Ada Borkenhagen, Elmar Brähler (Hg.)

psychosozial 135: Intersexualitäten

(37. Jg., Nr. 135, 2014, Heft I)

Cover psychosozial 135: Intersexualitäten

EUR 19,90

Dieser Titel ist derzeit vergriffen.

Zeitschrift: psychosozial (ISSN: 0171-3434)

Verlag: Psychosozial-Verlag

152 Seiten, Broschur, 165 x 240 mm

Bestell-Nr.: 8113

Ein Merkmal westlicher Kulturen der letzten Jahre ist eine Flexibilisierung der Geschlechterordnung. Besonders in den Sozialwissenschaften ist die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit zu einem Allgemeingut avanciert. Aber welchen Problemen sehen sich Menschen mit Geschlechtsvarianten gegenüber? Wie wird ihre Problemlage von politischer wie von wissenschaftlicher Seite her konzeptualisiert? Und last, but not least, wie reagiert das Medizinsystem? Diesen Fragen widmen sich die Beiträge des Themenschwerpunktes »Intersexualitäten«.

Hinweis der Redaktion:
In der Print-Ausgabe des Heftes ist uns im »Editorial« auf S. 6 ein Fehler unterlaufen. Die AutorInnen des Beitrages »Das Geschlechtsrollenselbstkonzept von Erwachsenen. Eine Überprüfung der deutschsprachigen Version des Personal Attributes Questionnaire (PAQ)« werden hier in falscher Reihenfolge genannt. Die richtige Reihenfolge lautet: Susanne Goldschmidt, Katja Linde, Dorothee Alfermann & Elmar Brähler. Wir bitten, dieses Versehen zu entschuldigen.

Zur Homepage der Zeitschrift: www.psychosozial.psychosozial-verlag.de

Diese Publikation enthält:

Inhaltsverzeichnis

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Inhalt

Schwerpunktthema: Intersexualitäten

Editorial

W, M, X – schon alles?
Zu der neuen Vorschrift im Personenstandsgesetz und der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu Intersexualität
Konstanze Plett

Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zum Thema Intersexualität und ihr Echo bei Betroffenenverbänden und in der Politik
Evelyn Kleinert

Die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats und der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin in kritischer Perspektive
Kathrin Zehnder

»Reden wir wirklich vom Gleichen?«
Qualitative Expertenbefragung zu multi-, inter- und transdisziplinären Ansätzen im professionellen
Umgang mit Störungen und Variationen der biologischen Geschlechtsentwicklung
Jürg C. Streuli, Markus Bauer, Rita Gobet, Birgit Köhler, Karin Plattner, Daniela Truffer, Knut Werner-Rosen & Brigitte Wyniger

Geschlechtliche Uneindeutigkeit, soziale Ungleichheit?
Zum Alltagserleben von intersexuellen Kindern
Katja Sabisch

Geschlechtsidentität bei Intersexualität
Psychoanalytische Perspektiven
Katinka Schweizer

Heterosexuelle Normalität oder sexuelle Lebensqualität?
Behandlungsziele im Wandel
Verena Schönbucher, Julia Ohms, David Garcia Núñez, Katinka Schweizer & Hertha Richter-Appelt

Freie Beiträge

Das Geschlechtsrollenselbstkonzept von Erwachsenen
Eine Überprüfung der deutschsprachigen Version des Personal Attributes Questionnaire (PAQ)
Susanne Goldschmidt, Katja Linde, Dorothee Alfermann & Elmar Brähler

Das depressive Subjekt als Stütze des neoliberalen Systems
Die soziale Funktion einer individualisierten Dysfunktion
Ulrike Mensen

Asyle Revisited
Anmerkungen zu Goffmans Analyse sozialer Ausgrenzung und Kontrolle
Johann August Schülein

Rezensionen



Zusammenfassungen und Abstracts

W, M, X – schon alles?
Zu der neuen Vorschrift im Personenstandsgesetz und der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu Intersexualität
Konstanze Plett

