Rezension zu Unpolitische Wissenschaft?
literaturkritik.de 2014, Heft 3
Rezension von Galina Hristeva
Die Katastrophe des »mittleren Wegs«
Andreas Peglau plädiert für die Neuentdeckung der Psychoanalyse als
kultur- und gesellschaftskritische Wissenschaft
In dritten Band seiner berühmten Biografie »Das Leben und Werk von
Sigmund Freud« (engl. 1954-1957; dt. 1960-1962) berichtet Ernest
Jones – als langjähriger IPV-Präsident einer der führenden
Funktionäre der Psychoanalyse und offizieller Freud-Biograf und
Psychoanalyse-Historiograf, ganz lapidar über den Kongress der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Luzern im Jahre
1934: »An diesem Kongreß trat Wilhelm Reich aus der Vereinigung
aus. Freud hatte anfänglich eine hohe Meinung über ihn gehabt;
durch Reichs politischen Fanatismus war es jedoch zwischen ihnen
sowohl persönlich als auch wissenschaftlich zu einer Entfremdung
gekommen.«
Der Berliner Psychoanalytiker und Psychotherapeut Andreas Peglau
stellt sich in seinem Buch »Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm
Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus« das überaus
schwierige Ziel, die Diskreditierung Wilhelm Reichs durch Freud und
seine Nachfolger zu rekonstruieren und den brillanten und mutigen
Denker Wilhelm Reich zu rehabilitieren. Eine gute Beschreibung
dieser umstrittensten und unbestechlichsten Figur am
psychoanalytischen Firmament, die Reichs Vielseitigkeit und Elan
verdeutlicht, hat Peglau bereits 2012 in einem Bericht über seinen
Besuch im Wilhelm-Reich-Archiv in Boston (USA) gegeben: Reich war
»Arzt, ehemaliger Freud-Schüler, -Mitstreiter und -Antipode,
bedeutender Psychoanalytiker, Vater der Körperpsychotherapie,
Lebensenergieforscher, vormaliger Sozialdemokrat, Kommunist,
Antifaschist, späterer Antistalinist« (Werkblatt Nr. 69, 2/2012).
Außerdem hat es Reich geschafft, 1933/1934 innerhalb kürzester Zeit
sowohl von der DPG und der IPV als auch von der KPD ausgeschlossen
zu werden. Seine Bücher wurden nicht nur von den Nazis, sondern in
den 50er-Jahren in den USA, wohin er übergesiedelt war, auch im
Auftrag der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA)
verbrannt.
Die genauen Fakten und Vorgänge, die der oben genannten
tendenziösen, grundfalschen und regelrecht zynischen Darstellung
von Ernest Jones diametral entgegenstehen, breitet Peglau in einer
Darstellung aus, die an Gründlichkeit, Präzision und
wissenschaftlicher Redlichkeit nicht zu übertreffen ist. Neben
biografischen Informationen, welche die bereits vorliegenden
Biografien Wilhelm Reichs etwa von David Boadella und Myron Sharaf
sinnvoll ergänzen, enthält Peglaus Buch extensive Analysen von
Reichs Werken »Die Funktion des Orgasmus«, »Sexualerregung und
Sexualbefriedigung«, »Der masochistische Charakter. Eine
sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes und des
Wiederholungszwanges«, »Charakteranalyse« usw. Viele von Reichs
Schriften – vor allem die sexualtheoretischen Arbeiten, die das
Fundament der von ihm entwickelten »Sexualökonomie« bilden – wurden
zur Zeit ihres Erscheinens als »medizinische Pornografie« sowie
»„Schund- und Schmutz«-Literatur verdammt. Und doch war Wilhelm
Reich Peglaus Recherchen zufolge »der erfolgreichste analytische
Autor im deutschen Sprachraum zwischen 1930 und 1933« nach
Freud!
Reichs Bestreben war es vom Anfang an, den verlorengegangenen
kritischen Geist der Psychoanalyse wieder zum Leben zu erwecken,
nachdem er 1932 festgestellt hatte: »Die Psychoanalyse,
ursprünglich eine revolutionäre Sexualtheorie und Psychologie des
Unbewußten, begann sich, was die Sexualtheorie anlangt, den
bürgerlichen Daseinsbedingungen anzupassen und somit bürgerlich
gesellschaftsfähig zu werden.« Reichs »fachliche Häresien«
bestanden unter anderem darin, dass er einige frühe Einsichten
Freuds wieder aufnahm und selbstständig und originell
weiterentwickelte und späte Annahmen Freuds wie die
Todestriebhypothese oder die Hypothese vom Wiederholungszwang,
welche die soziale Bedingtheit sowohl von Krankheit als auch
historischer Phänomene und Prozesse ignorierten, in seiner Kritik
widerlegte.
