Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim und Heidelberger Institut für Tiefenpsychologie (Hg.)

Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 50: Ästhetik - Robotik

Nr. 50, 2013, Heft 2

Cover Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 50: Ästhetik - Robotik

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Zeitschrift: Psychoanalyse im Widerspruch (ISSN: 0941-5378)

Verlag: Psychosozial-Verlag

145 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm

Bestell-Nr.: 8105

Die »Psychoanalyse im Widerspruch« hat eine Denkfigur der Psychoanalyse zu ihrem Programm gemacht: die Kontroverse - denn seit 1900 ist kein Kernbegriff dieser unruhigen Disziplin widerspruchslos akzeptiert worden. Seit der Gründerzeit reizen ihre Aussagen in der Gesellschaft zum Widerspruch. Und für die Psychoanalyse als Theorie innerer und äußerer Konflikte ist das Widersprechen essentiell.

Zu den thematischen Schwerpunkten der Zeitschrift zählen die Geschichte der Psychoanalyse in Europa und auf anderen Kontinenten, gesellschaftspolitische und kulturtheoretische Probleme, Kunst und Film, klinische Fragestellungen sowie die Aktualität der Psychoanalyse im interdisziplinären Netzwerk. Zuvor unveröffentlichte Dokumente Sigmund Freuds und anderer historischer Figuren der Psychoanalyse tragen ebenso zum Profil der Zeitschrift bei wie Texte von Marie Langer, Mark Solms, Emilio Modena, Léon Wurmser, Micha Brumlik, Rolf Vogt, Paul Parin oder Antonino Ferro. Über die Beiträge zu den Schwerpunktthemen hinaus bietet die Zeitschrift Rezensionen und Veranstaltungshinweise.

Diese Publikation enthält:

Inhaltsverzeichnis

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Inhalt

Editorial

Sebastian Leikert
Vier Thesen zu einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik

Ulrich Pfarr
Unheimlich geworden und doch wieder aktuell: Einfühlung, Projektion und Übertragung

Gerlinde Gehrig
Psychose, Halluzination und Traum – Anmerkungen zur Freud-Lektüre Walter Benjamins

Dietmar Bruckner, Dietmar Dietrich, Heimo Zeilinger, Daniela Kowarik, Peter Palensky, Klaus Doblhammer, Tobias Deutsch und Georg Fodor
ARS: Eine technische Anwendung von psychoanalytischen Grundprinzipien für die Robotik und Automatisierungstechnik

Filmbesprechung

Gerhard Schneider und Gabriele Witt-Schneider
Wovon man sich lösen will, dahin muß man (zurück)
Der psychoanalytische Prozeß in Tom Tykwers Der Krieger und die Kaiserin (2000)

Rezensionen

Psychoanalytiker/innen diskutieren Filme

Autorinnen und Autoren dieses Heftes



Zusammenfassungen und Abstracts

Sebastian Leikert
Vier Thesen zu einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik

Zusammenfassung: (I) Eine psychoanalytische Theorie der sinnlichen Wahrnehmung (Aisthesis) als Basis einer psychoanalytischen Ästhetik existiert nur in Bruchstücken: mit dem Konzept der kinästhetischen Semantik wird eine solche Theorie vorgeschlagen. (II) Dominieren Wahrnehmungsprozesse das psychische Geschehen, so kommt es zu einem Wechsel innerhalb der Objektbeziehung von der gewohnten, sprachlich-reflexiven Ordnung, die Subjekt und Objekt unterscheidet, hin zu einer fusionellen Beziehung, welche die Basis für die ästhetische Wirkung ist. (III) Entlang der Musik werden die grammatischen Regeln und die korrespondierende Form der Beziehung zum ästhetischen Objekt untersucht. Prozesse der Ritualisierung lassen sich herausarbeiten. (IV) In einem weiteren Schritt werden die hier erkannten Strukturen, auch in ihrer Bedeutung für Poesie und Malerei gezeigt. Ihre Rolle im ästhetischen Prozeß wird untersucht.