Zusammenfassung: Seit November 2013 gibt es eine neue Vorschrift im Personenstandsgesetz, der zufolge Kinder, deren Geschlecht nicht eindeutig weiblich oder eindeutig männlich ist, ohne Geschlechtsangabe im Geburtenregister eingetragen werden müssen. Damit ist einer der vielen Aspekte, die der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme »Intersexualität« vom Februar 2012 behandelt hat, gesetzlich geregelt worden. In diesem Beitrag wird zum einen die neue Regelung im Hinblick auf ihre Umsetzung und offengebliebene Fragen näher betrachtet, zum anderen wird die nächste, aus Sicht vieler Verbände noch dringendere rechtspolitische Aufgabe – die Zulässigkeit von Genitaloperationen an Minderjährigen – anhand der Stellungnahme des Ethikrats näher untersucht.

Schlagwörter: Intersexualität, Personenstand, Geschlechtseintrag, Deutscher Ethikrat, AGS, CAIS, PAIS, Genitaloperationen an Minderjährigen, Tumorrisiko, Gonadektomien, Hormonersatztherapie

Abstract: F, M, X – That’s All? On the new provision in the German Personal Status Act and the German Ethics Council/'s opinion on intersexuality
The German Personal Status Act has a new provision since November 2013, providing that children whose sex is neither female nor male have to be registered after birth with no entry in the sex category. Hence one of the many aspects, dealt with by the German Ethics Council in its opinion on intersexuality from February 2012, has been regulated by law. This article examines the new provision, regarding especially its implementation and unsettled questions. Moreover, it discusses the next legal-political task – which is even more pressing in view of the many intersex groups: genital surgery in minor children – on the basis of the Ethics Council opinion.

Keywords: intersexuality, personal status, sex registry, German Ethics Council, CAH, CAIS, PAIS, genital surgery in minors, tumor risk, gonadectomy, hormone replacement therapy


Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zum Thema Intersexualität und ihr Echo bei Betroffenenverbänden und in der Politik
Evelyn Kleinert

Zusammenfassung: Nachdem die Bundesregierung von der UN dazu aufgefordert wurde, die Menschenrechte von Menschen mit Intersexualität zu schützen, erging der Auftrag an den Deutschen Ethikrat, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Basierend auf einer Online-Befragung von 199 Betroffenen, wissenschaftlichen Stellungnahmen, einer öffentlichen Anhörung und einem Online-Diskurs entwickelte der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme, in der unter anderem eine bessere Ausbildung des medizinischen Personals, die Einrichtung interdisziplinärer Kompetenzzentren, die Einführung einer dritten Kategorie im Personenstand sowie der Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit von intersexuell geborenen Kindern gefordert werden. Auch eine unkomplizierte Übernahme der Kosten für Medikamente durch die Krankenkassen sowie Entschädigungszahlungen für Betroffene, die unter bereits stattgefundenen medizinischen Behandlungen zu leiden haben, werden empfohlen.

Schlagwörter: Intersexualität, Deutscher Ethikrat, Dritter Geschlechtseintrag, AGS, geschlechtsangleichende Operationen

Abstract: German Ethics Council’s statement on intersexuality and its echo among affected persons’ lobbies and among politicians
After the UN requested the federal government to protect the human rights of intersex people, the German Ethics Council was assigned the mandate to address this issue. Based on an online survey of 199 affected persons, several scientific opinions, a public hearing, and an online discussion, the German Ethics Council came to the opinion, that the following changes are called for: better training of medical personnel, the establishment of interdisciplinary centers of excellence, the introduction of a third category in the civil status of a person, as well as the urgent protection of the physical and mental integrity of intersex infants. They also recommend a simple coverage of the costs of drugs by health insurance funds, and compensations for victims who have suffered medical treatments.

