Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim und Heidelberger Institut für Tiefenpsychologie (Hg.)

Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 49: Sexualitäten

Nr. 49, 2013, Heft 1

Cover Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 49: Sexualitäten

EUR 19,90

Dieser Titel ist derzeit vergriffen.

Zeitschrift: Psychoanalyse im Widerspruch (ISSN: 0941-5378)

Verlag: Psychosozial-Verlag

147 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm

Bestell-Nr.: 8104

Die »Psychoanalyse im Widerspruch« hat eine Denkfigur der Psychoanalyse zu ihrem Programm gemacht: die Kontroverse - denn seit 1900 ist kein Kernbegriff dieser unruhigen Disziplin widerspruchslos akzeptiert worden. Seit der Gründerzeit reizen ihre Aussagen in der Gesellschaft zum Widerspruch. Und für die Psychoanalyse als Theorie innerer und äußerer Konflikte ist das Widersprechen essentiell.

Zu den thematischen Schwerpunkten der Zeitschrift zählen die Geschichte der Psychoanalyse in Europa und auf anderen Kontinenten, gesellschaftspolitische und kulturtheoretische Probleme, Kunst und Film, klinische Fragestellungen sowie die Aktualität der Psychoanalyse im interdisziplinären Netzwerk. Zuvor unveröffentlichte Dokumente Sigmund Freuds und anderer historischer Figuren der Psychoanalyse tragen ebenso zum Profil der Zeitschrift bei wie Texte von Marie Langer, Mark Solms, Emilio Modena, Léon Wurmser, Micha Brumlik, Rolf Vogt, Paul Parin oder Antonino Ferro. Über die Beiträge zu den Schwerpunktthemen hinaus bietet die Zeitschrift Rezensionen und Veranstaltungshinweise.

Diese Publikation enthält:

Inhaltsverzeichnis

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Inhalt

Editorial

Sophinette Becker
Bisexuelle Omnipotenz als »Leitkultur«? Sexuelle Verhältnisse im gesellschaftlichen Wandel

Sebastian Krutzenbichler
»Die Kunst der unbefleckten analytischen Empfängnis – oder: Eros zwischen Lieblosigkeit und Sexualisierung«

Estela V. Welldon
Female and Male Perversions

Lily Gramatikov
Herausforderung Transsexualität. Über eine Verortung der transsexuellen Identität im Selbst

Mathias Hirsch
Missbrauch in den Systemen Familie, katholische und reformpädagogische Institutionen und in der Psychotherapie

Rezension

Angelika Gilliard
Schneider, Michel (2007): Marilyns letzte Sitzung

Filmbesprechung

Edeltraud Tilch-Bauschke
Michael Haneke: Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2009)

Psychoanalytiker/innen diskutieren Filme

Autorinnen und Autoren dieses Heftes


Zusammenfassungen und Abstracts

Sophinette Becker
Bisexuelle Omnipotenz als »Leitkultur«? Sexuelle Verhältnisse im gesellschaftlichen Wandel

Zusammenfassung: Nach der herrschenden Verhandlungsmoral gibt es kaum mehr sexuelle Tabus, alten Verboten sind neue Gebote gefolgt. Die Allgegenwart der Sexualität geht mit der zunehmenden sexuellen Lustlosigkeit der Subjekte einher. Die Trennschärfe zwischen den sexuellen Orientierungen nimmt ab. Diese und andere kulturelle Veränderungen in Bezug auf Sexualität werden in ihrer Widersprüchlichkeit (»Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem«) dargestellt und diskutiert.

Sebastian Krutzenbichler
»Die Kunst der unbefleckten analytischen Empfängnis – oder: Eros zwischen Lieblosigkeit und Sexualisierung«

Zusammenfassung: Der Artikel ist historischer Rekurs und Angebot zur Standbildbetrachtung der (Übertragungs-)Liebe im wechselhaften Diskurs von psychoanalytischer Theorie und klinischer Praxis. Die begrifflichen Verwerfungen oszillieren dabei zwischen den extremen Polen von Sexualisierung der Liebe einerseits und einer Verflüchtigung des Sexuellen bis hin zur chimärenhaften Körperlosigkeit andererseits mit gravierenden Folgen für den therapeutischen Prozeß; denn der Schwefelgeruch des Leibhaftigen, der der verdrängten Liebe anhaftet, das Sexuelle, das sich einfach nicht von der Liebe separieren läßt, treibt Generationen von Psychoanalytikern zur Flucht an die vermeintlich rettenden Ufer von rekonstruktiven Deutungen, präödipalen Deklarationen, zur Verflüchtigung des Sexuellen und einer pathologisierenden Desavouierung der Liebe, obwohl es gerade Verwirrung stiftende Liebe ist, die zur Entdeckung der Psychoanalyse geführt hat. Dieser Beitrag soll zu einer angstfreien Klarifizierung der eigenen inneren, authentischen Haltung zur Übertragungsliebe im psychoanalytischen Prozeß anregen.

Abstract: The Art of Immaculate Analytical Conception – or Eros between Sexualisation and Lovelessness. The article represents a historical recourse and is an offer to assess the still picture of (transference) love in the perspective of the wavering discourse between psychoanalytical theory and clinical practice. The conceptual faults vacillate between the extreme poles of a sexualisation of love on one hand and an evaporation of the sexual up to the point of a chimerical incorporeality on the other, with serious consequences for the therapeutic process. In fact, it is the sulphureous smell of the devil incarnate that sticks to repressed love, the sexual that simply cannot be separated from love which has been driving generations of psychoanalysts to flee to the supposedly dry land of reconstructive interpretations, pre-oedipal declarations, evaporation of the sexual and a pathologizing disavowal of love – even if it was confusing love which has led to the discovery of psychoanalysis. This contribution is to encourage a fearless clarification of one’s own inner authentic attitude towards transference love in the psychoanalytical process.

