Michele Barricelli, Lena Deuble, Carlos Kölbl, Lisa Konrad, Jürgen Straub (Hg.)

psychosozial 136: Vielfalt, Identität, Erzählung. Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur in der Wanderungsgesellschaft

(37. Jg., Nr. 136, 2014, Heft II)

Cover psychosozial 136: Vielfalt, Identität, Erzählung. Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur in der Wanderungsgesellschaft

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Zeitschrift: psychosozial (ISSN: 0171-3434)

Verlag: Psychosozial-Verlag

ca. 144 Seiten, Broschur, 165 x 240 mm

Bestell-Nr.: 8114

Bildungseinrichtungen stehen heute mehr denn je im Zeichen vielfältiger Globalisierungs- und Migrationsprozesse. Um vom umfassenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wandel des 21. Jahrhunderts nicht nur einfach »betroffen« zu sein, sondern die Rolle von Akteuren und Gestaltern einnehmen zu können, ist es notwendig, der Situation angemessene Strategien zu entwickeln. Insbesondere historisches Lernen weist eine spezifische Affinität und damit vielfältige Möglichkeiten zum interkulturellen Lernen auf. In diesem Kontext ist es interessant, dass interkulturelles Geschichtslernen bis heute weder besonders systematisch und intensiv untersucht noch praktisch gefördert wurde.

Vor dem angedeuteten Hintergrund ist es das Anliegen des vorliegenden Themenschwerpunkts, ein wenig zur besseren Kartierung des Feldes »interkulturelles Geschichtslernen, interkulturelles Geschichtsbewusstsein« beizutragen. Die hier versammelten Texte kreisen um ausgewählte begriffliche, theoretische, empirische und pragmatische Fragestellungen, die sich auf für (Ein-)Wanderungsgesellschaften und für historische Bildungsprozesse relevante sozialtheoretische Begriffe, auf Konzepte von Inter- und Transkulturalität, auf schulisches und außerschulisches interkulturelles Geschichtslernen sowie auf den Umgang mit kulturellen, aber auch mit anderen Differenzerfahrungen beziehen.

Die Texte des Themenschwerpunktes wurden im Oktober 2013 auf der Tagung Vielfalt, Identität, Erzählung an der Leibniz Universität Hannover bzw. in der Sektion »Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft« auf dem Historikertag in Mainz im September 2012 zur Diskussion gestellt und für die vorliegende Publikation erheblich bearbeitet oder erweitert. Die genannten Veranstaltungen fanden im Umkreis des Forschungsprojektes Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht an niedersächsischen Schulen statt, das in den Jahren 2011 bis 2013 vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert wurde.

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Diese Publikation enthält:

Inhaltsverzeichnis

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Inhalt

Schwerpunktthema: Vielfalt, Identität, Erzählung. Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur in der Wanderungsgesellschaft

Editorial

Transkultureller Geschichtsunterricht
Neues Leitbild für die Konzeption historischer Lehr- und Lernprozesse?
Marc Ullrich & Martin Lücke

Das Prinzip Interkulturelles Frühstück
Empirische Erkundungen im Geschichtsunterricht
Lena Deuble, Lisa Konrad & Carlos Kölbl

Vielfältiges Geschichtslernen in transnationalen historischen Projekten: Konzeptionen und empirische Befunde
Vadim Oswalt

Mit historischen Biografien Konflikte hervorrufen und im Dialog bearbeiten
Überlegungen aus der Praxis zum interkulturellen historischen Lernen
Karen Polak & Veronika Nahm

Differenzerfahrungen in gemischtkulturellen Gruppen
John Berrys Akkulturationsmodell revisited: Grundzüge einer empirisch fundierten Theorie
Astrid Utler

Gewaltgeschichten in Verletzungsverhältnissen
Gegenwärtige Vergangenheit, historisches Bewusstsein und interkulturelle Bildung in Migrationsgesellschaften
Ein Essay in vier Fragmenten
Jürgen Straub

Freie Beiträge

Die Dialektik von Natur und Geschichte
Einige psychoanalytische Antworten auf klassische Fragen der Geschichtsphilosophie
Martin Klüners

