Die Vermittlung eigenen Erlebens im narrativen Modus ist eine
Praxis des Poetisierens, eine darstellende und beschwörende Form
des Sprechens, in der sich ein Individuum oder ein Kollektiv selbst
zum Ausdruck bringt, auf sich selbst verweist und das, was
erzählend zur Darstellung kommt, als bedeutsam und persönlich
involvierend vorführt. Es erstaunt daher nicht, dass sich die
Altersforschung dem biografischen Erzählen zuwendet. Sie
interessiert sich zunehmend für die narrative Selbstvergewisserung
als substitutiver Handlungswirklichkeit, als intergenerativer
Weitergabe und als Poesie eines Selbst- und Weltverhältnisses. Die
narrative Gerontologie (dazu der Tagungsbericht von Judith Rossow
und Mone Spindler Geschichten mit und ohne Bart: Narrative
Konstruktionen von Alter und Geschlecht in diesem Heft) ist in
besonderer Weise interessiert an der narrativen Herstellung von
Lebenswelt, die gerade im höheren Alter zur Chance mentalen
Integrierens gehört – einer Leistung, die seit Eriksons Modell
einer lebenslangen Entwicklung des Selbst- und Weltbezugs stark
beachtet wird. Das retrospektive Nacherleben, Gewichten, Werten und
Neubetrachten macht sich geltend, wenn die Ausrichtung auf Zukunft,
Planung und Einsatz für das bisher nicht Erreichte zurücktritt
zugunsten der Aneignung des Vergangenen.
Man will sagen können: So war es. So war ich. So bin ich. So ist
mein
Leben. Die Aneignung des Vergangenen geschieht auf persönliche und
individuelle Art. Es ist eine Herausforderung und ein kreatives
Vergnügen eigener Art, Biografisches aus der Vergangenheit und der
Gegenwart im persönlichen Gespräch vor einem aufmerksamen,
beteiligten Partner auszubreiten, der von außen kommt und nicht dem
gewohnten Kreis angehört. Vier Funktionen des Erzählens kommen in
unterschiedlicher Gewichtung zur Geltung: Erzählen im Dienste der
sozialen Integration: Die erzählende Selbstmitteilung fordert
soziale Resonanz und Kommentierung. Die Darbietung zielt auf ein
emotionales Echo des bedeutsamen sozialen Anderen ab; Erzählen im
Dienste der psychischen Restitution: Im Prozess des Erzählens wird
versucht, das Gewesene in Richtung auf das Wünschbare zu
korrigieren. In diesem Sinne dient die Erzählung dem Interesse
einer nachträglichen Erfüllung. Das Modellieren des Erzählprozesses
als Imperativ einer Wunscherfüllung steht in produktiver Spannung
zur Abwehrbewegung; zusätzlich muss die Erfüllungsdynamik
»Vermeidung von sozialer Ablehnung« publikumsgerecht gestaltet und
im Bedarfsfall verdeckt werden; Erzählen im Dienste psychischer
Reorganisation: Diese Modellierungsleistung ist eine
Bewältigungsstrategie seelischen Aufruhrs, mit der versucht wird,
erlittene Erschütterung, psychische Destabilisierung in negativer,
traumatisierender oder in positiver, euphorisierender Richtung im
Nachhinein durch wiederholtes Erzählen zu integrieren. Der aktive
Prozess des Gestaltens erhöht das Gefühl der Kontrollierbarkeit.
Und schließlich: Erzählen im Dienste der Vergegenwärtigung:
Erzählen ist Evokation von Vergangenheit in einem neuen
Beziehungskontext.
Marie-Luise Hermann präsentiert Narrative Gerontologie als
Literatur- und
Forschungsbericht. Katarzyna Swita gibt anhand ausgewählter
Beispiele Einblick in eine Interviewstudie (narrative
lebensgeschichtliche Interviews mit Personen im hohen Lebensalter),
die an der Universität Zürich durchgeführt wird. Erzählte Angst –
ein großes Thema. Erzählanalysen, wie wir sie auf der Basis von
Verbatimtranskripten an der Universität Zürich durchführen, weisen
darauf hin, dass sich zwei Prototypen narrativer Angstdarstellungen
unterscheiden lassen: einerseits risikofokussierte und andererseits
schädigungsfokussierte
Angstdarstellungen. Risikofokussierte Narrative thematisieren
die Konfrontation eines Ichs, einer Person mit einer
Bedrohungsattacke;
der Erzähler schildert, wie er ihr entkam, sich ihr stellte oder
sie
glücklich oder blessiert überwand. Schädigungsfokussierte
Angstdarstellungen stellen die Bedrohungssituation als übermächtig
und letztlich unentrinnbar dar, das Ich ist invasiven Attacken und
Blessuren ausgesetzt und thematisiert erzählend vor allem die
Schädigungsfolgen, die oft als bis in die Gegenwart reichend
geschildert werden. Es ist das Muster der schädigungsfokussierten
Angstdarstellung, das im psychotherapeutischen Kontext die zentrale
Rolle spielt, neben jenen – bei Gülich und Boothe im Folgenden
besonders wichtigen – Formen der Angstkommunikation, die Angst- und
Bedrohungsinhalte in der Latenz oder in der Ambivalenz zu halten
sucht. Angst lässt sich charakterisieren als alarmierte
psychophysische Verfassung bei Bedrohung der Integrität und
Intaktheit der eigenen Person, bedeutsamer Anderer und bedeutsamer
Güter angesichts einer negativen Kräftebilanz zu den eigenen
Ungunsten. Das Bedrohungserleben kann sich auf den Ebenen der
physiologischen Regulierung, der Expression, der Thematisierung
und der Aktion geltend machen. Angst gilt seit den Anfängen der
Psychoanalyse als Gegenstand von elementarem Interesse, weil es
Angst
ist, die den Radius des Handelns verengt und die Urteilsfunktionen
beeinträchtigt, weil sie Entwicklungschancen blockiert, vor allem
aber, weil sie – insbesondere dies galt als neurotische Angst –
sich gegen die eigene Person zu richten vermag, genauer, gegen
eigene Regungen, Gedanken und Wünsche. Man kann vor sich selbst
nicht fliehen und vermeidet gleichwohl die Selbstkonfrontation.