Abstract: The article lines out four theses leading to the elaboration of a general psychoanalytic aesthetic theory. (I) A psychoanalytical theory of the perceptive process exists only in fragments. An aesthetic theory, however, must be based on psychoanalytical comprehension of perception. The concept of the kinaesthetic semantics provides such a theory. (II) If perception dominates the psychic functioning, a change in the object-relation is initiated, that shifts from the habitual reflexive and language induced pattern, where subject and object are clearly discerned, to a fusional way of object-relation, which is at the base of the aesthetic phenomenon. (III) The rules and patterns of this functioning are lined out by analyzing musical structures and their impact on the psychic process. The shape of the sequences that can be observed in music can be lined out as a ritualization. (IV) Such ritualizations can also be discovered in poetry and painting. Their role in the aesthetic process is investigated.


Ulrich Pfarr
Unheimlich geworden und doch wieder aktuell: Einfühlung, Projektion und Übertragung

Zusammenfassung
: Den psychoanalytischen Konzepten der Empathie, Projektion und Übertragung ist die bewußte Distanzierung von einer problematischen Vorgeschichte dieser Begriffe inhärent, welche diese zugleich mit bildlichen Phänomenen der Zeit um 1900 und aktuellen Diskursen der Kunstwissenschaft verknüpft. Nachdem die Kunstgeschichte ihr Erbe der Einfühlungspsychologie weitgehend ignoriert hat, erlebt sie nun einen Import von Modellen und Ideologien der Einfühlung aus der Neurobiologie, die teils direkt übernommen, teils über die Filmwissenschaft vermittelt werden. Gleichzeitig mit der Popularisierung der »Spiegelneuronen« verleiht auch die Diskussion über drastische Fälle von Jugendgewalt der Frage nach den Voraussetzungen des Vermögens zur Einfühlung neue Aktualität. Aus psychoanalytisch informierter Sicht zeigt sich freilich die Komplexitätsreduktion der neurowissenschaftlich dominierten Ansätze. Deren mangelnde Differenzierung zwischen verschiedenen Modi der Synchronisierung und Intersubjektivität ist methodisch weder der emotionalen Rezeption von Kunstwerken, noch der Erforschung sozialpsychologischer Fehlentwicklungen angemessen. Anhand der Figur eines Christus an der Geißelsäule und der Fotografien von Muntean/Rosenblum werden in diesem Artikel Konzepte von Einfühlung im Barock und in der Gegenwartskunst vor dem Hintergrund heutiger Theorien exemplarisch befragt. Zielt die Skulptur primär auf eine Erschütterung des Betrachters, so führen die Fotografien eine Diskrepanz zwischen verschiedenen Ausdrucksebenen vor, die den komponentialen Affekttheorien zu korrelieren scheint.

Abstract: The psychoanalytical concepts of empathy, projection and transference imply the intentional detachment from the problematic prehistory of those terms, which connects them both to visual culture around 1900 and to current discourses in Visual Studies. After art history has mostly ignored its legacy of »Einfühlungspsychologie«, it now undergoes the import of models and ideologies of empathy from neurobiology. They are partially adopted directly and partially they are transmitted by film studies. Concurrent with the popularization of the »mirror neurons« the debate on dramatic incidents of youth violence updates the interest in the foundations of the faculty to empathize. Indeed, a psychoanalytical informed perspective will reveal the reduction of complexity in neurobiological dominated contributions. Neglecting the differentiation of certain modes of synchronization and intersubjectivity
is methodically incompatible to the emotional reception of art works as well as to research in social diseases. To explore concepts of empathy in Baroque and in contemporary art in relation to modern theories, a sculpture of Christ at the Column and the photographic work by Muntean/Rosenblum will be exemplarily analyzed in this article. While the sculpture’s expressiveness primarily
aims at stunning the beholder, the photographs demonstrate a split between different components of expression which could correlate to the current componential affect theories.