Beeinflussung durch Nichtbeeinflussung im Marketing und in der Werbung für Psychopharmaka
Medizinsoziologische und ethnografische Perspektiven auf die Interaktion von Ärzten und pharmazeutischen Firmen
Gerhard Dammann

»Ein Fall von hypnotischer Heilung« in Sigmund Freuds Privatpraxis
Stefan Goldmann


Zusammenfassungen und Abstracts

Transkultureller Geschichtsunterricht
Neues Leitbild für die Konzeption historischer Lehr- und Lernprozesse?
Marc Ullrich & Martin Lücke

Zusammenfassung: Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Potenzial des Konzeptes der Transkulturalität für die Geschichtsdidaktik. Ausgangspunkt ist eine Analyse des bisherigen Umgangs mit interkulturellen Ansätzen bei der theoretischen Modellierung und pragmatischen Umsetzung historischer Lernprozesse. Dabei geraten auf theoretischer Ebene – aufbauend auf die Arbeiten von Bettina Alavi – vor allem Ausführungen von Andreas Körber in den Blick, im Anschluss wird ein Anwendungsbeispiel von Gisbert Gemein diskutiert. Transkulturalität wird anschließend in Auseinandersetzung mit Arbeiten von Fernando Ortiz (transculturación) und Wolfgang Welsch als ein Ansatz interpretiert, der Kulturkontakte ohne dominante Differenzfokussierung beschreibbar macht und stattdessen auf kulturelle Übergangsprozesse fokussiert. Dem machtvollen Herrschaftscharakter solcher Übergangsprozesse wird durch den Einbezug einer diversitätssensiblen und intersektionalen Zugangsweise Rechnung getragen. Im Beitrag wird argumentiert, dass sich historisches Lernen mit Gewinn an ein transkulturelles Kulturverständnis anlehnen kann, indem insbesondere kulturelle Verflechtungsprozesse als konstitutiv für historische Entwicklungen angesehen werden. Teil einer transkulturellen historischen Orientierungskompetenz wäre es dann ebenso, die Lernenden dafür zu sensibilisieren, Identitäten mehrdimensional und zeitlich veränderbar zu denken.

Schlüsselwörter: Transkulturalität, Interkulturalität, Intersektionalität, Diversität, Kultur, Geschichtsdidaktik, transkulturelle Identität, transkulturelles Lernen

Abstract: Teaching history in a transcultural perspective. A new approach for the teaching and learning of history?
The article deals with the chances of the concept of transculturality for history education. The initial point is an analysis of the hitherto existing implementation of intercultural approaches for shaping historical learning on a theoretical and practical level. Here – following the approaches of Bettina Alavi – the theoretical level is mainly focused by discussing works of Andreas Körber, whereas the practical level of intercultural history education is critically discussed by analyzing a practical example of Gisbert Gemein. Afterwards transculturality – according to Fernando Ortiz (transculturación) and Wolfgang Welsch – is interpreted as an approach to describe contacts of cultures without a dominant focus on cultural differences but instead referring to processes of cultural transmission. The powerful character of such processes is taken into account by integrating the perspective of diversity and intersectionality studies on such processes. The article argues that historical learning can benefit from such a transcultural concept of culture if especially the processes of a cultural entanglement become constitutive for historical developments in general. It would also be part of a transcultural historical competence to sensitize learners to think identities as multidimensional and changeable.

Keywords: transculturality, interculturality, intersectionality, diversity, culture, history didactics, transcultural identity, transcultural studies



Das Prinzip Interkulturelles Frühstück
Empirische Erkundungen im Geschichtsunterricht
Lena Deuble, Lisa Konrad & Carlos Kölbl