Daher schafft die selbstgerichtete Angst eine doppelte Latenz: die
Angst wird verschleiert, und ebenso werden mögliche Objekte und
Ursachen von Angst unkenntlich gemacht oder verfremdet.
Eindrucksvoll ist und bis heute bemerkenswert wenig erforscht
(allerdings war Elisabeth Gülich die Initiatorin der
Kooperationsgruppe Kommunikative Darstellung und klinische
Repräsentation von Angst, ZIF Bielefeld 2004), wie sich die
Thematisierung von Angstinhalten sprachlich und kommunikativ
vollzieht und wie sich die Vermeidung der Thematisierung von
Angstinhalten sprachlich vermittelt. Elisabeth Gülichs Beitrag
»Volle Palette in Flammen «. Zur Orientierung an vorgeformten
Strukturen beim Reden über Angst eröffnet ein außerordentlich
interessantes Forschungsfeld, das von sprachwissenschaftlichen
Beobachtungen an diagnostischen und psychotherapeutischen
Gesprächen mit Patienten ausgeht und zu unmittelbar klinisch
relevanten Befunden kommt: Die Darstellung von Angst bedient sich
häufig einer Rhetorik des Eindringlichen, evokativer Bildlichkeit
und der Dramatisierung
– z.B. »Volle Palette in Flammen« – zugleich aber spielen
Stereotypien,
formelhafte Wendungen und andere vorgeformte Ausdrücke eine
bemerkenswert große Rolle. Die Vermittlung von Angstinhalten
scheint, zumindest im klinischen Kontext, einer widersprüchlichen
Dynamik zu folgen; Darstellen versus in der Latenz Halten,
Selbstöffnung versus diffundierende Distanz werden als Leistung der
Sprache und der kommunikativen Arbeit sichtbar. In diesem Sinne ist
Brigitte Boothes Beitrag »Im Dezember bin ich umgekippt«. Erzählen
über Kontrollverlust als kasuistische Ergänzung zu Elisabeth
Gülichs Befunden zu verstehen.
Wenn Angst und ein Interesse, sich zu schützen, dasjenige ist, das
zur Rettung einer bedrohten Person überwunden werden muss, werden
andere Thematisierungs- und Formulierungsmittel eingesetzt,
naheliegenderweise das Nivellieren des eigenen Risikos, das
Hochstufen der Erfolgsaussichten der eigenen unterstützenden
Handlung sowie Maßnahmen der Normalisierung oder Veralltäglichung
des Vorgangs. Über solche Beobachtungen kann Merve Winter im Rahmen
ihres laufenden Forschungsprojekts zur Lebendorganspende im Rahmen
des neu eingerichteten Schweizer Graduiertenprogramms ProDoc
berichten; eindrucksvoll ist zugleich die kommunikative Darstellung
des Ringens um Zuversicht und Angstnivellierung, Angst und Sorge
schaffen sich hier vor allem metaphorisch Ausdruck.
Wie qualitative Forschung sich mit quantitativen Verfahren sinnvoll
verbindet und zu spezifisch klinisch relevantem Ertrag führt, zeigt
die Studie von Thorsten Jakobsen, Christine Knauss, Puspa
Agarwalla, Ruth Schneider, Heinz Hunziker, Joachim Küchenhoff. Die
Autoren legen Eine komparative Kasuistik auf der Grundlage
quantitativer Ergebnismessungen und qualitativer
Prozessbeschreibungen als Beitrag zum Verständnis therapeutischer
Prozesse vor. Im Zentrum stehen zwei Behandlungsprotokolle der in
Basel durchgeführten FIPP-Studie zu Prozess und Ergebnis
psychoanalytischer Psychotherapien. Die beiden Fälle unterscheiden
sich nach quantitativer Messung deutlich in Bezug auf den Erfolg.
Es ist die detaillierte Inspektion der OPD-Diagnostik, und es sind
die qualitativen Auswertungen der von den Therapeuten notierten
Prozessnotizen, die Einblick in Wechselwirkungen zwischen
Störungsprofil und Veränderungsressourcen, kurativen
Beziehungschancen und Zuschnitt der Arbeit an und in der
Übertragung geben. Die intensive qualitative Analyse erschloss die
beiden Therapieverläufe im systematischen Vergleich; sie erweist
sich auf handlicher Konkretionsebene als ausgesprochen nützlich für
die klinische Praxis. Besonderer Dank für die ausgezeichnete und
kontinuierliche redaktionelle Unterstützung gebührt Frau lic.phil.
Nicole Kapfhamer!
Für die Herausgeber Brigitte Boothe
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