Reichs Schrift »Massenpsychologie des Faschismus« (1933) steht im
Brennpunkt von Peglaus Buch und ist für ihn der absolute
Kulminationspunkt von Reichs Denken und psychoanalytischem und
politischem Handeln, auch wenn er zugeben muss, dass nicht einmal
Reich in der Lage gewesen ist, »Auschwitz gedanklich
vorwegzunehmen« und »die gesamte psychosoziale Dynamik des
Nationalsozialismus« aufzudecken. Für Peglau ist Reichs
»Massenpsychologie« dennoch (wie er schon in seinem
Werkblatt-Artikel schrieb) »der mit Abstand ausführlichste und
neben diesbezüglichen Ausarbeitungen Erich Fromms auch der einzige
psychoanalytische Versuch, eine spezifische und umfassende Theorie
der psychischen Basis des Faschismus aufzustellen«. Die Analyse
dieser wichtigsten Schrift Wilhelm Reichs ergibt: »Reichs
Massenpsychologie ist der Beweis dafür, dass es bereits 1933 eine
fundierte Psychoanalyse des Faschismus hätte geben können – und
damit auch eine Psychoanalyse gegen den Faschismus.« Die
Untersuchung und Auswertung der Schriften und Aktivitäten Wilhelm
Reichs beweisen die Richtigkeit der von Andreas Peglau schon im
»Werkblatt«-Artikel formulierten Schlussfolgerung: »Politischere
Psychoanalyse, als sie Reich machte, gab es nie.«
Die Psychoanalyse tat aber ihr Bestes, um sich von Wilhelm Reich zu
»befreien«, wie Freud dies 1933 forderte. So erzählte Felix Boehm:
»Dr. Eitingon [der damalige DPG-Vorsitzende] ließ gleich nach der
Machtergreifung der neuen Regierung Dr. Reich mitteilen, er möchte
unsere Institutsräume nicht mehr betreten, damit, falls er
verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen
könne.« Und Freud hatte 1933 zu seiner Tochter Anna gesagt: »Wenn
die Psychoanalyse verboten wird, dann soll sie als Psa. verboten
werden, aber nicht als das Gemisch von Analyse und Politik, das
Reich vertritt.« Reich »trat« aus der Vereinigung also nicht »aus«,
wie Ernest Jones schreibt, sondern ihm wurde wegen seines
politischen Engagements die Mitgliedschaft »aberkannt«, wie Peglau
eindrücklich und unter Rückgriff auf frühere bahnbrechende
Forschungsergebnisse Bernd Nitzschkes und Karl Fallends belegt.
Die Mammutaufgabe, die gleichzeitige Diskreditierung und
Dämonisierung Reichs durch die Psychoanalyse, die KPD, durch
antisemitische Kräfte »von rechts« vor 1933 sowie durch die
NS-Machthaber nach 1933 nachzuzeichnen, hat Andreas Peglau
meisterhaft in einer bewegten und bewegenden, aber dennoch
wissenschaftlich bestens fundierten und systematisch aufgebauten
Darstellung bewältigt. Er stellt fest, dass während der
NS-Bücherverbrennung »die Ehre, für so schädlich gehalten zu
werden, dass ihr gesamtes Werk verboten wurde«, nur Wilhelm Reich,
Sigmund Freud und Anna Freud zuteil wurde. Peglaus Untersuchung
psychoanalytischer Schriften im Dritten Reich ergibt auch, dass mit
Ausnahme vereinzelter Publikationen Ernst Simmels (z.B.
»Nationalsozialismus und Volksgesundheit«, 1932) und Gregory
Zilboorgs (»A psychiatrist looks at Hitler«, 1939) seitens
psychoanalytischer Autoren im Zeitraum 1932-1939 »keinerlei offen
gegen Faschismus und Nationalsozialismus gerichtete Beiträge«
vorliegen, sodass hier Wilhelm Reichs Sonderstellung erneut
besonders gut erkennbar wird.