Zusammenfassung: Interkulturalität wird spätestens seit dem einschlägigen Beschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1996, interkulturelles Lernen als Querschnittsaufgabe wahrzunehmen, auch in schulischen Kontexten als wichtige Herausforderung begriffen. Eine Antwort auf diese Herausforderung stellt das im erziehungswissenschaftlichen Diskurs massiv kritisierte »interkulturelle Frühstück« dar. Dabei ist nicht allein an ein Frühstück im eigentlichen Sinne zu denken, vielmehr kann von einem »Prinzip Interkulturelles Frühstück« gesprochen werden. Empirisch fundierte Ausführungen zu diesem Prinzip fehlen indes weitgehend. Vor diesem Hintergrund werden in der vorliegenden Arbeit zunächst die Konstituenten des fraglichen Prinzips herausgestellt. Sodann werden in einem exemplarischen Feld interkulturellen Lernens in der Schule, dem Geschichtsunterricht, empirische Erkundungen zur Bedeutung des Prinzips Interkulturelles Frühstück unternommen. Dabei zeigt sich, dass dieses Prinzip bei den an der Studie beteiligten Geschichtslehrkräften Ausgestaltungen erfährt, die von Ablehnung über Abwandlung und Realisierung bis hin zu einem kreativen Unterlaufen reichen. Bei den beteiligten Schüler_innen werden dagegen unterschiedliche Motive der Bejahung des Prinzips rekonstruiert, Kritik oder Ablehnung konnten in dem Material nicht gefunden werden. Der Text schließt mit einer Diskussion der empirischen Befunde, der Skizze von Forschungsdesideraten und schulpraktischer Konsequenzen.

Schlüsselwörter: Interkulturelles Frühstück, interkulturelles Lernen, Geschichtsunterricht, qualitative Sozialforschung

Abstract: Intercultural breakfast as principle. Empirical explorations in history lessons
At the latest since the respective resolution of the standing conference of the ministers of education and cultural affairs of the Länder from 1996 to regard intercultural learning as a cross-sectional task interculturality is recognized as an important challenge also in the school context. An answer to this challenge is represented by »intercultural breakfast« which is massively criticized in educational discourse. But intercultural breakfast is not only to be thought of as breakfast in the narrow sense of the word, rather you can speak of »intercultural breakfast as principle«. Empirically grounded reflections on this principle are, however, largely missing. Against this background first the constituents of the principle in question are exposed in the present contribution. Thereafter empirical explorations concerning the meaning of intercultural breakfast as principle are undertaken in an exemplary field of intercultural learning in school, history lessons. It can be shown that this principle takes different forms in the articulations of the history teachers who took part in the study. These forms reach from rejection over modification and realization to a creative undermining. In contrast to the teachers’ articulations in the articulations of the students who took part in the study different motives for approving the principle are reconstructed, critique or rejection could not be found in the material. The text closes with a discussion of the empirical findings, an outline of desiderata for future research and consequences for school.

Keywords: intercultural breakfast, intercultural learning, history lessons, qualitative social research


Vielfältiges Geschichtslernen in transnationalen historischen Projekten
Konzeptionen und empirische Befunde
Vadim Oswalt

Zusammenfassung: Transnationale Jugendbegegnungen in Verbindung mit historischer Projektarbeit stehen unter einem hohen normativen Erwartungsdruck: Jugendliche sollen durch die gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit Perspektivenerweiterungen oder sogar »transkulturelle Empathie« entwickeln und so Gestaltungsperspektiven für eine gemeinsame Zukunft öffnen. Wie aber gestaltet sich die Praxis dieses komplexen Handlungsfelds zwischen Alltagsbegegnung und historischer Projektarbeit, das durch den Konventionenbestand der beteiligen Gruppen wesentlich geprägt wird? Wie gehen die Projekte mit der Diversität nationaler historischer Narrative um, wofür die interkulturelle Pädagogik keine Konzepte anbietet? Und was lässt sich schließlich darüber sagen, welche Erfahrungen Schüler in diesen hochgradig emotionalisierenden und von Ambiguität gekennzeichneten Austauschprozessen machen, in denen Geschichte oftmals zum Ernstfall wird? Der Beitrag bezieht sich auf transnationale Austauschprojekte mit Schülerinnen und Schülern aus Deutschland, Ostmitteleuropa und Israel, die von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft in Berlin gefördert wurden.