Keywords: Intersexuality, German Ethics Council, third gender entry, AGS, sex reassignment surgeries


Die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats und der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin in kritischer Perspektive
Kathrin Zehnder

Zusammenfassung: Sowohl der Deutsche Ethikrat, als auch die Schweizerische Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin haben im Jahr 2012 eine umfassende Stellungnahme zur »Problematik« der Intersexualität verfasst. Beide Kommissionen geben nebst ethischen, rechtlichen und medizinischen Überlegungen zahlreiche Empfehlungen zum künftigen Umgang mit Menschen mit Geschlechtsvarianten ab. Im vorliegenden Artikel werden die beiden Stellungnahmen einerseits hinsichtlich ihrer Inhalte bezüglich der Legitimität medizinischer Eingriffe analysiert. Umstritten und schwierig sind nach Meinung der Autorin das Abwägen des Kindeswohls, die Rolle der Eltern und die Unterscheidung von geschlechtsvereindeutigenden und geschlechtsbestimmenden Eingriffen. Im Weiteren werden die Empfehlungen zur praktischen Umsetzung und zu kurzfristigen Neuerungen einer kritischen Würdigung unterzogen. Schließlich soll die aktuelle Debatte um zwei Perspektiven erweitert werden, die in der Diskussion um Geschlechtsvarianten häufig ungehört bleiben, jedoch als Ergänzungen und Hilfestellung zum praktischen Umgang mit DSD/Geschlechtsvarianten hilfreich sind.

Schlüsselwörter: Deutscher Ethikrat, Schweizerische Nationale Ethikkommission, Geschlechtsvarianten, Intersex

Abstract: The Opinions of the German Ethics Council and the Swiss National Advisory Commission on Biomedical Ethics – Critical Perspectives
The German Ethics Council as well as the Swiss National Advisory Commission on Biomedical Ethics published an extensive statement on the »difficulties« of intersex. Both commissions give numerous recommendations on ethical, legal and medical issues and the future handling of persons with variations of sexual development. In the presented article both statements are analyzed with respect to the legitimacy of medical treatment. In the opinion of the author, the arguments concerning the best interest of the child, the role of the parents, and the distinction of sex assigning and sex clarifying treatments are controversial and difficult. Furthermore the recommendations regarding the practical implementation and short-term alterations are critically acclaimed. Finally, the actual debate shall be extended with two perspectives, which frequently stay unheard but could be helpful for the practical handling of DSD/ sex variations.

Keywords: German Ethics Council, Swiss National Advisory Commission on Biomedical Ethics, differences of sex development, intersex


»Reden wir wirklich vom Gleichen?«
Qualitative Expertenbefragung zu multi-, inter- und transdisziplinären Ansätzen im professionellen Umgang mit Störungen und Variationen der biologischen Geschlechtsentwicklung
Jürg C. Streuli, Markus Bauer, Rita Gobet, Birgit Köhler, Karin Plattner, Daniela Truffer, Knut Werner-Rosen & Brigitte Wyniger

Zusammenfassung: Basierend auf Expert_inneninterviews haben wir die Bedeutung von multi-, inter-, und transdisziplinären Zusammenarbeiten untersucht. Während Multidisziplinarität als Addition von Wissen von Fachpersonen und Disziplinen betrachtet werden kann, lässt Interdisziplinarität die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwinden und kreiert damit Raum für neue Ideen sowie eine Sensibilität für Probleme, die bisher nicht gesehen und erkannt worden sind. Transdisziplinarität lässt darüber hinaus die Grenzen zwischen Fachpersonen und Betroffenen verschwinden. Es wird deutlich, dass es nicht ausreicht, wenn sich Fachpersonen aus unterschiedlichen Disziplinen mit dem Etikett des »multidisziplinären Teams« zusammensetzen, um anhand der zusammengetragenen biologischen und psychosozialen Fakten den Eltern und/oder den Patient_innen eine Empfehlung zu geben. Die Vielschichtigkeit und Prozesshaftigkeit von DSD erfordert von den Fachpersonen erstens die Fähigkeit sich multi-, inter- und transdisziplinär mit den verschiedenen Fragestellungen auseinanderzusetzen und zweitens die jeweilige Zusammensetzung der Teams der jeweiligen Fragestellung und den Bedürfnissen der Eltern und des heranwachsenden Menschen über die Zeit anzupassen.

