Revital Ludewig-Kedmi
Opfer und Täter zugleich?
Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah
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Buchreihe: Psyche und Gesellschaft
Verlag: Psychosozial-Verlag
368 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
ISBN-13: 978-3-8980-6104-9, Bestell-Nr.: 104
Sollte man mit den Nazis kollaborieren, um die eigene Familie oder
sich selbst zu retten? Mit diesen Fragen waren jüdische Kapos sowie
Judenratsmitglieder während der Nazizeit konfrontiert. Durch ihre
Kollaboration wurden diese zwei Gruppen der Funktionshäftlinge zu
einer Zwischenschicht zwischen den Tätern und Opfern. So mussten
die Judenräte z. B. die Deportationslisten für die Nazis erstellen
und die Kapos waren der SS direkt unterstellt. Für viele
Überlebende verkörpern sie die Verwirklichung des absoluten Bösen:
»Sie waren schlimmer als die Deutschen«, bemerkt ein Teil von
ihnen.
Was ist Mythos und was Wirklichkeit am Bild der Kapos? Die
israelische Psychologin Revital Ludewig-Kedmi analysiert hier die
Biografien von vier Familien. Die Autorin schildert die damaligen
Konflikte und heutigen Bewältigungsversuche der Funktionshäftlinge
und zeigt, inwieweit die Kapos und Judenräte nicht nur
privilegierte Häftlinge waren, sondern auch doppelt missbrauchte
Opfer. Die Judenratsmitglieder schrieben die Deportationslisten
nicht aus böser Absicht, sondern um sich und die eigene Familie –
wenn auch nur vorläufig – vor den Deportationen schützen zu können.
Solche durch den Zwangskontext des NS-Systems entstandenen
moralischen Dilemmata können nicht logisch rational gelöst, sondern
nur emotional verarbeitet werden. In den Bemühungen der
Funktionshäftlinge, sich wieder als moralisch zu erleben, kommt es
zu psychischen Reaktionen, die vom Selbstmordversuch bis zur
totalen Verdrängung reichen. Dabei sieht sich ein Teil der
ehemaligen Funktionshäftlinge als passive Opfer, während sich
andere als aktive Helden rekonstruieren.
Dies ist ein interdisziplinäres Buch, das eine Analyse dieses
bisher weitgehend unerforschten Themas bietet. Es zeigt, dass
jüdische Funktionshäftlinge während der Ghetto- und Lagerhaft auch
in den schwierigsten Situationen danach strebten, ihren moralischen
Werten treu zu bleiben. Doch dies war nicht möglich, und die tiefen
Risse im moralischen Selbstbild führten zum Teil bis zum
psychischen Zusammenbruch. Diese psychologische Analyse hat
wichtige Implikationen für die Therapie mit traumatischen
Moraldilemmata.
Inhaltsverzeichnis
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Inhalt
Die Funktionstätigkeit aus historischer Sicht
1.
Tätigkeit der Judenräte
2. Die Erstellung der Deportationslisten als Moraldilemma
3. Die Kapos
4. Moraldilemmata von Kapos
Wie ›schuldig‹ sind jüdische
Funktionshäftlinge?
1. »Das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte«: Die
historische Perspektive
2. Gerichtsprozesse: Die juristische Perspektive
3. »Jeder von ihnen hat gemordet«: Gesellschaftlicher Ruf der
Funktionshäftlinge
Tod der moralischen Person?