Schlüsselwörter: transnationale historische Projekte, historisches Lernen, Jugendaustausch, interkulturelles Lernen, historische Narrative, Videokonferenz, transkulturelle Geschichte

Abstract: Manifold Forms of Historical Learning in Transnational Projects. Conceptualizations and Empirical Results
Transnational youth exchanges linked to historical projects are confronted with highly normative expectations. By reflecting on the past, young people are expected to gain broader historical perspectives or even to develop »transcultural empathy«; thereby, they are supposed to develop common perspectives on how to influence the future. How are these transnational exchanges actually carried out, given the complex sequence of actions that occurs between students’ becoming acquainted with each other’s daily lives and their actually working together on historical projects? This question is particularly relevant since this process is so strongly influenced by the participating groups’ respective social conventions. How do these projects deal with the diversity of national historical narratives, with which students come equipped and for which intercultural pedagogy offers no theories? And, finally, what can be said about the kind of experiences that students have in these exchange processes, which are charged with ambiguity and emotion and in which history often becomes a very serious matter. The article refers to transnational exchange projects that include school students from Germany, Central Eastern Europe, and Israel that are supported by the Berlin foundation Erinnerung, Verantwortung, Zukunft.

Keywords: transnational historical projects, historical learning, youth exchange, intercultural learning, historical narratives, videoconference, transcultural history


Mit historischen Biografien Konflikte hervorrufen und im Dialog bearbeiten
Überlegungen aus der Praxis zum interkulturellen historischen Lernen
Karen Polak & Veronika Nahm

Zusammenfassung: Ausgehend von ihren Beobachtungen bei einer internationalen Jugendkonferenz beschreiben die Autorinnen das interkulturelle Lernen mit historischen Biografien. Sie beobachteten, dass sich die Jugendlichen häufig für Biografien interessierten, bei denen sie Gemeinsamkeiten zu ihrer eigenen Identität vermuteten. Diese Beobachtung stellt hohe Ansprüche an die Vorauswahl der Biografien. Als theoretische Referenz dient ihnen das »Arena-Modell« von Ido Abram. Analog zu diesem Modell ist für sie ein geschützter Rahmen eine Grundvoraussetzung für das interkulturelle Lernen.

Schlüsselwörter: historisches Lernen, biografisches Lernen, interkulturelles Lernen, Identität, Dialog, Konflikt

Abstract: Using historical biographies to evoke conflict and create dialogue. Considerations from practical experience in intercultural historical learning
The authors describe the use of historical biographies for intercultural learning, based on their observations at an international youth conference. They noticed that the young people were mostly interested in biographies in which they could find similarities to their own identity. This makes high demands on the selection of biographies. The »Arena-Model« developed by Ido Abram serves as a theoretical framework. Parallel to this model the authors see that a safe space is a basic requirement for intercultural learning.

Keywords: historical learning, biographical learning, intercultural learning, identity, dialogue, conflict


Differenzerfahrungen in gemischtkulturellen Gruppen
John Berrys Akkulturationsmodell
revisited: Grundzüge einer empirisch fundierten Theorie
Astrid Utler

Zusammenfassung: In diesem Artikel stehen die Interaktionen in gemischtkulturellen Gruppen und die hierbei gemachten Differenzerfahrungen im Vordergrund. Dabei findet keine einseitige Beschränkung auf ethnisch-kulturelle Differenzen statt, sondern es wird untersucht, inwieweit Jugendliche im gemeinsamen Zusammenleben überhaupt Differenzen – jeglicher Art, persönlich wie kulturell – erleben und wie sie diese gemeinsam aushandeln. Die Analysen der interpretativ angelegten Studie lassen den Schluss zu, dass potenziell jedes Verhalten Differenzerlebnisse mit Fremdheitscharakter hervorrufen kann, sobald es in Ausmaß, situativem Einsatz und Qualität den Orientierungsrahmen der jeweiligen Gruppe kontinuierlich überschreitet. Diese Differenzerlebnisse führen in den Gruppen zu Verfremdungsprozessen, die sich durch eine Dynamik aus Teilhabeerwartung und -angeboten aber auch durch ausgrenzende Handlungen auszeichnen. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird Berrys (2001) Modell der Akkulturationsstrategien ausdifferenziert und erweitert.