Schlüsselwörter: Professionalität, Transdisziplinarität, Interdisziplinarität, Intersexualität, DSD, Ethik in der Pädiatrie, Kinderrechte, Kindeswohl, Aktionsforschung

Abstract: »Do we speak of the same?« Qualitative interviews on the meaning of multi-, inter-, and transdisciplinary teams in disorders or differences of sex development
Based on qualitative interviews we delineated the meaning of multi-, inter-, and transdisciplinary teams. While multidisciplinarity is an addition of knowledge from experts and disciplines, interdisciplinarity is stashing away frontiers between disciplines and subsequently creating space for new ideas as well sensibility for problems, which would not have been discovered by isolated disciplines. Transdisciplinarity, finally, rips down the wall between disciplines, patients and advocacy groups. It came clear, that the mere label of »multidisciplinary teams« as demanded by the consensus statement, is not sufficient. The complexity of DSD firstly demands for competence in multi-, inter-, and transdisciplinary work with various stakeholders and, secondly, needs flexibility and openness to adapt a certain approach of disciplinarity according to individual questions, needs, and experiences of parents and patients with evolving capacities.

Keywords: disorders of sex development, differences of sex development, cross disciplinary communication, evolving capacities, professionalism, action research


Geschlechtliche Uneindeutigkeit, soziale Ungleichheit?
Zum Alltagserleben von intersexuellen Kindern
Katja Sabisch

Zusammenfassung: Invasive und irreversible chirurgische Eingriffe an intersexuellen Kindern werden oftmals soziologisch begründet: Säuglingen sollte frühzeitig ein Geschlecht zugewiesen werden, um spätere Diskriminierung zu vermeiden. Die ärztliche und elterliche Annahme, dass geschlechtliche Uneindeutigkeit mit sozialer Ungleichheit einhergeht, ist jedoch keinesfalls belegt. Der Beitrag zeigt anhand von narrativen Interviews mit drei Müttern von offen intersexuell lebenden Kindern, dass ein doing inter im Alltag möglich ist und nicht mit sozialer Exklusion einhergeht.

Schlüsselwörter: Intersexualität, Soziologie, soziale Ungleichheit, qualitative Sozialforschung, Lebenslagenansatz

Abstract: Gender Ambiguity, Social Inequality? Everyday Experiences of Intersex Children
Invasive and irreversible surgeries on intersex children are often justified by sociological arguments: babies with intersexed genitals should as soon as possible be assigned to one gender to avoid subsequent discrimination. However, the assumption of physicians and parents that gender ambiguity comes along with social inequality has never been proved. The paper illustrates – on the basis of three narrative interviews with mothers of intersex children – that doing inter in everyday life is possible and not attended by social exclusion.

Keywords: intersex, sociology, social inequality, qualitative social research, livelihood approach


Geschlechtsidentität bei Intersexualität
Psychoanalytische Perspektiven
Katinka Schweizer

Zusammenfassung: Dieser Beitrag widmet sich dem Konzept der Geschlechtsidentität. Er hinterfragt ein dichotomes Geschlechtermodell und zeigt dessen Grenzen auf, insbesondere in Hinblick auf das subjektive Wesen des individuellen Geschlechtserlebens, wie es sich bei Menschen mit Intersexualität (Divergenzen der Geschlechtsentwicklung) zeigt. Beispiele aus der Hamburger Studie zur Intersexualität unterstreichen die Vielfalt des subjektiven Geschlechtsidentitätserlebens. Darauf aufbauend ist ein zentrales Anliegen des Textes, anhand verschiedener Grundannahmen aufzuzeigen, dass die psychoanalytische Theorie für das Verständnis des Geschlechtsidentitätserlebens bei Intersexualität besonders geeignet erscheint. Die Autorin sieht eine wichtige Aufgabe nicht nur in der Anwendung, sondern auch in der Fortschreibung der psychoanalytischen Theorie unter stärkerer Berücksichtigung von Intersexualität und anderen geschlechtlichen Realitäten und Varianten, die jenseits und neben den vertrauten Kategorien von Frau und Mann existieren.

