Rezension zu Unpolitische Wissenschaft?
Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung 18 (2/2014)
Rezension von Dr. Roland Kaufhold
Buchbesprechung
Wilhelm Reich und der Nationalsozialismus
Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die
Psychoanalyse im Nationalsozialismus
Ernest Jones, ein früher Funktionär der Psychoanalyse, hat in
seiner dreibändigen Freud-Biografie auch den
tragisch-kämpferischen linken Psychoanalytiker Wilhelm Reich
erwähnt. Mit einem Ziel: Diesen aus der Geschichte der
Psychoanalyse auszuschließen. Über den Luzern-Kongress der
Psychoanalytiker im Jahr 1934 bemerkte er: »An diesem Kongreß trat
Wilhelm Reich aus der Vereinigung aus. Freud hatte anfänglich eine
hohe Meinung über ihn gehabt; durch Reichs politischen Fanatismus
war es jedoch zwischen ihnen sowohl persönlich als auch
wissenschaftlich zu einer Entfremdung gekommen.«
Wilhelm Reich, der 1957 im amerikanischen Exil im Gefängnis
verstarb, blieb lange vergessen. Die sogenannte 68er-Bewegung
›entdeckte‹ ihn wieder, zweifelsohne jedoch nur in einer
verkürzten, interessengeleiteten Weise. Ab Mitte der 90er Jahre
wurde Reich im Kontext der Diskussion zu Psychoanalyse und
Nationalsozialismus immer wieder diskutiert.
Nun hat der Psychoanalysehistoriker Andreas Peglau eine umfassende,
beeindruckend recherchierte Studie über Reichs tragisches
Schicksal – dieser wurde 1933/34 sowohl von den Psychoanalytikern
als auch von den Kommunisten herausgeworfen, also von den beiden
Richtungen, mit denen er sich identifiziert hatte – vorgelegt.
Hauptinteresse Peglaus ist es, das Wechselgeflecht zwischen der
Verbandspolitik der organisierten Psychoanalytiker und der Politik
zu analysieren – immer wieder gebunden an das Schicksal Reichs
während und nach dem Nationalsozialismus.
Andreas Peglau hat hierin eine Vielzahl von neuen Materialien
eingearbeitet, die er in jahrelanger Recherche entdeckt hat. Eine
wirkliche Pionierleistung. Nach der Lektüre vermag man wirklich
qualifizierter über den wenig freundlichen »Umgang« mit Wilhelm
Reich zu sprechen. Zugleich ist dieses gut 600 Seiten umfassende
Werk ein gelungener Versuch zur – posthumen – Rehabilitation
Wilhelm Reichs.
Peglau zeichnet minutiös nach, in welcher Weise und Kontinuität
Wilhelm Reich vor dem Nationalsozialismus warnte. Aber auch, wie er
zeitgleich, als KPD-Mitglied, Stalins totalitären Machtmissbrauch
analysierte: »Der einzige Psychoanalytiker, der seine Kollegen
öffentlich davor warnte, sich mit dem NS-Staat einzulassen, war
Wilhelm Reich« (S. 29), bemerkt er.
Peglau geht der Frage nach, welche psychoanalytischen Autoren und
Schriften wegen ihres Gehaltes konkret verboten oder sogar 1938
verbrannt wurden, und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis:
Einzig die Schriften von Siegfried Bernfeld, von Anna und Sigmund
Freud und Wilhelm Reich wurden 1933 nachweislich verbrannt (S.
214). Nur ein kleinerer Teil analytischer Publikationen wurde
überhaupt verboten, ein Gesamtverbot war offensichtlich nie
geplant.