Gerlinde Gehrig
Psychose, Halluzination und Traum – Anmerkungen zur Freud-Lektüre Walter Benjamins

Zusammenfassung: Trotz der anhaltenden intensiven Auseinandersetzung mit den Schriften Benjamins in den Kultur- und Medienwissenschaften wurde seine Rezeption der Texte Freuds bisher kaum untersucht. Dabei zeigen Benjamins Arbeiten zu Fotografie und Film, wie Kleine Geschichte
der Photographie und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, deutliche Spuren einer intensiven Freud-Lektüre, welche von Die Traumdeutung über Das Unheimliche bis hin zu Massenpsychologie und Ich-Analyse reicht. Benjamin verwendet psychoanalytische Begriffe und Erkenntnisse, um Veränderungen der visuellen Wahrnehmung zu beschreiben, welche in der Moderne durch die Massenmedien entstehen. Bei der Rezeption des fotografischen Bildes in Kleine Geschichte der Photographie legt er die gedankliche und affektive Struktur des Freudschen Unheimlichen zugrunde. In seinen Modellen der Filmrezeption, welche er in den verschiedenen Versionen von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt, verwendet er psychoanalytisches Wissen über innere Bilder wie Halluzination und Traum, um die Manipulationen zu beschreiben, welchen der Betrachter ausgesetzt ist. Dabei stellt er Slapstick- und Comicfilme der Bildpropaganda im Faschismus gegenüber. Bei seiner Lektüre legt Benjamin allerdings keine wissenschaftlich exakte, sondern eine kreative, aber darum nicht weniger aufschlußreiche und produktive Lesart der Theorien Freuds zugrunde, welche ihn zu einer hellsichtigen Kritik der Massenmedien Fotografie und Film führt. Somit formuliert er unter dem Einfluß der Schriften Freuds seine Schlüsseltexte zur Entwicklung der Bildmedien im 20. Jahrhundert.

Abstract: Although there exists a vital interest in Benjamin’s writings in the cultural and media studies, many aspects of his reading of Freud are still unknown. Benjamin’s texts concerning the modern mass media photography and film, like A short history of photography and The work of art in the age of mechanical reproduction, prove his knowledge of Freud’s writings like The interpretation of dreams, The uncanny and Mass psychology and the analysis of the ego. Benjamin uses psychoanalytic terms to describe the changing of visual perception caused by the mass media in the modern society. A good example is the description of his affective experiences while looking at photographs from the 19th century, when he obviously was inspired by the affective structure of Freud’s uncanny. In the different versions of The work of art in the age of mechanical reproduction Benjamin develops different models of the reception of film especially comic films and nazi propaganda films. His main interest is to show, how the subject is influenced by these images, without being aware of it. In this context he uses psychoanalytic knowledge of internal pictures like dream and hallucination, to show how the perception of the viewer is manipulated. Reading Freud Benjamin develops his own interpretation of psychoanalytic terms and concepts in a very creative and productive way, to formulate his critics of the modern mass media photography and film in two of his most important and most popular texts.


Dietmar Bruckner, Dietmar Dietrich, Heimo Zeilinger, Daniela Kowarik, Peter Palensky, Klaus Doblhammer, Tobias Deutsch und Georg Fodor
ARS: Eine technische Anwendung von psychoanalytischen Grundprinzipien für die Robotik und Automatisierungstechnik