Schlüsselwörter: Geschlecht, Geschlechtsidentität, Geschlechtserleben, Psychoanalyse, psychoanalytische Theorie, Körpererleben, Intersexualität, Divergenzen der Geschlechtsentwicklung, Störungen der Geschlechtsentwicklung

Abstract: Gender identity in individuals with intersex* conditions. Psychoanalytic perspectives
This paper focuses on the concept of gender identity. It questions a dichotomous gender model and addresses its barriers especially when dealing with the subjective nature of individual gender experience as it is shown by people with intersex* conditions (divergences of sex development, DSD). Examples from the Hamburg Intersex Study illustrate the variety of subjective gender identity experience. For these reasons, it is a central aim in showing that psychoanalytic theory appears to be particularly useful and eligible for a better understanding of gender identity experience in individuals with intersex conditions. According to the author it is an important task not only to apply psychoanalytic theory but also to promote its advancement and commitment towards taking into account intersex conditions and other psychosexual and somatosexual realities and variants beyond and beside the common categories woman and man.

Keywords: gender, gender identity, gender experience, psychoanalysis, psychoanalytic theory, body experience, intersexuality, divergences of sex development (DSD), disorders of sex development (DSD)


Heterosexuelle Normalität oder sexuelle Lebensqualität?
Behandlungsziele im Wandel
Verena Schönbucher, Julia Ohms, David Garcia Núñez, Katinka Schweizer & Hertha Richter-Appelt

Zusammenfassung: Der Artikel hinterfragt kritisch die in der Medizin verbreitete Vorstellung, dass Personen mit Intersexualität nur dann eine befriedigende Sexualität leben können, wenn ihre Geschlechtsorgane chirurgisch möglichst dem weiblichen oder männlichen Geschlecht angepasst werden, sodass »heterosexueller« Geschlechtsverkehr möglich wird. Ergebnisse der Hamburger Studie zu Intersexualität bestätigen den bisherigen Forschungsstand, dass die sexuelle Lebensqualität von Personen mit Intersexualität deutlich geringer ist als diejenige von Menschen mit eindeutigem Geschlecht. Somit ist das Ziel der Medizin, Personen mit Intersexualität mittels geschlechtsangleichender Operationen eine möglichst »normale« psychosexuelle Entwicklung zu ermöglichen, bisher nicht erreicht worden. Die Autorinnen und Autoren plädieren dafür, den heterosexistischen Diskurs in der medizinischen Behandlung von Personen mit Intersexualität zu überdenken und vielmehr die sexuelle Lebensqualität der betroffenen Menschen ins Zentrum zu rücken. Dies umfasst weit mehr als »heterosexuelles« Funktionieren und steht in einem Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren wie beispielsweise positiven Bindungserfahrungen in der Kindheit oder einer tragenden Partnerschaft.

Schlüsselwörter: Intersexualität, Sexualität, Varianten der biologischen Geschlechtsentwicklung, Disorders of Sex Development

Abstract: Heterosexual normality or sexual quality of life?
This article challenges the predominant idea in medicine that people with intersex conditions (disorders of sex development) can only have satisfying sex lives if their ambiguous genitals are surgically adjusted to either the female or the male sex in order to have heterosexual intercourse. Findings from the Hamburg Intersex Study confirm previous research results that sexual quality of life of people with intersex conditions is seriously impaired compaired to people without intersex conditions. This means that the aim of medicine – to enable people with intersex conditions a »normal« psychosexual development by sex-adjusting surgery – has not been achieved. The authors plead in favour of rethinking the current heterosexist discourse in medical treatment of people with intersex conditions and focusing more on sexual quality of life. The latter comprises far more than »heterosexual« functioning and is influenced by psychosocial factors such as the quality of parent-infant relationships or the current relationship status.

