Zusammenfassungen:
Katharina Koehler, Nicole Kreutzmann, Michael Koehler,
Michael Koenigsmann, Astrid Franke & Jörg Frommer:
Normalisierung durch Übernahme der Patientenrolle – Subjektive
Krankheitsvorstellungen, Bewältigungsstrategien und
Zukunftserwartungen bei Patienten mit akuter Leukämie nach
Adaptation an den Klinikalltag, S. 11-27.
Gegenstand der vorgestellten Studie sind die subjektiven
Krankheitsvorstellungen, Behandlungserfahrungen,
Bewältigungsstrategien und Prognoseeinschätzungen von Patienten mit
akuter Leukämie zu Beginn des zweiten Chemotherapiezyklus im Rahmen
der Krankenhausbehandlung. Mit 12 an akuter myeloischer Leukämie
erkrankten Patienten wurden etwa 6–8 Wochen nach Diagnosestellung
ausführliche semistrukturierte Interviews durchgeführt. Die
transkribierten Interviews wurden mit Methoden der qualitativen
Sozialforschung (Grounded Theory, Qualitative Inhaltsanalyse)
untersucht. Die Einzelfallauswertungen wurden überindividuellen
Komparationstabellen für die Themenbereiche Wesen der Krankheit,
Ursachen der Erkrankung, Beeinflussbarkeit der Erkrankung und
Prognose zugeordnet und fallübergreifend nach Ähnlichkeiten und
Kontrasten verglichen. In den Interviews lassen sich nur vage
medizinische Vorstellungen bezüglich der Leukämie, deren mögliche
Ursachen und Auswirkungen finden. Dies ist nicht nur bedingt durch
Bildungsdefizite, sondern darüber hinaus durch eine aktive
Vermeidung von Informationen zum Schutz vor negativen Affekten. Die
Unkontrollierbarkeit der Erkrankung wirkt bezüglich des
Krankheitsverlaufs angstauslösend, die Unklarheit der
Krankheitsursachen wird dagegen als entlastend erlebt. Trotz des
Wissens um die Schicksalhaftigkeit von Entstehung und Verlauf der
Krankheit versuchen die Patienten aktiv stärker als in der
Frühphase des Krankenhausaufenthalts eigene Einflussmöglichkeiten
zu mobilisieren. Dabei erscheinen die Formen des Umgangs mit der
Erkrankung in unserem Sample einheitlich. Die Prognose wird von
allen Untersuchten relativ unabhängig vom bisherigen
Behandlungserfolg anders als unmittelbar nach Diagnosestellung
realitätsentsprechend skeptisch eingeschätzt. Im Vergleich mit den
Ergebnissen unserer Befragung von Patienten bei Behandlungsbeginn
im Rahmen einer Vorstudie lassen sich Unterschiede bezüglich der
Beurteilung der Krankheitsentstehung, der Einschätzung der
Einflussnahmemöglichkeiten auf den Krankheitsverlauf und der
Prognoseeinschätzung aufzeigen.
Michael Langenbach: Die Bedeutung der Biographie
für das subjektive Erleben einer Herztransplantation, S. 29-70.
Herztransplantationen sind aus Sicht der betroffenen Patienten
dramatische Eingriffe, die ihr Leben verändern. Doch wird die
Wechselwirkung zwischen individueller Biographie und
Transplantationseingriff in empirischen Untersuchungen häufig nicht
ausreichend gewürdigt. Wir berichten über eine qualitative Studie
an 18 Patienten vor und nach Herztransplantation, die wir in
narrativen Interviews befragten. Die Interviews wurden mit der
Methode der »Grounded Theory« ausgewertet. Das subjektive Erleben
der Patienten wurde nach der Methode der »Verstehenden
Typenbildung« analysiert. Dabei erschlossen sich fünf typische
Lebensverläufe, die mögliche Weisen des Bezugs von Transplantation
und Lebenslauf beschreiben: Umdichtung des eigenen Lebens in ein
erfolgreiches Narrativ; Hilflosigkeit, nachdem sich die Erwartungen
an die Herztransplantation nicht erfüllt haben; die
Herztransplantation als typische Szene des Lebenskampfes; Leiden
unter dem Verlust der beruflichen Anerkennung, der durch die
Transplantation nicht zu kompensieren ist; habituelle
Angstverdrängung.
Christina Papachristou, Marc Walter, Burghard F. Klapp &
Jörg Frommer: »Ich würde es mir dreimal überlegen (…)«.
Problemkonstellationen biographischer Arbeit vor und nach
Leberlebendspenden, S. 71-93.
