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Nachruf auf Jean Bergeret

Mit Jean Bergeret verliere die psychoanalytische Gemeinschaft einen Vertreter, der sich intensivst mit dem Narzissmus beschäftigt hat, schreibt Heinfried Duncker in seinem Nachruf auf den Psychoanalytiker, der in diesem Jahr verstorben ist. Nun ist eine von Duncker herausgegebene Übersetzung von Bergerets Werk »La violence fondamentale. L'inépuisable Œdipe« (deutsch: »Der ewige Ödipus«) erschienen. Aus diesem Anlass finden Sie hier Heinfried Dunckers Nachruf auf Jean Bergeret.

Jean Bergeret (1923–2016)


Biografie


bis 1948
Medizinstudium, Abschluss mit Promotion in Lyon

1948–1957
Tätigkeit in Marokko

1950
Eintritt in das Psychoanalytische Institut (Laforgue)

1953
Wiederaufnahme der Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie (Abschluss 1956)

1957
Niederlassung in Lyon

1958
Beteiligung bei der Gründung der Psychoanalytischen Arbeitsgruppe in Lyon (SPP), Société Parisiénne de Psychanalyse)

1973
zweite Promotion (hier auch Habilitation) in Humanwissenschaften, Doktorvater D. Anzieu

1974
außerordentlicher, dann ordentlicher Professor an der Universität Lyon 2

1975
Gründung des nationalen Kommentationszentrums zur Drogenabhängigkeit

1976
wissenschaftlicher Berater des Europarates für Fragen der Drogenabhängigkeit

1999–2002
Mitglied der Forschungskommission der internationalen psychoanalytischen Gesellschaft


Jean Bergeret ist am 11. Juli 2016 verstorben. Mit ihm verliert insbesondere die französische psychoanalytische Gemeinschaft einen Vertreter, der sich in Theorie und Praxis intensivst mit den Narzissmus betreffenden Fragen beschäftigt hat, mit dessen primärer und sekundärer Entwicklung sowie der an ihn geknüpften Dynamik bei der Entwicklung psychopathologischer Symptome. In der Kontinuität mit Melanie Klein, Claude Balier, Didier Anzieu, aber auch Jacques Lacan, hat sich Bergeret eindringlich mit der Freud’schen Triebdynamik auseinandergesetzt und sie auch kritisch ergänzt. Es ging, und hier ist er in Kontinuität mit den zuvor genannten wesentlichen Theoretikern der psychoanalytischen Arbeit in der Nachkriegszeit im Einvernehmen, nicht darum in der kritischen Würdigung der Freud’schen Triebtheorie diese infrage zu stellen, sondern er ist bemüht diese Erkenntnisse um die Bereiche zu erweitern, die Freud unter dem Begriff des Vorbewussten zusammengefasst hat. Bergeret hat seine Überlegungen immer als Ergänzung und nicht als Widerspruch zur Freud’schen Triebtheorie verstanden und auch so entwickelt. Die als Vorbewusstes bezeichneten Inhalte berühren zentral die Fragen, die mit der Entwicklung des primären Narzissmus in der vorsprachlichen Zeit verbunden sind. Auf die nicht sprachgebundenen Elemente, die dann auch in der sprachgebundenen Triebökonomie der ödipalen Entwicklung eine Rolle spielen, ist Bergeret ausführlich eingegangen.

Für den Aufbau seiner theoretischen Gedanken spielt seine lebensgeschichtliche Entwicklung eine nicht unerhebliche Rolle. Während der Besatzungszeit arbeitet er als Assistenzarzt in der Psychiatrie und beteiligte sich am aktiven Widerstand. Hierfür wurde er auch von der französischen Republik mit dem Verdienstkreuz ausgezeichnet. Abgeschreckt von den zu dieser Zeit in der Psychiatrie gängigen Therapieformen, wie zum Beispiel der Elektrokrampf- und Insulinschocktherapie, die Bergeret für unmenschlich hielt, kam es zunächst zum Bruch mit dieser medizinischen Disziplin. Bergeret arbeitete nach dem Krieg in Marokko und traf dort den Psychoanalytiker H. Fuissen, einen Spezialisten des Rohrschach-Tests, der ihn in die Psychoanalyse einführte. Seine erste Lehranalyse machte er bei R. Laforgue, der nach Marokko geflüchtet war. Nach dem Abschluss seiner psychiatrischen Ausbildung kehrte Bergeret 1957 nach Lyon zurück.