Schlüsselwörter: Differenzerfahrung, Fremdheit, Migration, Interkulturalität

Abstract: Experiences of difference in culturally diverse groups. John Berry’s model of acculturation strategies revisited: Main features of an empirically grounded theory
This article focuses on interactions in mixed cultural groups, namely on the experiences with difference which may arise within those groups. The view is not limited to ethnic-cultural differences, instead it is analyzed which differences – of any kind, personal as well as cultural – young people experience and how they deal with them. The analyses of the interpretive study allow the conclusion that any behavior can cause alien like experiences of difference, as long as it continuously exceeds – qualitatively and quantitatively – the group’s frame of orientation. Those experiences of difference result in processes of alienation which can be described by expectations and offers of participation dynamically paired with excluding actions. Based on these results Berry’s (2001) model of acculturation is differentiated and extended.

Keywords:
experience of difference, alienness, migration, interculturality



Gewaltgeschichten in Verletzungsverhältnissen
Gegenwärtige Vergangenheit, historisches Bewusstsein und interkulturelle Bildung in Migrationsgesellschaften
Ein Essay in vier Fragmenten
Jürgen Straub

Zusammenfassung: Menschen sind verletzliche und verletzungsmächtige Lebewesen. Sie leben in Verletzungsverhältnissen. Diese können historisch und gesellschaftlich, kulturell und sozial allerdings erheblich variieren. Der Beitrag erörtert Aspekte einer psychologischen Anthropologie des vulnerablen Menschen und differenziert verschiedene Formen der Gewalt. Im Anschluss an diese grundlagentheoretischen Ausführungen wird deren Bedeutung für die pädagogische Praxis thematisiert, insbesondere in Migrationsgesellschaften. In solchen Gesellschaften sind vielfältige kollektive und individuelle Gewalterfahrungen ›versammelt‹, die den oft kaum wahrgenommenen Nährboden für die soziale Praxis bilden. Diese Tatsache stärker zur Kenntnis zu nehmen und in Bildungsbemühungen einzubeziehen, die um das Geschichtsbewusstsein gerade auch von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kreisen, wird als wichtige Aufgabe einer interkulturellen Psychologie und Pädagogik betrachtet. Die Abhandlung wird mit Überlegungen zu einem komplexen Begriff der Geschichte beendet. Diese Schlussnotizen lassen es als empirisch falsch, psychologisch naiv und politisch fahrlässig erscheinen, von einem Ende der Geschichte oder von der Bedeutungslosigkeit der Vergangenheit und des Geschichtsbewusstseins in postmodernen Zeiten zu sprechen. Ein Grund dafür ist, dass die Geschichte anhaltende Verletzungsverhältnisse hervorbringt, die zu ignorieren ein wissenschaftliches Versäumnis sowie ein Zeichen praktischer Verantwortungslosigkeit wären.

Schlüsselwörter: Gewalt, Vulnerabilität, Migration, Geschichte/Geschichtsbewusstsein, historisches Lernen

Abstract: Experiences of violence in relationships of harm and vulnerability. The present past, historical consciousness and intercultural education in immigrant societies. An essay in four fragments
Humans are beings both exposed to and capable of violence. They live in relationships of harm and vulnerability. These can considerably vary historically and societally as well as culturally and socially. This contribution discusses the facets of a psychological anthropology of a vulnerable human and distinguishes between different forms of violence. Following this basic theoretical exposition, the author addresses the meaning of those issues in pedagogical practice with a particular focus on immigrant societies. In such societies, the multifarious collective and individual experiences of violence ›amass‹, constituting an often hardly perceptible breeding ground for social praxis. It is regarded as an important task for intercultural psychology and pedagogy to take greater account of this circumstance and to integrate it into the educational endeavours that also revolve around the historical consciousness of children, youth and young adults, among other. The paper closes with a reflection on the complex notion of history. These final remarks expose the empirical falseness, psychological naivety and political incautiousness of talking about the end of history or the meaninglessness of the past and historical consciousness in postmodern times. One of the reasons for that lies in the fact that history brings forth lasting relations of harm and vulnerability, ignoring which would be a scientific failure as well as a sign of practical irresponsibility.

