Rezension zu Die kultursensible Therapiebeziehung
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Rezension von Dr. Oda Baldauf-Himmelmann
Überblick
Bei diesem Buch handelt es sich um die gekürzte, überarbeitete und
angenommene Dissertationsschrift von Birsen Kahraman am Department
Psychologie der LMU München. Ausgangspunkte bilden der stetig
wachsende Anteil von MigrantInnen an der Bevölkerung und ihr
nachgewiesenes höheres Gesundheitsrisiko. Ein weiterer Punkt sind
die Zugangsbarrieren für MigrantInnen zu einer adäquaten
psychosozialen Hilfe und deren Überwindung. Hier konstatiert sie
neben sprachlichen Barrieren auch die Schwierigkeit tragfähiger,
therapeutischer Arbeitsbeziehungen, vor dem Hintergrund kultureller
Differenzen und einhergehender Stigmatisierungstendenzen. Das führt
sie zu der Fragestellung, wie »man angesichts kultureller Differenz
und Heterogenität MigrantInnen, die in psychischen Notlagen
potenziert von Stigmatisierung und Ausgrenzung betroffen sind, fair
und angemessen behandeln« kann. Die Autorin stellt dabei zunächst
die psychosoziale Versorgung von MigrantInnen in ihren derzeitigen
Möglichkeiten und Grenzen dar, leitet dann über zur Bedeutsamkeit
der therapeutischen Beziehung und führt in einem weiteren Schritt,
Kultur und Beziehung zur interkulturellen Therapiebeziehung
zusammen. Sie wählt für die Auswertung halbstrukturierter
Interviews, die der Arbeit zugrunde gelegt werden, qualitative
Forschungsmethoden. Am Ende generiert sie aus der
fallübergreifenden Analyse von Dyaden ein Modell der
kultursensiblen Therapiebeziehung, welches sie detailliert
vorstellt und diskutiert.
Autorin und Entstehungshintergrund
Birsen Kahraman ist Psychologin, Psychotherapeutin und Dozentin.
Sie ist als Tochter türkischer Eltern in der so genannten zweiten
Generation in Deutschland aufgewachsen und nach eigenen Angaben
noch halbwegs mit traditionellen Normen und Werten eines türkischen
Elternhauses vertraut. Sie verfügt über die türkische und deutsche
Sprachfähigkeit. Ihre Fragestellung zur Dissertationsschrift und
die Auseinandersetzung mit dem gewählten Thema gründen sich daher
nicht zuletzt auf zum Teil widersprüchlichen Schlüsselerlebnissen
im Berufspraktikum und in der Arbeit im Psychologischen Dienst für
MigrantInnen und in der eigenen Praxis in München von 2000 –
2008.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich zunächst hauptsächlich an jene, die in
psychosozialen Bereichen mit KlientInnen mit Migrationshintergrund
arbeiten bzw. vorhaben dies zu tun. Darüber hinaus ergibt sich auch
die Möglichkeit, dass sich weitere Berufsgruppen, wie z.B. die
Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern
etc. wichtige Anregungen für ihre Arbeit mit MigrantInnen aus dem
Buch holen können. Es soll die Möglichkeit bieten,
Weiterbildungsträgern in diesem Bereich wertvolle Hinweise für die
Aus- und Weiterbildung zu liefern. Die zum Teil beschriebenen
prekären Verhältnisse im Gesundheitswesen haben nicht zuletzt auch
eine politische Dimension, sodass sich hier weitere Adressaten aus
diesem Kreis angesprochen fühlen dürfen.
