzliche
Essensrationen und bessere Wohnungen, aber auch Schutzlisten, um z.
B. Familienangehörige vor der Deportation zu retten. Gerade mit
diesen Privilegien waren entscheidende Moraldilemmata verbunden:
Kann bzw. Darf bzw. muss ich jemanden opfern, um jemand anders zu
retten? Solange den Judenräten die Vernichtungspläne der Deutschen
noch nicht bekannt waren und vermeintlich Arbeitslisten erstellt
werden sollten, war die scheinbare Alternative, »(a) entweder einen
Teil der Juden zu opfern (die Alten und die Kranken), um die
Mehrheit zu retten, oder (b) gegen die Nazis zu sein und alle Juden
zu gefährden« (5. 20). Mit dem zunehmenden Wissen um die Endlösung
wurden die Konflikte noch schwerer, »denn nun ging es darum, die
Mehrheit zu opfern, um eine Minderheit zu retten« (S.21). In diesem
Dilemma gab es vier mögliche Handlungsstrategien: Kooperation zum
Schutz der eigenen Person bzw. Familie bzw. FreundInnen;
Kooperation, um Schlimmeres zu verhindern; Verweigerung (die
üblicherweise zum Tode führte) und Selbstmord. Für die Kapos in den
KZs war die Vernichtung Teil der alltäglichen Realität, sie selbst
Teil der gestaffelten Macht der Nazis – durch die Delegation eines
Teils der Macht wurde diese im ganzen Lager allgegenwärtig. Kapos
konnten verlängerter Arm der SS oder schützende Hand sein – für
Ludewig-Kedmi in der Realität der Lager keine Frage des »Entweder –
oder«, sondern meist ein »Sowohl – als – auch«. In Israel (und aus
anderen Gründen auch in Deutschland) ist die Auseinandersetzung
über Funktionshäftlinge immer noch ein Tabu, dem sich Ludewig-Kedmi
jedoch aus historischer, juristischer und gesellschaftlicher
Perspektive annähert. Letztendlich mündet diese Auseinandersetzung
in den Fragen: »War moralisches Verhalten im KZ überhaupt möglich?
(...) Ist moralisches Handeln ein ›Luxus‹ im Normalzustand, aber
keine Handlungsmöglichkeit während der Shoah?« (S. 47). Hannah
Ahrendt geht von der »Ermordung der moralischen Person« im KZ aus,
das Gute hätte unter gar keinen Umständen mehr getan werden können.
Für Sartre hingegen ist jede Entscheidung bei einem Moraldilemma
eine moralische Entscheidung, eine Sichtweise, der sich
Ludewig-Kedmi anschliesst und nach der »der Akt der Wahl in einer
Situation des Moraldilemmas die Person nicht zu einer amoralischen
Person werden lässt« (5. 49). Ausgehend von diesem verstehenden,
nicht richtenden Ansatz versucht die Autorin, mit Hilfe von
autobiographisch-narrativen Interviews mit überlebenden
Funktionshäftlingen sowie ihren Kindern aus dem Blickwinkel beider
Generationen die Entstehung von Moraldilemmata in ihrer
Prozesshaftigkeit nachzuvollziehen. Nach Ludewig-Kedmis Modell
basieren diese auf der subjektiven Moralphilosophie des Individuums
im Zwangskontext des NS-Systems, aus der sich Handeln und
Selbstbewertung ableiten. Dieses Handeln fuhrt zwangsläufig zu
Über-Ich bzw. Über-Ich Konflikten, deren Bewältigung die Autorin in
den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt, nicht zuletzt deshalb, weil
ihrer Ansicht nach in der Vergangenheit die Psychopathologie
Überlebender zu stark betont und ihre Ressourcen und
Copingstrategeien vernachlässigt wurden. Die Bewältigungsversuche
können individuelle (im Sinne der Abwehrmechanismen), familiäre (im
Sinne von Delegationsprozessen) oder psychosoziale Dimensionen
aufweisen, z. B. in der Auseinandersetung mit gesellschaftlichen
Forderungen an das Individuum, die nach Van der Berg potentiell
pathogen sind und für die er den Begriff »Soziose« prägt.
Ludewig-Kedmi stellt schliesslich die biographischen Analysen von
vier HolocaustFamilien gegenüber, die für verschiedene Typen der
Bewältigung von Moraldilemmata stehen und die sie Heldentum, Scham,
Familiäre Loyalität sowie Solidarität nennt:
- Rebekka Halevi-Oz s Moralphilosophie entspricht einer
»Heldenmoral im rabbinischen Sinne« (5. 160), zu der Verantwortung
und Mut gehören. Auf der Handlungsebene wird sie dieser sowohl im
Judenrat als auch als Kapo in Auschwitz gerecht. Allerdings sind
zur Aufrechterhaltung dieses Selbstbildes im Nachhinein
individuelle Korrekturstrategien nötig, die auch an die folgende
Generation tradiert werden.
- In Yalda Sachafs Moralphilosophie sind familiäre Loyalität,
Solidarität mit der Gemeinde sowie der Wunsch zentral, andere nicht
zu verletzen, sondern ihnen zu helfen. In zwei traumatischen
Situationen verletzt sie ihre eigenen Werte, was individuelle
(selbstbestrafende) und familiäre Korrekturstrategien nötig macht:
Der Ehemann sieht seine Frau ausschliesslich als »Opfer«, der Sohn
leistet Erinnerungsarbeit.
- Für Lola Fröhlich sind Loyalität und Selbstentfaltung wichtige
Werte, wobei auch Selbsthilfe keinen Widerspruch zur subjektiven
Moralphilosophie darstellt. Dafür muss sie zu einer
»Bagatellisierung des Grauens« greifen, um ihre Arbeit für die
SS-Aufseherinnen zu rechtfertigen und um sich selbst zu erklären,
wie eine persönliche Entfaltung im KZ möglich war.
- Ran Chanochs Moralphilosophie umfasst Solidarität zu
zionistischen GenossInnen, familiäre Loyalität und Eigenschutz –
Werte, die er im Ghetto, im KZ und im Arbeitslager in mehreren
Moraldilemmata zwangsläufig verletzen musste. Allerdings gelingt es
ihm in der Folgezeit, die Ambivalenzen dieser moralischen Defizite
auszuhalten, seine Schuldgefühle in Verantwortung umzuwandeln,
indem er Sozialarbeiter wird,und die Funktionstätigkeit als eine
solidarische, zionistische Tätigkeit zu verstehen.
Zentrales Anliegen Ludewig-Kedmis ist die Darstellung von
Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in ihrer Komplexität,
um von ihrem negativen Ruf, der sich als »negativer Mythos« (S.
341) verstehen lässt, wegzukommen. Es gelingt ihr überzeugend
nachzuzeichnen, dass die Funktionshäftlinge »keine ›amoralischen
Monster‹ waren, sondern (...) aufgrund ihrer Zwischenposition
zwischen den Tätern und den Opfern in Extremsituationen vor
schweren Entscheidungen standen« (ibd.). Das anzuerkennen wäre das
Entgegenkommen der Gesellschaft, das nötig ist, um zusätzlich zu
individueller Bewältigung und therapeutischer Hilfe die
psychosoziale Belastung zu verringern und die Soziose zu
heilen.