Keywords: violence, vulnerability, migration, history/historical consciousness, historical learning, cultural psychology



Die Dialektik von Natur und Geschichte
Einige psychoanalytische Antworten auf klassische Fragen der Geschichtsphilosophie
Martin Klüners

Zusammenfassung: Was macht den Menschen aus, seine »Natur« oder seine Geschichte? Seitdem er sich nicht mehr in eine gottgegebene Ordnung eingebettet weiß, denkt der Mensch über kaum eine andere Frage mit derartiger Inbrunst nach. Die Geschichtsphilosophie definiert ihn als vornehmlich historisches Wesen und fragt folglich nach Sinn und Ziel der Geschichte. Die Anthropologie hingegen sucht nach dem Unveränderlichen, immer Gleichbleibenden im Menschen. Dabei scheint die Geschichtsphilosophie an einem unvollständigen Menschenbild, die Anthropologie an ihrem unhistorischen Charakter zu scheitern. Gibt es keinen Ausweg, noch eine Möglichkeit der Vermittlung? Doch, denn die Psychoanalyse betrachtet nicht nur die Natur des Menschen als fundamental geschichtlich, sie begreift den Menschen gleichsam als von seinem Unbewussten, seiner Triebnatur geleitet. Diese implizite Dialektik von Natur und Geschichte könnte dem Menschen helfen, sein Wesen und seine Geschichte realistischer als bisher zu bestimmen.

Schlüsselwörter: Natur, Geschichte, Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Psychoanalyse

Abstract: The dialectic of nature and history. Some psychoanalytic answers to classical questions of the philosophy of history
What makes man a man, »nature« or his history? Since no longer embedded in a natural order given by god, man thinks about hardly any other issue with such a fervour. The philosophy of history defines him as a mainly historical being and thus asks for the sense and goal of history. Anthropology, however, searches for the invariable, the permanence in mankind. In this quest, the philosophy of history seems to fail in its imperfect image of man, anthropology in its unhistorical character. Is there no way out, is there no possibility of mediation? Yes, there is. Psychoanalysis not only regards the nature of man as fundamentally historical, it also understands man as guided by his unconscious, his inner drive. This implicit dialectic of nature and history could help man to define his being and his history in a more realistic way than before.

Keywords: nature, history, anthropology, philosophy of history, psychoanalysis



Beeinflussung durch Nichtbeeinflussung im Marketing und in der Werbung für Psychopharmaka
Medizinsoziologische und ethnografische Perspektiven auf die Interaktion von Ärzten und pharmazeutischen Firmen
Gerhard Dammann

Zusammenfassung: Diese wirtschaftssoziologisch ausgerichtete Untersuchung beschreibt, wie mittels der Methode der Ethnografie subtile Kommunikations- und Beeinflussungsprozesse in der Interaktion von Ärzten und Pharmaindustrie beschrieben werden können. Es wird in einer Zusammenfassung der relevanten Literatur darauf eingegangen, dass Psychopharmaka als Produkte der Werbung besonders kontrovers gesehen werden. Es wird die Hypothese verfolgt, dass die Pharmaindustrie diesem schwierigen Gebiet dadurch begegnet, dass sie direkte Formen der Beeinflussung, wie sie sonst in der Werbung üblich sind, zunehmend vermeidet und stattdessen auf eine Form der Beeinflussung durch »Nichtbeeinflussung« ausweicht. Mithilfe der aus der Ethnografie stammenden Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der »dichten Beschreibung« werden verschiedene Marketing- und Werbestrategien in der Schweiz untersucht und analysiert (Kontakt mit Pharmareferenten, Analyse eines Standes der Industrie bei einem Kongress, diverse Zusendungen). Im Mittelpunkt steht die tiefenhermeneutische Analyse aus der Perspektive des Arztes selbst, der beeinflusst werden soll.
Es zeigt sich, dass die Hypothese gestützt werden konnte. Dabei ist besonders interessant, dass die beteiligten Akteure (Ärzte, Pharmareferenten) sich dieser Strategien teilweise selbst bewusst sind, dabei jedoch mitspielen, sodass eine Form der »Brechung« in der Interaktion geschieht.

Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Medizinsoziologie, Ethnografie, Beeinflussung, Pharmaindustrie, Arzt, Qualitative Forschung, Werbung

Abstract: Influence from non-influence in the marketing and promotion of psychopharmaceuticals. Medical sociological and ethnographic perspectives on the interaction between doctors and pharmaceutical firms
This economic sociological paper illustrates how ethnography can analyze subtle communicational and influential processes in the interaction of physicians and pharmaceutical industry. As mentioned in a theoretical chapter, summarizing the research literature, advertising is a controversial issue when it comes to psychopharmaceuticals. It was hypothesized that industry addresses this controversial issue by avoiding direct forms of influence, which are normally common in advertising, and exerts a kind of influence by using a technique of »non-influence«. With methodological help of participant observation and thick description from ethnography the hypothesis is examined and analyzed in various kinds of marketing and advertising strategies in Switzerland (contact with pharmaceutical representative, analysis of an exhibition stand and various mailings). At the centre is the deep hermeneutical analysis of the perspective of the medical doctor, which shall be influenced. The hypothesis could be confirmed. It is interesting to note that the actors (medical doctors, pharmaceutical representatives) are sometimes aware of this strategy, but they »play along«, so that a form of interactional »breaking« occurs.

Keywords: psychopharmaceuticals, medical sociology, ethnography, influencing, pharmaceutical firms, physician, qualitative research, advertising



»Ein Fall von hypnotischer Heilung« in Sigmund Freuds Privatpraxis
Stefan Goldmann

Zusammenfassung: Freuds erste psychotherapeutische Falldarstellung, deren Bedeutung für Freuds Praxis und Theorieentwicklung skizziert wird, ist 1892/93 in der Zeitschrift für Hypnotismus erschienen. Handelt der »Fall einer hypnotischen Heilung nebst Bemerkungen über die Entstehung hysterischer Symptome durch den ›Gegenwillen‹« von einer Freud sehr nahestehenden Patientin, die an Stillhemmungen litt, so sucht der Autor erstmals durch eine hermeneutische Analyse ihre Identität aufzudecken. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich hinter der stilisierten Patientin wahrscheinlich Freuds Ehefrau Martha Bernays verbirgt, die auf Anraten ihrer Hausärzte im Dezember 1889 und im Februar 1891 sich einer hypnotischen Suggestionsbehandlung unterzog.

Schlüsselwörter: Sigmund Freud, Martha Freud, Ein Fall von hypnotischer Heilung (1892/93), Zeitschrift für Hypnotismus, Hanns Kaan, Kontrastvorstellung, Gegenwille

Abstract: »A Case of Hypnotic Treatment« in Sigmund Freud’s Private Practice
Sigmund Freud’s first psychotherapeutic case history appeared in 1892/93 in the Zeitschrift für Hypnotismus (»Journal of Hypnotism«), a significant journal for the formation of Freud’s early psychotherapeutic practice and theory. Entitled »A Case of Successful Treatment by Hypnotism with Some Remarks on the Origin of Hysterical Symptoms Through ›Counter-Will‹«, the case concerns a patient very close to Freud who suffered from an inability to breastfeed her baby. Through hermeneutical analysis the author tries to uncover the identity of the woman. He comes to the conclusion that Martha Bernays, Freud’s wife, is hidden behind the stylized depiction of the patient. In December 1889 and February 1891 she underwent hypnotherapy on the recommendation of her family doctors.

Keywords: Sigmund Freud, Martha Freud, A Case of Successful Treatment by Hypnosis (1892/93), Zeitschrift für Hypnotismus, Hanns Kaan, antithetic idea, counter-will