Rezension zu Cybersex
Punktum. Verbandszeitschrift des Schweizer Berufsverbandes für Angewandte Psychologie, Juni 2015
Rezension von Thomas Merki
Der vorliegende Herausgeberband von Agatha Merk basiert auf einer
Reihe von Tagungen, den Psychoanalytischen Arbeitstagen Zürich.
Nach einem Geleitwort von Ulrich Moser und einer Einführung ins
Thema von Agatha Merk und Ilka Quindeau entwickeln Heinz
Müller-Pozzi und Thomas Umbricht im zweiten Kapitel je
metapsychologische Konzepte. Das dritte Kapitel beinhaltet
Falldarstellungen von Natalia Erazo und Rotraut De Clerck, und im
vierten Kapitel beleuchtet Michael Günter
entwicklungspsychologische Aspekte. Martin Dannecker, Jérôme
Endrass, Astrid Rossegger und Bernd Borchard bestreiten mit ihren
Arbeiten das Kapitel fünf, Sexualwissenschaft und Forensik. Zum
Schluss folgt das Kapitel sechs, Kulturwissenschaft, mit zwei
Beiträgen von Reimut Reiche und Michael Pfister.
Der Ausdruck Cybersex setzt sich zusammen aus den Wörtern
Cybernetics (Kybernetik) und Sex. Nach Duden bedeutet Cybersex
»sexuelle Stimulation durch computergesteuerte Simulation«. Dazu
schreibt Ulrich Moser in seinem Geleitwort: »Die Welt der Technik,
insbesondere der Computer- und Informationswissenschaften, hat den
Bereich möglicher sexueller Erfahrungen wesentlich erweitert – dies
allerdings basierend auf der bereits erfolgten Enttabuisierung.«
Dies führe dann nach Moser zu neuen Problemen, zum Beispiel in
Bezug auf das Erleben von Schuld und Scham, Beziehung und
Abhängigkeit.
Innerhalb dieses Spannungsbogens nähern sich die verschiedenen
AutorInnen aus ihren spezifischen Blickwinkeln dem Thema an. Als
Beispiel sei hier auf das Kapitel von Agatha Merk verwiesen. Sie
verwendet darin die Metapher der Folie, worauf die PatientInnen
ihre Eindrücke hinterlassen, gleichsam agieren und inszenieren. Das
Internet als imaginärer Raum, wo sexuelle Wünsche und Phantasien
situiert werden. Theoretisch werden diese Überlegungen mit der
These der Übergangsobjekte und -räume von D.W.Winnicott
untermauert. Das vorliegende Buch nähert sich dem Thema Cybersex in
einer umfassenden und differenzierten Weise an und stellt den
Lesenden eine Orientierung bereit, um die Bedeutung der über das
Internet ausgelebten Sexualität besser zu verstehen. Dabei geht es
um drängende Fragen wie: Unter welchen Bedingungen wird das
Internet zu kreativem Probehandeln genutzt, und wann steht sein
Gebrauch im Zeichen des Verlustes einer lebendigen Beziehung zur
Wirklichkeit? Insgesamt eine sehr empfehlenswerte Lektüre für
PsychoanalytikerInnen, aber auch für PsychotherapeutInnen anderer
Schulen sowie für einen weiteren an kulturellen Fragen und
Zeitphänomen interessierten Personenkreis.