Keywords: intersexuality, sexuality differences of sex development, disorders of sex development


Das Geschlechtsrollenselbstkonzept von Erwachsenen
Eine Überprüfung der deutschsprachigen Version des Personal Attributes Questionnaire (PAQ)
Susanne Goldschmidt, Katja Linde, Dorothee Alfermann & Elmar Brähler

Zusammenfassung: Die deutschsprachige Version der Maskulinitäts- und Femininitätsskala des Personal Attributes Questionnaire (PAQ) von Runge et al. (1981) wurde an einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung (N = 2428) überprüft. Eine konfirmatorische Faktoranalyse konnte die zweifaktorielle Struktur der Skalen für beide Geschlechter bestätigen. Nicht erwartungsgemäß fand sich eine Interkorrelation der Skalen von r = 0,48, sodass ein Modell korrelierender Faktoren angemessen ist. Wie erwartet fanden sich Geschlechterunterschiede, indem Männer in M+ höhere und in F+ niedrigere Werte als Frauen erreichten, sodass getrennt für Männer und Frauen bevölkerungsrepräsentative Normwerte angegeben werden. Zur weiteren Validierung wurden Maße zu Indikatoren der psychischen Gesundheit (Angst, Depression, Selbstwertgefühl, Resilienz) und der Lebenszufriedenheit erhoben. Erwartungsgemäß fanden sich hohe positive Zusammenhänge der M+ Skala zum Selbstwertgefühl und zur Resilienz sowie negative Korrelationen zu Angst und Depression. Die Korrelationen fielen für die F+ Skala etwas niedriger aus. Die Korrelationen von PAQ und Lebenszufriedenheit fielen niedriger aus als erwartet.

Schlüsselwörter: Geschlechtsrollenselbstkonzept, Maskulinität, Femininität, psychische Gesundheit, Normierung

Abstract: The Gender Role Self-Concept of Adults – A German Standardisation of the Personal Attributes Questionnaire (PAQ)
The M+ and F+ scales of the German version of the Personal Attributes Questionnaire (PAQ) by Runge et al. (1981) were tested in a representative German sample (N = 2428). A confirmatory factor analysis revealed the expected two-factorial structure of the scales for both genders. Unexpectedly, M+ and F+ correlated with r = 0,48. This means that a factor model of correlating factors is appropriate. As hypothesized, males scored higher than females on M+ and lower on F+. For both scales, representative norms for the German population were derived. Validating the scales further we assessed the correlations of M+ and F+ with four scales of psychological health and with eight rating scales of life satisfaction. As expected, M+ correlated positively with self-esteem and resilience, and negatively with anxiety and depression. The correlations were lower but significant for the F+ scale. The correlations with life satisfaction were lower than expected.

Keywords: gender role self-concept, masculinity, femininity, expressiveness, instrumentality, mental health, standardization


Das depressive Subjekt als Stütze des neoliberalen Systems
Die soziale Funktion einer individualisierten Dysfunktion
Ulrike Mensen