Im Zentrum von Bergerets Arbeiten standen die sogenannten »Grenzzustände« – unter diesen Begriff wurden in Frankreich die zu dieser Zeit beforschten Persönlichkeitsstörungen gefasst. Während seiner  Forschungen rückten der primäre Narzissmus, die Dynamik seiner fragilen Entwicklung oder ihre Behinderung sowie die möglichen späteren Infragestellungen und die damit verbundenen möglichen Symptombildungen ins Zentrum seiner Überlegungen. Seine initialen Bücher zur »normalen und pathologischen Persönlichkeit« und seine Überlegungen zu »Depression und Grenzzuständen« übten einen massiven Einfluss auf die Entwicklung psychoanalytischer Theoriebildungen in der französischen Psychoanalyse und Psychiatrie aus. Hier wird deutlich, dass es in der französischen Konzeption dieser Pathologie um das Fehlen einer psychischen Struktur geht und nicht um die Frage des Bestehens einer Struktur, einer sogenannten »Borderline-Struktur«, wie sie von Kernberg beschrieben wird. Insofern befindet sich Bergeret in einer gewissen Opposition zu dieser Position, insbesondere auch bezüglich der Möglichkeit eines passageren, zum Beispiel durch Belastungen bedingten Verlustes einer psychischen Strukturierung, die zu Symptombildungen aus dem Feld der Borderline-Störung führen können. Das Ergebnis dieser Bemühungen war, dass die Psychoanalyse sich von einer neurotisch orientierten Interpretation der nicht psychotischen Symptomatik im Bereich der Persönlichkeitsstörungen verabschiedete. In den Überlegungen von Bergeret spielen die nonverbalen präödipalen Erinnerungen an die primäre Konstitution des Ichs und der Überwindung des primären Überlebensinstinktes, der sich im »Ich oder Du«, wie er auch im ersten Orakel des Ödipus aufgezeigt wird, niederschlägt. In der kritischen Analyse des kleinen Hans führt er weitere Hinweise darauf auf, dass auch vorbewusste, nicht sprachliche Erinnerungen, an die fötale Zeit vor der Geburt im Bereich des Vorbewussten einen Einfluss haben.

In allen seinen theoretischen und praktischen Überlegungen spielt der Narzissmus, seine Dynamik, seine Entwicklung zwischen einem primären Narzissmus und den ödipal geprägten späteren narzisstischen Überformungen eine zentrale Rolle. Dies hat auch dazu geführt, dass er einer der ersten Psychoanalytiker war, der sich intensiv theoretisch und praktisch mit den Fragen der Drogenabhängigkeit, ihrer Entstehung und Behandlung auseinandergesetzt hat. In der Kontinuität dieses persönlichen Lebenswerkes steht auch die Hinterfragung, nicht die Infragestellung, der Freud’schen Psychologie in der Untersuchung der Gewalt, bei der sich vor der triebtheoretisch begründeten Analyse die Frage der grundsätzlichen Gewalt stellt, die mit dem primären Überlebensinstinkt des Neugeboren zusammenhängt. Dies führt zu einer Veränderung in der Konzeption des Narzissmus, der Homosexualität, der kindlichen Sexualität in dem Sinne, dass der Rückgriff auf die vorbewussten Erlebnisse in der vorsprachlichen Zeit Ergebnis sein könnte von sowohl fehlender Strukturierungsfähigkeit in der Erziehungsgestaltung einerseits, aber auch von extrem belastender Situationen, die den Rückgriff auf diese vorsprachlichen vorbewussten Mechanismen herausfordert, andererseits.

Sein Buch über die grundlegende Gewalt hat jedenfalls bis heute einen erheblichen Einfluss auf die psychokriminologischen Überlegungen in Frankreich, die sowohl die Gewalt- und Gewaltrückfallprävention betreffen als auch Überlegungen, die zum Verständnis beitragen können, warum Opfer im Lauf ihres Lebens oft zu Tätern werden.

Die Entwicklung seiner Gedanken spiegelt sich in Bergerets Veröffentlichungen wider:

Bergeret, J. et al. (1972). »Abrégé de psychologie et pathologie«. 9ème édition, revue et corrigée, 2004, Paris: Masson.
Bergeret, J. (1974). »La personnalité normale et pathologique«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. (1975). »La dépression et les états-limites«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. et al. (1980). »Le psychanalyste à l’écoute du toximane«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. (1982). »Toxicomanie et Personnalité.« Paris: PUF.
Bergeret, J. (1983). »Précis des toxicomanies«. Paris: Masson.
Bergeret, J. (1984). »La violence fondamentale«. Paris: Dunod [Deutsche Erstausgabe (2016). »Der ewige Ödipus. Zu den Grundlagenmenschlicher Gewalt«. Aus dem Französischen von Solveig Rose. Hrsg. und eingel. von Heinfried Duncker. Gießen: Psychosozial-Verlag.]
Bergeret, J. et al. (1986). »Narcissisme et états-limites«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. (1987). »Les interrogations de psychanalyste«. Paris: PUF.
Bergeret, J. (1987). »Le petit Hans et la réalité«. Paris: Payot.
Bergeret, J. (1990). »Le toxicomane parmi les autres«. Paris: Odile Jacob.
Bergeret, J. (1994). »La violence et la vie«. Paris: Payot.
Bergeret, J. (1995). »Freud, la violence et la dépression«. Paris: PUF.
Bergeret, J. et al. (1996). »La pathologie narcissique«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. et al. (1999). »L’érotisme narcissique«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. (1974). »La personnalité normale et pathologique«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. & Houser, M. (2001). »La sexualité infantile et ses mythes«. Paris: Dunod.
Bergeret, J. & Houser, M. (2004). »Le fœtus dans notre inconscient«. Paris: Dunod.

Heinfried Duncker

Das Buch von Jean Bergeret im Psychosozial-Verlag:

Jean Bergeret
Der ewige Ödipus
Zu den Grundlagen menschlicher Gewalt
EUR 36,90

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen geopolitischen Ereignisse und der weltweit präsenten Bedrohung durch den Terrorismus gewinnen Jean Bergerets Thesen aktuell an Brisanz. Die von ihm eingeführte Urfantasie des »Ich oder Du«, die es zu überwinden gilt, kennzeichnet zahlreiche Diskurse entsprechender Gruppierungen. Anders als das Freud’sche Konzept des Todestriebs, das Bergeret für philosophische Spekulation hält, basieren Bergerets Beobachtungen auf der Allgegenwärtigkeit von Gewalt. [ mehr ]

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