Aufbau und Inhalte
Der Leser hat mit diesem Buch die Möglichkeit, im Rahmen von sieben
inhaltlichen Teilen und einem Methodenkapitel, eine differenzierte
und von verschiedenen Seiten aus betrachtete Auseinandersetzung mit
der eingangs gestellten Forschungsfrage vorzufinden. Dabei wird in
der Einführung auf das Erkenntnisinteresse der Autorin verwiesen,
für die Beteiligten bedeutsame Faktoren in der therapeutischen
Begegnung ins Blickfeld der Aufmerksamkeit zu rücken. Eine
Grundthese ist, dass eine sorgfältige Wahrnehmung von potenziellen
Störungen bei Kulturverschiedenheit notwendig ist, »um daraus
adäquate Handlungsperspektiven z.B. für die Weiterbildung
abzuleiten.« Das Buch umfasst dabei folgende sieben inhaltliche
Teile sowie ein methodisches Kapitel:
- Kulturelle Faktoren in der psychosozialen Versorgung: Hier werden
zum Teil prekäre Strukturen in der gesundheitlichen Versorgung
thematisiert, was zu Versorgungsdefiziten bei erhöhter Belastung
und insbesondere bei Menschen mit Migrationshintergrund führe.
Gleichzeitig beschreibt die Autorin spezifische Zugangsbarrieren
zur Grundversorgung für MigrantInnen, die in der Struktur des
Zugangs, in der Person der Therapeutin und auch in der Person der
KlientIn anzusiedeln sind.
- Die Beziehung in der Psychotherapie: Dann leitet sie über zur
Bedeutung einer tragfähigen Therapiebeziehung, wobei sie sich
zunächst einer allgemeinen Bedeutung, als dem wichtigsten
Wirkfaktor bei Heilbehandlungen widmet. Sie stellt in diesem Rahmen
zwei wesentliche Eigenschaften der Beziehungsarbeit in den Raum,
die Entwicklung von Motivation und Antrieb durch Wohlwollen und
Engagement einerseits und die Möglichkeit der Entwicklung
spezifischer Lernprozesse andererseits. Sie thematisiert die
Therapiebeziehung in verschiedenen Ansätzen wie etwa in der
psychoanalytischen oder verhaltenstherapeutischen Arbeit etc. und
leitet dann über in die Beschreibung des Prozesses eines
Beziehungs- und Vertrauensaufbaus.
- Therapeutische Beziehung und Kultur: Im nächsten Teil wird der
Kulturbegriff vor dem Hintergrund psychotherapeutischer Praxis
erörtert. Die Autorin gibt dabei einem dynamischen Kulturbegriff,
gegenüber statischen Begriffen den Vorzug. Letztere würden meist
stereotype Erklärungsansätze bemühen, wenn es um die Verbindung
eines aktuellen Verhaltens von MigrantInnen mit Lebensformen oder
Werten ihrer Herkunftsländer gehe. Der dynamische Kulturbegriff
hingegen, unterstelle Veränderbarkeit und berücksichtige sowohl
Gruppen- als auch subjektive Faktoren. Dann beleuchtet B. Kahraman
Störungen der Beziehungen bei Kulturverschiedenheit und setzt sich
mit Teilaspekten wie den Zugangsbarrieren, dem
Krankheitsverständnis, der kulturellen Pathologisierung und
Machtdifferenz auseinander.
- Methodik: Dieses Kapitel fasst methodologische und
Forschungsfragen zusammen und geht auf Auswertungsstrategien der
durchgeführten Untersuchung ein. Abgeleitet aus einem qualitativen
Forschungsverständnis, wonach soziale Wirklichkeit in der
gemeinsamen Zuschreibung von Bedeutungen entsteht, fokussiert die
Autorin mittels halbstrukturierten Interviews und der Repertory
Grid-Technik die Kommunikation zwischen KlientInnen und
TherapeutInnen. Sie geht dabei den Fragen nach Therapieanlässen,
Erwartungen an Therapiebeziehung und an TherapeutInnen,
wahrgenommen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, auf Therapeuten-
und Klientenseite, Formen von Schwierigkeiten und deren Lösungen,
Rolle der kulturellen Distanz und Zuschreibungen von Vor- und
Nachteilen interkultureller bzw. gleichkultureller Zusammenarbeit
nach.