Zusammenfassung: Ausgehend vom stetigen Anstieg der Depressionsdiagnosen in Deutschland untersucht die Autorin den gesellschaftlichen westeuropäischen Kontext in dem dieses Krankheitsbild vermehrt hervorgebracht bzw. identifiziert wird. Zunächst wird die neoliberale Entwicklung seit den 1990er Jahren umrissen, um dann die wechselseitige Konstitution zwischen den spätmodernen Phänomenen der Beschleunigung, Flexibilisierung und Prekarisierung und dem depressiven Subjekt herauszuarbeiten. Die Spätmoderne, von stetiger und rasanter Veränderung geprägt, bietet kaum Zeit und Möglichkeit für bleibende Objektbesetzungen wie feste Beziehungen, Arbeitsplätze und Wohnorte, erschwert die psychische Entwicklung und fördert den Rückzug auf das Selbst. Die Depression bildet somit gewissermaßen die Kehrseite des sogenannten Leistungssubjekts, das sich durch ein schillerndes, unabhängiges, dem Imperativ zur Selbstverwirklichung folgendes Selbst auszeichnet. Anders gesagt: Trauer, Erschöpfung und Melancholie sind der sichtbare »Abfall« einer sozial erwünschten narzisstischen Akzentuierung. Zuletzt wird diskutiert, inwiefern die Häufung der Depressionsdiagnose keine Schwächung, sondern eine Stärkung des neoliberalen Systems darstellen könnte, indem der soziale Nutzen der individualisierten Pathologie aufgezeigt wird.

Schlüsselwörter: Depression, Spätmoderne, Flexibilisierung, Beschleunigung, Prekarisierung, Leistungssubjekt, narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung

Abstract: The depressive subject as a prop for the neoliberal system. The social function of an individualised dysfunction
Taking the constant increase of diagnoses of depression in Germany as a starting point, the author explores the social western European context in which this syndrome is increasingly produced, or rather identified. After outlining the neoliberal development since the 1990s, she then maps out how the postmodern phenomena of acceleration, flexibilisation and precarisation on the one hand and the depressive subject on the other hand mutually constitute each other. The postmodern era, characterised by constant and rapid change, offers little time and opportunity for lasting cathexes like binding relationships, permanent jobs and domiciles. It compounds psychic development and furthers regression to the self. In a way, depression is the reverse side of the so-called »performance-orientated subject«, characterised by an iridescent, independent self that follows the imperative of self-fulfilment. In other words: sorrow, exhaustion and melancholy can be seen as the visible refuse of a socially desired narcissistic accentuation. Finally the author discusses in how far the increase in diagnoses of depression may constitute a strengthening rather than a weakening of the neoliberal system, demonstrating the social benefits of an individualised pathology.

Keywords: depression, postmodern era, flexibilisation, acceleration, precarisation, performance-orientated subject, narcissistic accentuation of the self


Asyle Revisited
Anmerkungen zu Goffmans Analyse sozialer Ausgrenzung und Kontrolle
Johann August Schülein

Zusammenfassung: Goffmans berühmte Untersuchung einer psychiatrischen Anstalt hat methodisch, theoretisch und politisch Geschichte geschrieben. Sie ist auch heute noch instruktiv. Allerdings zeigen sich im Zeitabstand auch Unzulänglichkeiten in der Konstruktion. Besonders die radikale Ausgrenzung von Psychodynamik erweist sich als Problem und macht Weiterentwicklungen erforderlich.

Schlüsselwörter: Institutionstheorie, gesellschaftlicher Umgang mit Psychodynamik

Abstract: Asylum Revisited. On Goffman’s concept of exclusion and control
Goffman’s famous analysis of a psychiatric institution has had (and still has) enourmous methodological, theoretical and political impact. Nevertheless, reviewed after more than fifty years the limitiations of his concept are obious. Especially the avoidance of any psychodynamic point of view is a problem which has to be addressed.

Keywords: theory of institutions, social handling of psychodynamics

Rezensionen

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literaturkritik.de Nr. 9, September 2014

Rezension von Heinz-Jürgen Voß

»Insgesamt ist die Ausgabe der Zeitschrift ›psychosozial‹ sehr lesenswert. Sie gibt einen guten Abriss über aktuelle Diskussionen um Intersexualität und bringt punktuell neue Perspektiven und Ergebnisse ein…« [mehr]