Estela V. Welldon
Female and Male Perversions

Zusammenfassung: Dieser Artikel untersucht die Veränderungen, die Nosologie, Definition und soziale Wahrnehmung von Perversion im Laufe der Zeit durchlaufen haben. Ausgangspunkt sind hierbei die über 30 Jahre gesammelten Erfahrungen der Autorin als Leitende Psychiaterin in der Psychotherapieabteilung an der Portman Clinic, London. Die Autorin verbindet einen phänomenologischen Ansatz nach Jasper/Schneider mit einem psychoanalytischen, wodurch gleichermaßen nach Form und Inhalt von Symptomen gefragt wird, um eine genaue Diagnose dessen zu erstellen, was wir unter Perversion verstehen. Perversionen bei Männern und Frauen werden anhand klinischer Beispiele erhellt.

Abstract: This paper explores the permutations over time in both the Nosology, definition and the social position of perversion based on the author’s 30-year career as a Consultant Psychiatrist in Psychotherapy at the Portman Clinic, London. The author uses a combination of a phenomenological Jasperian/Schneiderian approach with a psychoanalytical understanding. This combination of approach means both diagnosing symptoms by their form and by their content being used to make an accurate diagnostic appraisal of what we understand by perversion. Female and male perversions are examined and illuminated through clinical examples.

Lily Gramatikov
Herausforderung Transsexualität. Über eine Verortung der transsexuellen Identität im Selbst

Zusammenfassung: Bis heute finden sich in der aktuellen medizinischen und psychoanalytischen Literatur pathologisierende Vorstellungen über die Ätiologie der Transsexualität. Die historische und ethnologische Forschung weist auf die Universalität der Transsexualität hin und zeigt darüber hinaus, daß andere Gesellschaften mehr als zwei Geschlechter kennen. Die in den westlichen Ländern gültige Auffassung der strikten Geschlechtsdualität stellt sich damit als kulturell geprägt heraus. Die pathologisierende Sichtweise auf die transsexuelle Identität kann als Abwehr gegen verdrängte eigene gegengeschlechtliche Anteile verstanden werden. Psychoanalytisch läßt sich die Ambiguität des Geschlechtlichen als Ausdruck unbewußter Identifizierungen mit den frühen Objekten beider Geschlechter fassen. Bei der transsexuellen Identität handelt es sich jedoch nicht um ein Ergebnis der unbewußten Objektwahl, der Triebschicksale oder der Identifizierungsprozesse. Sie erscheint vielmehr als ein basaler und bewußter Teil des Selbst. Es wird die Hypothese aufgestellt, daß sich die transsexuelle Identität während der ersten Entwicklungsphase der psychischen Struktur des subjektiven Selbst ausbildet, an der Schnittstelle zwischen körperlicher Konstitution und sozialer Formung.

Abstract: Untill today some of the contemporary medical and psychotherapeutic literature displays stigmatizing ideas about the aetiology of transsexuality. Yet historical and ethnological research shows that being transsexual is widespread. In fact some societies prove to have more than just two types of gender. The restrictive male-female-binary, as it is valid to the western world, turns out to be socially shaped. Stigmatizing definitions about transsexuality may reveal the need to suppress counter-gender aspects of the own personality. In psychoanalytic theory the ambiguity of gender may be explained as a result of the unconscious identification with the primary objects of both genders. However it seems that the transsexual identity is not originating in issues like object choice, drive manifestation or identification processes. Instead the transsexual identity appears to be a basic and conscious part of the self. It is hypothesised that the transsexual identity develops during the first stage of the evolving subjective self, at the interface of physical constitution and social influence.

Mathias Hirsch
Missbrauch in den Systemen Familie, katholische und reformpädagogische Institutionen und in der Psychotherapie

Zusammenfassung: Sexualisierter Machtmißbrauch in verschiedenen Systemen – Familie, reformpädagogische und konfessionelle Internate und therapeutische Beziehungen – weisen in ihrer Dynamik bestimmte Parallelen auf. Ideologien bagatellisieren den Mißbrauchscharakter: Der Familienzusammenhalt hat Priorität vor dem Schutz des Kindes, ein »pädagogischer Eros« und »Übertragungsliebe« werden rationalisierend verwendet. Das Opfer, in einer idealisierenden Abhängigkeitsbeziehung gefangen, ist verwirrt über den Begriff »Liebe«, verspricht sich unter Umständen einen narzißtischen Gewinn daraus, »auserwählt« zu sein. Die Verleugnung der Täter findet ihre Entsprechung in den Verleugnungsstrategien der institutionellen Systeme, wenn diese auch inzwischen weitgehend ihre Wirkung verloren haben, seit die gesellschaftliche Entwicklung Anerkennung des Mißbrauchscharakters und Solidarisierung mit den Opfern erlaubt.

Abstract: Sexualized abuse of power in different social systems – families, confessional and reform-educational boarding schools and therapeutic relationships as well – can in certain dynamic aspects be compared with each other. Ideologies tend to play down abuse: family solidarity has priority over child protection, »pedagogical eros« and »transference love« serve as rationalizations. The victim gets confused about what is love, because she or he is caught in an idealized dependent relationship. Perhaps the victim seeks narcissistic gratification in being »chosen« or »the only one«. The perpetrator’s denial corresponds to the denying strategies of institutional systems. Nevertheless in the meantime these strategies have lost their effect, because in society the recognition of abuse and solidarity with the victim has been more developed.