Felix Berth
Die vergessenen Säuglingsheime
Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland
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Buchreihe: Forum Psychosozial
Verlag: Psychosozial-Verlag
185 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
Erschienen im Februar 2023
ISBN-13: 978-3-8379-3204-1, Bestell-Nr.: 3204
DOI:
https://doi.org/10.30820/9783837979343Das Säuglingsheim ist eine vergessene Institution der beiden
deutschen Staaten. Häufiger als bisher angenommen waren Babys und
Kleinkinder in der Nachkriegszeit dort untergebracht, manche
monate- oder sogar jahrelang. Die Lebensbedingungen
beeinträchtigten die kindliche Entwicklung massiv, was die damalige
psychologische und psychoanalytische Forschung bald als
Hospitalismus beschrieb. In der Bundesrepublik wurden die Heime
deshalb in den sechziger Jahren aufgelöst; in der DDR wurden diese
Erkenntnisse zunächst ebenfalls wahrgenommen, allerdings
interessierten sich die Behörden nach dem Bau der Mauer 1961 nicht
mehr dafür. Säuglingsheime existierten dort bis zum Jahr 1989.
Die Einweisungskriterien waren nicht präzise festgelegt, was den
Behörden große Handlungsspielräume gab; entsprechend stark wirkten
sich auch die damaligen Moralvorstellungen aus. So waren es häufig
Kinder von alleinerziehenden Müttern, von kranken oder
misshandelnden Eltern, die in die Heime kamen. Weil sich die
Betroffenen nicht oder nur stark eingeschränkt an ihre Zeit in den
Heimen erinnern können, rekonstruiert Felix Berth anhand von
Archivmaterial und damaligen wissenschaftlichen Untersuchungen die
Lebensbedingungen in den Säuglingsheimen. Betroffene kommen in
Interviews zu Wort und schildern ihre heutige Sicht auf die Zeit im
Heim.
Inhaltsverzeichnis
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Fünf Gründe für eine Geschichte des Säuglingsheims
Teil I: Die Sozialgeschichte des Säuglingsheims
1. Eine Million Kinder, mindestens
Säuglingsheime waren bis in die 60er Jahre weit verbreitet – und
hielten sich in der DDR sogar bis 1989
2. Warum ins Heim?
In der Bundesrepublik und der DDR kamen Kinder aus ähnlichen
Gründen in Säuglingsheime
3. Idylle und Horror
Die Lebensbedingungen in Säuglingsheimen
4. Dramatische Defizite
Forscherinnen stellten bei Säuglingsheim-Kindern erhebliche
Entwicklungsverzögerungen fest
5. Nicht in der Familie
Die Systeme von Wochenkrippen, Pflegefamilien und
Verschickungsheimen
Teil II: Die Sicht der Betroffenen
6. »Das Kind im Kartoffelsack war ich«
Mehr als zwei Jahre im Säuglingsheim, danach 13 Jahre im Kinder-
und Jugendheim: Klaus H. berichtet von Traumatisierungen und seiner
Suche nach den Akten
7. »Worauf soll ich denn wütend sein?«
Fritz H., Jahrgang 1968, ist der kleine Bruder von Klaus H. Er
wurde anderthalb Jahre nach Klaus geboren und war mit ihm zunächst
im Säuglingsheim, später in einem katholischen Kinderheim
8. »Meine frühe Kindheit ist keine Leerstelle«
Aufgewachsen in den Heimen der DDR: Klaus-Peter G. erzählt, dass er
sich dort zuhause fühlte
9. »Ich dachte, ich gehöre nicht zu dieser Familie«
Die Eltern fuhren in den Urlaub und ließen ihr Baby für einige
Wochen im Heim. Fünf Jahrzehnte später denkt Kathy B. über die
Auswirkungen nach
10. »Immerhin hatten sie sonntags eigene Kleider«
Fünf Jahre lang leitete Annelore D. ein Säuglingsheim in der DDR.
Anfangs konnten die Zweijährigen dort noch keine Treppe
hochgehen
11. »Die Kinder haben den Oberkörper so merkwürdig bewegt«
Brigitte R. arbeitete in den 60er Jahren ehrenamtlich in einem
Säuglingsheim. Sie beobachtete überforderte katholische Nonnen und
kindlichen Hospitalismus
12. »Kurze Aufenthalte bergen ein geringeres Risiko«
Der Psychologe Gottfried Spangler beschreibt, wie die aktuelle
Forschung Säuglingsheime beurteilt – und was das für Betroffene
bedeutet
Teil III: Die Wissensgeschichte des Säuglingsheims
13. Hygiene und Härte
Kindheitsvorstellungen bis zum Zweiten Weltkrieg
14. Das neue Bild vom Kind
Triebgesteuerter Tyrann oder liebesbedürftiges Wesen? Der
Perspektivwechsel der Psychoanalyse
15. Die Entdeckung Bowlbys
Wie die frühe Bindungstheorie nach Deutschland kam
16. Sickereffekte und Blockaden
Was in der deutschen Fachwelt ankam
17. Das lange Zögern
Neue Ideen von Kleinkinderziehung drangen in Deutschland nur
langsam durch
Sechs Fragen
Abschließende Überlegungen zur Geschichte des Säuglingsheims
Dank …
Rezensionen
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Scharf Links. Die ›neue‹ linke online Zeitung, 28. Mai 2023
Rezension von Michael Lausberg
»Dies ist eine erste längere Arbeit zu dem Thema, das als Grundlage für notwendige weitere intensivere Forschungen dienen kann. Leider liegt die Perspektive meist auf die der BRD und es bleiben noch Leerstellen für die DDR. Dennoch bleibt das Buch als pädagogische Institutionsgeschichte mit den psychosozialen Folgen und einem authentischen Blick aus der Sicht von Betroffenen wertvoll…«
Thüringische Landeszeitung am 15. April 2023
Rezension von Hanno Müller
»Das Buch beschreibt ein System von Kinderverwahranstalten, in denen das wenige Personal kaum Zeit hatte für die grundlegendsten Bedürfnisse der Kleinen wie Hygiene oder Nahrungsaufnahme. Kinder saßen apathisch den ganzen Tag in ihren Bettchen oder wurden stundenlang auf dem Topf festgebunden. Beschäftigte in Ost und West beklagten in den 1950er-Jahren die ständige Eile. Eine ostdeutsche Kinderärztin berichtete vom deutlichen Zurückbleiben der sozialen Reaktionen, neurotischen Symptomen, vermehrtem Bettnässen oder stereotypen Schaukelbewegungen, was auch als Hospitalismus beschrieben wurde…«
taz – die tageszeitung am 4. April 2023
Rezension von Manuala Heim
»Die Geschichte der Säuglingsheime in Deutschland ist dramatisch, sagt Historiker Felix Berth im erschütternden taz-Interview mit Manuela Heim. Eine Million Kinder in Ost und West waren sich nahezu selbst überlassen…« [mehr]
Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. März 2023
Rezension von Felix Berth
»Auch in der DDR wusste man, dass der frühe Aufenthalt in Säuglingsheimen die Bindungsfähigkeit der Kinder stört, nur durfte das nicht offiziell gesagt werden…« [mehr]