Im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Geschichte
Moraldilemmata aus psychologischer Sicht
1. Moral und Psyche
2. Moraldilemmata in psychologischen Ansätzen
3. Bewältigungsstrategien
Zur Psychologie der ersten und zweiten
Generation
1. Jüdische Funktionshäftlinge in der psychologischen Literatur
2. Die erste Generation: Zwischen Überleben und
Überlebensschuld
3. Die zweite Generation: Trauer und Moral
Theoretisches Konzept und Fragestellung der
Untersuchung
1. Die Entstehung von Moraldilemmata: Die
eigene subjektive Moralphilosophie und die NS-Realität
2. Handlungsebene
3. Bewältigungsstrategien: ›Wieder-eins-mit-sich-werden‹
Biographieforschung
1. Wie ›objektiv‹ sind Erzählungen?
2. Das autobiographisch-narrative Interview
3. Interviewpartner und Interviewdurchführung
Familie Halevi-Oz: Heldentum
1. »Ein Mensch bleiben« Rebekka Halevi-Oz – Erste Generation
2. »Dann war sie dort unter den großen Anführern im Judenrat«;
Nathan Halevi-Oz – Zweite Generation
Familie Sachaf: Scham
1. »Jahre hat es mich Tag und Nacht gequält«; Yalda Sachaf – Erste
Generation
2. Delegation, Erinnern, Korrekturarbeit; Chanan Sachaf – Zweite
Generation
Familie Fröhlich: Familiäre Loyalität
1. »Sie waren wirklich phantastisch zu mir«; Bagatellisierung des
Grauens oder persönliche Entfaltung im KZ?; Lola Fröhlich – Erste
Generation
2. Loyalität zu den Lebenden und den Toten; »Ich wollte nicht
leben, nur meine Tochter hat mich immer mitgenommen«; Jaffa Jischei
– Erste Generation
3. »Ich bin genau in der Mitte«; Die gedrittelte Loyalität; Dalia
Fröhlich-Neeman – Zweite Generation
Familie Chanoch: Solidarität
1. »Wenn ich hier rauskomme, werde ich Sozialarbeiter«; Ran Chanoch
– Erste Generation
2. »Ekelhafte Arbeit« Das Verschwinden des Kapo-Begriffs; Liat
Chanoch – Zweite Generation
Bewältigungsstrategien jüdischer Funktionshäftlinge und
ihrer Kinder
1. Umgang mit Moraldilemmata
2. Aktive Helden, passive Opfer: Das Selbstbild als
Funktionshäftling
3. Familiäre Bewältigungsstrategien im Umgang mit
Moraldilemmata
4. Zwischen lieben und urteilen – Psychosoziale
Bewältigungsstrategien in der zweiten Generation
5. Die Komplexität des Bewältigungsprozesses
6. Ausblick: Implikationen für die Therapie
Epilog: Jüdische Kapos zwischen Mythos und
Wirklichkeit
Rezensionen
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Systhema 95
Rezension von Hans Schindler
»Nach Untersuchungen zu den Folgen der Shoa wagt sich die Autorin in diesem Buch an ein bisher stark tabuisiertes Thema, die Rolle der jüdischen Kapos im Vernichtungssystem der SS…« [mehr]
SHOFAR Vol. 22, Winter 2004
Rezension von Beate Meyer
»When the Israeli-Swiss psychologist Revital Ludewig-Kedmi was looking for first- and second-generation interviewees for her dissertation on Jews who had been prisonerfunctionaries, a colleague suspected she either had to be a very brave person or a bad one…« [mehr]
PSYCHE
Rezension von Bernd Leineweber
»Die vorliegende Untersuchung macht deutlich, daß die Extremsituation des Lagers weder notwendigerweise den ›Tod der Moral‹ zur Folge hatte noch pauschale Muster der moralischen Verurteilung oder Freisprechung im Überlebendenkollektiv rechtfertigen darf…« [mehr]
Politische Psychologie 4-2001
Rezension von Freihart Regner
»Insgesamt ist Revital Ludewig-Kedmi ein wichtiger, psychologisch gründlich fundierter Beitrag zum Diskurs um die Shoah und um politische Traumatisierung gelungen…« [mehr]
Institut für psychosoziale Aufgaben
Rezension von Dieter Gnambs
»Das Buch handelt nicht nur von einem dunklen Kapitel unserer Vergangenheit, es ist von brandheißer Aktualität, verweist es doch indirekt auf permanent wirksame Moralkonfliktsituationen in ›geschlossenen Systemen‹…« [mehr]
Journal für Psychologie 2001
Rezension von Sascha Karminski
»Zentrales Anliegen Ludewig-Kedmis ist die Darstellung von Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in ihrer Komplexität…« [mehr]
FAZ
Rezension von Katharina Rutschky
»Revital Ludewig-Kedmi, eine Berliner Dissertation, verspricht nicht bloß, eine Forschungslücke zu füllen, sondern ein Tabu der bisherigen Holocaust-Forschung zu brechen…« [mehr]