- Darstellung einzelner Dyaden: Anschließend beschreibt sie
ausführlich, am Beispiel einzelner Dyaden und unterlegt mit vielen
Beispielen aus den Interviews, die jeweils wechselseitige
Wahrnehmung der Therapiegespräche bzw. -verläufe. Dazu erfolgte ein
Dreiteilung in: Dyaden mit muttersprachlichen TherapeutInnen,
Dyaden mit TherapeutInnen mit wenig interkultureller Erfahrung und
Dyaden mit TherapeutInnen mit viel interkultureller Erfahrungen.
Aus diesen Betrachtungen werden erste vorläufige Kategorien aus
Klienten- und Therapeutensicht zusammengefasst und diskutiert.
- Strukturelle Rahmenbedingungen: Es werden außerdem
Problemhintergründe, Behandlungsdauer, Sprachkenntnisse der
PatientInnen, kulturelle und institutionelle Kontexte der
TherapeutInnen und Zugangswege als strukturelle Rahmenbedingungen
vorgestellt.
- Aspekte der interkulturellen Therapiebeziehung: In diesem Kapitel
werden vier Hauptaspekte der interkulturellen Therapiebeziehung
differenziert und detailliert abgebildet nämlich, die Erwartungen
an die Therapiebeziehung aus dem Blickwinkel der TherapeutInnen und
der KlientInnen, die affektive Beziehungsebene, die Kommunikation
und kulturelle Stereotype und die Machtsymmetrie.
- Die kultursensible Therapiebeziehung: Hier kommt die Autorin, in
ihrer Darstellung zu einem Modell der kultursensiblen
Therapiebeziehung, wonach sich die Reflexion der wechselseitigen
Erwartungen, die emotionale und kommunikative Feinabstimmung und
die Reflexionen kultureller Zuschreibungen als wichtige Aspekte in
der Gestaltung einer kultursensiblen Therapiebeziehung
erweisen.
Diskussion
Das Buch bietet eine klare Struktur in seinen inhaltlichen Teilen
und seinem methodischen Kapitel. Es ist, unter Nutzung eines
qualitativen Zugangs, eine sehr detaillierte und differenzierte
Darstellung therapeutischen Arbeitens in interkulturellen Kontexten
entstanden, die zweifelsfrei zur Erhellung von Zugangsbarrieren und
Lösungsmöglichkeiten beiträgt. Darüber hinaus regt es an, den
Fragenkatalog zu erweitern. Z.B. entstanden, nicht zuletzt auch
wegen der stattfindenden Veränderungen im deutschen
Gesundheitssystem, Fragen nach der Sensibilität für subkulturelle,
religiöse Einflüsse, die Rolle des Geschlechts, Alters und mithin
auch die Zugangsbarrieren für Menschen mit bestimmten
Störungsbildern wie z.B. Traumatisierungen oder Borderline aus
einer Kultur. Leider muss auch ergänzt werden, dass die von B.
Kahraman beschriebenen Zuschreibungen durch Stereotype nicht nur
ein interkulturelles Phänomen darstellen, sondern auch für deutsche
PatientInnen zutreffend sind. Daneben sind lange Wartezeiten und
andere beschriebene Zugangsbarrieren nicht nur interkulturell
prekär. Damit wird gleichzeitig die Reichweite des von der Autorin
entwickelten Modells sichtbar. Lösungen können demnach nur zum Teil
von TherapeutInnen selbst ausgehen, wenn es um die Gestaltung der
interkulturellen und intrakulturellen therapeutischen
Arbeitsbeziehung geht. Strukturelle, finanzielle und Machtaspekte
hingegen sind eine politische Herausforderung. Die Autorin
verwendet natürlich im Rahmen der Dissertation eine
fachwissenschaftliche Sprache. Es ist also nicht unbedingt ein für
Laien auf Anhieb verständliches Buch.
Fazit
Ein wissenschaftliches, anregendes Fachbuch.
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