Zusammenfassung
: Robotik und Automatisierungstechnik sehen sich stetig steigenden Anforderungen gegenüber, die darin bestehen, dass die Daten eines Steuerungsprozesses mit rein mathematischen Mitteln nicht mehr bewältigt werden können. Klassische Künstliche Intelligenz und Regelungstechnik kommen somit an ihre Grenzen und neue Lösungen sind gefragt. Bionische Ansätze, im Speziellen wie der Mensch Daten verarbeitet, könnten hier als Lösungsansatz dienen. Der Mensch bzw. menschliches Denken oder auch die menschliche Psyche sind in der Künstlichen Intelligenz schon Untersuchungsobjekte und werden in Form von kognitiven Architekturen schon intensiv erforscht. Jedoch wird in der Modellbildung dazu meist ein Bottom-up-Ansatz angewandt, der neuronale Strukturen des Gehirns oder bestimmte Verhaltensweisen des Menschen im Einzelnen imitiert.
In diesem Artikel wird dem gegenüber ein funktionales Modell der menschlichen Psyche vorgestellt, das in einem Top-down-Design die Psyche vorerst als Einheit sieht und diese dann sukzessive in ihre Funktionen unterteilt. Als Basis für die Funktionsbeschreibungen wird die psychoanalytische Metapsychologie Freuds herangezogen, die als einzige Theorie der Psyche eine ganzheitliche psychologisch-funktionale Beschreibung des menschlichen Fühlens, Denken und Handelns abgibt. Die Herleitung eines technischen Modells daraus genügt strengen wissenschaftstheoretischen Ansprüchen, indem bei Modellierung und Validierung Techniker interdisziplinär eng mit Psychoanalytikern und Neurowissenschaftlern zusammenarbeiten. Die Validierung des Modells erfolgt über eine Computersimulation im Rahmen eines psychoanalytischen Anwendungsfalls – einer sehr einfach gehaltenen Alltagssituation mit zwei handelnden Personen. Dabei wird auf Grund der inneren Komplexität von psychischem Funktionieren schon hier deutlich, wie hoch die Einstiegshürde für die Verwendung dieser Architektur tatsächlich ist. Andererseits erkennt man daraus die Baurichtung von wesentlich komplizierteren Anwendungsfällen, die mit anderen Ansätzen nicht in Betracht gezogen werden können. Wir sind sicher, dass dieser Ansatz ein neues Kapitel im Bereich der Allgemeinen Künstlichen Intelligenz eröffnet. Damit ist eine Struktur geschaffen, in der Maschinen erweiterte Handlungsfähigkeiten erhalten können. Beispiele dafür sind Haushaltsroboter, die mit Menschen interagieren oder hochflexible Automatisierungsstraßen. Als ein Nebenprodukt können erstmals auch psychoanalytische Modelle integriert in ein Gesamtsystem mittels Agentensimulation konkreten naturwissenschaftlichen Tests unterzogen werden.

Abstract: The requirements in robotics and automation continuously rise, leading to being no more able to handle process data with usual mathematical means. Classical Artificial Intelligence and control engineering come to their limits; new solutions are sought. Biomimetical approaches, in particular, how humans process data, could be used as templates. Humans, human thinking, or the human psyche, respectively, are already under investigation in Artificial Intelligence which has led to the advent of cognitive architectures. However, usually, a bottom-up approach is followed by copying neural structures of the brain or mimicking human behavior one by one. This article in the opposite introduces a functional model of the human psyche starting in a top-down fashion with the human psyche as the top function, which is the further sub divided. The theoretical base is constituted by the Freudian Metapsychology, the only comprehensive psychological functional theory of human feeling, thinking, and acting. The modeling process follows rigorous scientific theoretical aspirations, since engineers work interdisciplinary closely together with psychoanalysts and neuro scientists both in modeling and validation. Validation of the model is done via a computer simulation of a psychoanalytical use case – a simple daily situation involving two acting persons. However, due to the complex inner psychic functions, it shows how high the hurdle for utilizing such functional architecture actually is. On the other hand one can already recognize how to deal with much more complex use cases that
cannot be handled in another way. We are sure to open a new chapter in the field of Artificial General Intelligence. We created a structure that allows equipping machines with extended acting capabilities. Examples are household robots that interact with humans or highly flexible automation lines. As a side product, psychoanalytical models can for the first time be tested with natural scientific test methods,
being integrated in a total system of an agent simulation.