Die Entwicklung der Medizin konfrontiert die Menschen mit neuen
Möglichkeiten und gleichzeitig mit neuen Fragen und Dilemmata. So
bietet die Medizin Spendern die Möglichkeit der Leberlebendspende
und delegiert damit die Entscheidung über das Leben oder den Tod
eines Menschen an den Spender, der einem nicht zu unterschätzenden
Risiko ausgesetzt wird. Die subjektive Sichtweise und Bewertung der
Entscheidung zur Spende hängt zentral davon ab, ob man die Spende
vor oder hinter sich hat, wie die Entscheidung getroffen wurde, und
mit welchen Folgen diese einherging. An zwei Fallbeispielen wird
gezeigt, dass unter situativem und sozialem Druck eine ad-hoc
Entscheidung getroffen wird, die dann subjektiv einen hohen Preis
hat und schwieriger als erwartet in die Lebensgeschichte integriert
wird. Als Schlussfolgerung stellt sich die Aufgabe für die
präoperative psychosomatische Spenderevaluation und Betreuung, die
Spender zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Folgen der
Spende zu ermutigen und damit eine bewusste Entscheidung zu
fördern. Darüber hinaus sollte bei komplizierten Verläufen
postoperativ auf die Unterstützung der Spender bei der Bewältigung
und beim Prozess der Integration des Erlebten größeres Gewicht
gelegt werden.
Katrin Perleberg, Fritz Schütze & Viktoria Heine:
Sozialwissenschaftliche Biographieanalyse von chronisch kranken
Patientinnen auf der empirischen Grundlage des
autobiographisch-narrativen Interviews. Exemplifiziert an der
Lebensgeschichte einer jungen Patientin mit Morbus Crohn, S.
95-145.
Das autobiographisch-narrative Interview und seine Methode der
Analyse ermöglichen eine besondere Einsicht in die
Lebensgeschichten von Patientinnen und Patienten mit komplexen
chronischen Krankheiten. Hierbei können nicht nur diejenigen
Verkettungen von lebensgeschichtlichen Ereignissen, die in
besonderer Weise mit dem ersten Auftreten der Erkrankung, mit
Krisenhöhepunkten der Erkrankung und mit ihren weiteren
Entfaltungsstadien besonders verbunden sind, im Detail untersucht
werden. Darüber hinaus können auch die größeren Erlebnisgestalten
(Dilthey) genau erfasst werden, welche die persönliche Erfahrung
der Krankheit im konkreten Detail prägen. Diese Erlebnisgestalten
sind zudem die Vermittlungsinstanz und der interpretative
Bezugsrahmen für die Einwirkung der Krankheit auf die
Lebensgeschichte der Patientin und deren Deutung. Und natürlich
sind sie auch die Erfahrungsbasis und das Orientierungsgerüst für
die eigenen biographischen Zukunftsvorstellungen vor dem Horizont
der chronischen Krankheit. Der Verlauf, die Dauer und die
soziobiographische Einwirkung der chronischen Erkrankung haben eine
jeweils sehr unterschiedliche individuelle Ausprägung.
Biographieanalyse kann zu einem erweiterten Verständnis der
Krankheitsgeschichten und Lebenssituationen von Patientinnen
beitragen. Mit ihrer Hilfe können das psychosomatische
Wechselverhältnis zwischen biographischen Prozessen und der
Krankheitsentwicklung – und u. U. auch deren gegenseitige
Einwirkung aufeinander - sowie die Wechselwirkung zwischen
biographischen Prozessen und der Behandlungsarbeit aufgezeigt
werden. Biographieanalyse ist von Wert für die Aufdeckung der
Schwierigkeiten und der Chancen des Lebens mit einer chronischen
Krankheit. Besonders wertvoll dürfte sie sein für die Untersuchung
der Einwirkung psychosomatischer Erkrankungen auf das Leben der
Patientinnen und umgekehrt. Der Beitrag expliziert und erläutert
beispielbezogen die grundlagentheoretischen Einsichten in die
Entfaltung von Lebensgeschichten (insbesondere von biographischen
Prozessstrukturen) und in die für deren Erforschung geeigneten
Methoden-Basis und Methodenschritte der Erzählanalyse, wie sie in
der qualitativen Sozialforschung in den letzten dreißig Jahren
gewonnen worden sind. Der Artikel demonstriert die
Forschungsschritte, die bei der Analyse autobiographisch-narrativer
Interviews zur Anwendung kommen (nämlich: strukturelle
Beschreibung, analytische Abstraktion, kontrastiver Vergleich und
Erzeugung eines theoretischen Modells).Dies geschieht auf der
empirischen Basis von zwei Einzelfallstudien von Patientinnen mit
Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. Die besondere Eignung des
autobiographisch-narrativen Interviews und der entsprechenden
Auswertungsschritte wird für die Aufdeckung von Beziehungen und
Konstellationen (in der Lebensgeschichte und in der Lebenssituation
der Patientinnen sowie zwischen der Lebensgeschichte und
Lebenssituation auf der einen Seite und der Krankheit auf der
anderen) aufgezeigt, die von den Patientinnen nicht bemerkt werden,
nicht gesehen werden oder ihnen gar gänzlich unbekannt sind.
Hierbei haben Hintergrundskonstruktionen des autobiographischen
Stegreiferzählens einen besonderen methodischen Stellenwert.
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