Einen weiteren Schwerpunkt bilden – ausgehend von der
vorherrschenden Selbstidealisierung als »verfolgte, widerständige
Wissenschaft« – Forschungen zum Thema, inwieweit Psychoanalytiker
vor oder zumindest kurz nach der »Machtergreifung« Hitlers zum
Nationalsozialismus geforscht bzw. publiziert haben. Freuds
massenpsychologische und kulturkritische Publikationen hätten dies
nahe gelegt. Peglaus ernüchterndes Resümee: »In
psychoanalytischen Publikationen habe ich nur zwei inhaltlich
identische Stellen gefunden, die belegen, dass der
Nationalsozialismus noch vor seiner ›Machtergreifung‹ thematisiert
wurde – und zwar von Wilhelm Reich« (S. 224). Seine Ergebnisse
korrelieren mit H.-E. Richters Feststellung: »Wilhelm Reich und
Ernst Simmel waren die letzten deutschen Psychoanalytiker, die
unmittelbar vor ihrer Flucht in die Emigration das Thema der
massenpsychologischen Hörigkeit noch einmal öffentlich
aufgriffen« (ebda.). Es gab ansonsten so gut wie keine
deutschsprachigen Beiträge, in denen die bedrohliche politische
Entwicklung sowie die Verfolgung der Juden auch nur angerissen
wurden. Auch in amerikanischen Zeitschriften fand Peglau bis 1941
nahezu keinerlei Beiträge hierzu; auch keine Aufsätze, in denen
das Wort »Faschismus« mit offener Kritik verbunden, erwähnt,
geschweige denn gegen die Vertreibung der Juden protestiert wurde.
Einzig Wilhelm Reich publizierte hierzu auch noch nach seiner
Emigration in die skandinavischen Länder.
Anregend und zur Re-Lektüre einiger Schriften Reichs einladend
sind Peglaus Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption von Reichs
Schriften, insbesondere seiner »Massenpsychologie des Faschismus«.
Anfang der 1930er Jahre engagierte er sich auch innerhalb der KP,
nicht nur schreibend sondern z.B. auch als Ordner bei
Demonstrationen. Es müssen ihm früh Zweifel gekommen sein. So
beschrieb er in der »Massenpsychologie« Gemeinsamkeiten zwischen
den Aufmärschen der SA und der Kommunisten: »Sie unterschieden
sich in Haltung, Ausdruck und Gesang nicht von den kommunistischen
Rotfrontkämpferabteilungen.« (S. 244) Dies kam bei den Kommunisten
nicht gut an. 1933 wurde er ausgeschlossen, vor allem wegen seiner
Texte. Sein Buch »bedeutet objektiv eine so ernsthafte Untergrabung
der Lehren der kommunistischen Propaganda, dass man es als
konterrevolutionär bezeichnen muss«, hieß es (S. 262). Jahre
später sollte Reich hierzu im Rückblick bemerken: »Ich begriff
nicht, wie ich so lange dieser Partei hatte angehören
können.“«(S. 263) Seine Isolation, gerade auch während seiner
Versuche zur Emigration, nahm zu. Dänemark und Norwegen waren
Zwischenstationen, im August 1939 kam er in den USA an. »Glatt in
New York gelandet«, notierte er in seinem Tagebuch (S. 317).
Reichs doppelter Rauswurf war zweifelsohne eine traumatische
Erfahrung für einen Menschen, dessen Mutter sich das Leben nahm,
als er zwölf Jahre alt war und dessen Vater starb, als er 17 war.
Freud blieb für ihn eine idealisierte Person – selbst nach seinem
Rauswurf durch Freud höchstpersönlich. Es gab nur sehr wenig
Menschen, die ihn noch verstanden, ihn noch unterstützten. Einer
seiner wenigen Bezugspersonen im Exil war übrigens Willy Brandt.
Zum »Dissidenten« Trotzki hatte er gleichfalls einen guten
Kontakt.
In weiteren Kapiteln beschreibt und analysiert Peglau Reichs
weiteren Lebensweg in den USA, bis hin zu seinem tragischen Tod im
amerikanischen Gefängnis. Wesentliche Aspekte aus Reichs Werk
sowie dessen Rezeption werden umfänglich thematisiert. »Das lange
Schweigen der Analytiker« (S. 479-486) und Betrachtungen zum
Verhältnis von Psychoanalyse und Politik bilden den Abschluss des
Buches. Peglaus Werk bildet eine Fundgrube für weiterführende
Forschungen.
Dr. Roland Kaufhold, Köln