Rezension zu Stadt des Lebens, Stadt des Sterbens
Tribüne
Rezension von Roland Kaufhold
Verlust kultureller Vielfalt
Lange wurde die Shoah im Baltikum von der Forschung
vernachlässigt. Doch seit dem Fall des »eisernen Vorhangs« sind
mehrere deutschsprachige Untersuchungen zum tragischen Schicksal
des dortigen Judentums publiziert worden (s. TRIBUNE Nr. 181, S.
154-174). Auch konnten nun Gespräche mit den wenigen Überlebenden
geführt werden. Nur eine Zahl: Etwa 300.000 Juden des Baltikums
wurden Opfer der Shoah. Von den 70.000 Juden Lettlands überlebten
nur wenige hundert.
2001 legte Max Michelson – 1924 in Riga geboren und aufgewachsen,
lebt heute in den USA – auf Englisch seine Familiengeschichte vor.
Sechs Jahre später ist sie nun, reichhaltig bebildert, in deutscher
Übersetzung unter dem Titel »Stadt des Lebens, Stadt des Sterbens –
Erinnerungen an Riga« erschienen. Der Autor hat sehr viel
zeitlichen Abstand benötigt, um in beeindruckend nüchterner,
stiller, nachdenklicher Weise seine zutiefst mit dem Schicksal
Rigas verwobene Familiengeschichte zu erzählen. Zahlreiche
familiäre Spuren hat er in den letzten Jahren in Archiven
erforschen müssen – seine Eltern sowie der größte Teil seiner
Familie wurden ermordet. Michelson lässt das Schicksal der großen
jüdischen Gemeinde Rigas, welche für viele Jahrzehnte vollständig
ausgelöscht war, schrittweise vor unserem Auge entstehen: »Als die
Nazis Riga 1941 besetzten, wurde dieses Leben unwiderruflich
zerstört.« (S. 9)
Im ersten Abschnitt des Buches erzählt Michelson von seiner
jüdischen Kindheit in der Vorkriegszeit. Er wuchs in einer
religiösen, aber nicht-orthodoxen Familie auf.
Im zweiten Teil des Buches berichtet Michelson vom grausamen
Schicksal des Rigaer Gettos in den Jahren 1941 bis 1944, nicht aus
der Perspektive eines Wissenschaftlers, sondern aus der eines
Opfers, das mit sehr viel Glück überlebte. Wir werden in
angemessener Weise an das unvorstellbare Ausmaß der deutschen
Verbrechen erinnert. Den Abschluss bilden Beschreibungen seines
mehrmonatigen Überlebenskampfs in den Konzentrationslagern
Kaiserwald und Stutthof, seiner Befreiung, und seiner Suche nach
den wenigen Angehörigen, die überlebten.
1947 machte Michelson einen Neuanfang in der »Neuen Welt« (S. 223)
– in New York, wohin er emigriert war. In dem dieses lesenswerte
Buch abschließenden Kapitel »Ein neues Leben« resümiert Michelson:
»Nach der Geburt unserer Söhne wollte ich ihnen mein Verständnis
von jüdischer Identität und eines jüdischen Erbes weitergeben. (…)
In den Wochen vor Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs wurde ich mir
meiner starken emotionalen Bindung zum Staat Israel schmerzlich
bewusst. Die Bedrohung durch einen neuen Holocaust, der von den
Arabern ausging, hing als deutliche und furchterregende Möglichkeit
in der Luft. (…) Erst 25 Jahre nach Kriegsende hatte ich genügend
Distanz zu meiner Kriegsvergangenheit, um öffentlich über meine
Erfahrungen und Beobachtungen in den Lagern zu sprechen. (...) Die
Erwartungen, die ich im Stillen hegte, als ich vor vielen Jahren in
den Vereinigten Staaten von Amerika von Bord ging, haben sich
erfüllt. Das Leben war gut zu mir. Ich bin sehr zufrieden.« (S.
232-234)