Freud selbst äußerte sich kaum über politische Themen – sehr selten
über den Bolschewismus und schon gar nicht über den Faschismus. Die
Psychoanalyse pochte zunehmend auf ihre wissenschaftliche
Objektivität und übte sich hartnäckig in politischer Abstinenz und
Neutralität – eine Haltung, die von Andreas Peglau als falsch,
verwerflich und fatal und zugleich als ein Mythos entlarvt wird.
Anhand zahlreicher Fakten demonstriert Peglau den Prozess der
Anpassung der Psychoanalyse an den Nationalsozialismus und weist
nach, dass die Psychoanalyse gar nicht so unpolitisch war, wie sie
sich den Anschein gab. Die »Arisierung« und die Integration der
Psychoanalyse in die »Neue deutsche Seelenheilkunde« besonders am
Göring-Institut sind mit tatkräftiger Unterstützung und aktiver
Mitarbeit mehrerer deutscher Psychoanalytiker, allen voran Felix
Boehm und Carl Müller-Braunschweig, erfolgt und wurden auch von
Freud im Rahmen seines »Anpassungskurses« befürwortet – von Andreas
Peglau als »Kooperation« und »Kollaboration« zwischen der
Psychoanalyse und dem NS-Regime bezeichnet und von Zvi Lothane 2001
treffend als ein »deal mit dem devil to ›save‹ psychoanalysis«
charakterisiert. Der »Anbiederung [der Psychoanalyse] an das
NS-System« entspricht auf der Gegenseite, dass die Psychoanalyse
sogar im »Völkischen Beobachter« – etwa als »ein sehr modernes
medizinisches Fach« (14.05.1939) – gelobt wurde. Nach Peglau war
der Ausschluss Wilhelm Reichs, des einzigen Psychoanalytikers, der
dem Faschismus den Krieg erklärt und die Stirn geboten hatte, der
entscheidende Schritt, welcher für die Annäherung zwischen der
Psychoanalyse und dem NS-Regime grünes Licht gab. Zudem war Reich
einer der wenigen, die auch im Exil nicht verstummten, während
Peglau in Anlehnung an die Forschungsergebnisse Knuth Müllers die
»umfangreiche Kooperation zwischen Psychoanalytikern und
US-Geheimdiensten« hervorhebt.
Die Psychoanalyse war keineswegs »Opfer« des Nationalsozialismus –
so Andreas Peglaus eindeutiges Fazit aufgrund seiner umfassenden
und minutiösen Auswertung einer großen Anzahl von Dokumenten aus
einer Reihe von Archiven. Die Psychoanalyse wurde im NS-Staat auch
nicht verfolgt, sondern passte sich an. Und sie war nie
unpolitisch. Hier gilt Bernd Nitzschkes Formulierung von 1997 in
besonderem Maße: »Im selben Augenblick, in dem man Reich eine
unzulässige ›Vermischung‹ von Politik und Psychoanalyse vorwarf,
akzeptierte und verteidigte man die von Böhm und
Müller-Braunschweig praktizierte Vermischung von Psychoanalyse und
(Anpassungs-)Politik!« All dies wurde aber erst nach der
Beseitigung Wilhelm Reichs möglich.
Angesichts dieser für die Psychoanalyse katastrophalen Entwicklung
ruft Andreas Peglau zu einer »Neubewertung« und »Aufwertung« von
Wilhelm Reich auf, einem der »innovativsten und kreativsten« sowie
kritischsten Psychoanalytiker – und »Freud’s most controversial and
troublesome« Schüler, um mit dieser Charakterisierung noch einmal
Zvi Lothane zu zitieren. Ein solcher »Neustart« der Psychoanalyse
und die Rückkehr zu ihren »aufklärerischen Wurzeln« würde eine
Überwindung ihrer Erosion – einer »Erosion der Kritik« (Dahmer) –
sowie eine Wiederbelebung ihres »soziologischen, kulturpolitischen
Charakters« (Reich) bedeuten. Letztlich hat die Geschichte der
Psychoanalyse Freuds »mittleren Weg« der Anpassung widerlegt und
Wilhelm Reichs Einsicht bestätigt: »Der Wissenschaftler, der
glaubt, durch Vorsicht und ›Unpolitischsein‹ seine Existenz zu
retten und durch die Verjagung und Einkerkerung auch der
Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt wurde, verwirkt den
Anspruch, jetzt ernst genommen zu werden und später einmal am
wirklichen Neubau der Gesellschaft mitzuwirken […]. Sein
Unpolitischsein ist ein Stück der Stärke der politischen Reaktion
und seines eigenen Unterganges gleichzeitig.«
literaturkritik.de