Rezension zu Das interpersonelle Unbewusste

Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse Heft 178, 45. Jg., 4/2014

Rezension von Claus Braun

D. E. Scharff & J. S. Scharff
Das interpersonelle Unbewusste Perspektiven einer beziehungsorientierten Psychoanalyse

Die beiden Autoren sind Lehranalytiker und Supervisoren am International Institute for Psychoanalytic Training und arbeiten klinisch als Professoren der Psychiatrie an der Georgetown University, USA. In ihrer privaten psychoanalytischen Praxis behandeln sie Kinder, Erwachsene und besonders auch Paare und Familien.

Das Thema des vorliegenden Bandes stellt durch elf Kapitel hindurch die Entwicklung eines Konzepts des interpersonellen Unbewussten dar. Die Autoren sind von ihrer theoretischen Ausrichtung her einerseits der Objektbeziehungstheorie der »kleinianischen Revisionisten« W. R. D. Fairbairn und J. D. Sutherland verpflichtet, andererseits stützen sie sich als Gruppenanalytiker und Paar- und Familientherapeuten auf Foulkes Vorstellung der sozialen Matrix, in welcher die Individuen eingebettet ihr persönliches Selbst entwickeln. Ihre dritte theoretische Heimat ist die »Link-Theory«, die in Argentinien von Enrique Pichon-Rivière angestoßen und insbesondere in der spanischen, italienischen und französischen psychoanalytischen Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wird. Das »Link-Konzept« beschreibt die Qualität bewusster und unbewusster Interaktionen zwischen den Mitgliedern einer Familie, einer Gruppe oder auch einer analytischen Dyade. Die interaktionellen Erfahrungen werden internalisiert und werden (nach Fairbairn) zu einem organisierenden Element der Struktur. »Jede Interaktion definiert die Person und die inneren Identifikationen sowie die Familie und die sozialen Gruppen, deren Teil die Person ist, fortwährend neu.« (S. 75) Die Links treten auf und werden wirksam in einem interpersonellen »Feld« (M. und W. Baranger: »The analytic situation as a dynamic field«, 2008, Int. J. Psychanal. 89, 795–896, s. auch die Werke von A. Ferro). Das interpersonelle Feld wird strukturiert durch das individuelle Unbewusste und die intersubjektive Dialektik bis in die Träume hinein: »[...] das Individuum wird in den Link hinein geboren. Ein Paar formt sich im Fadenkreuz der Links: am Schnittpunkt der vertikalen Achse (zu den vorausgegangenen Generationen) und der horizontalen Achse (zu gegenwärtigen Familie, Gesellschaft und Kultur).« (S. 99) Der Einzelne stehe enorm unter dem Einfluss des sozialen Unbewussten, meist ohne sich darüber klar zu sein. Das soziale Unbewusste bildet nach den Autoren eine Konstellation von Arrangements sozialer, kultureller und kommunikativer Art, die ebenso Funktionsgesetzen unterliegen wie das individuelle Unbewusste. Zu diesen Funktionsgesetzen gehört auch ihr Abwehrcharakter, der eine ähnliche Funktion wie der Prozess der Verdrängung habe. Das Individuum müsse davor geschützt werden, die mächtigen und weit reichenden Auswirkungen des sozialen Kräftefelds wahrzunehmen, die vom Einzelnen nicht kontrolliert werden können und deren bewusste Wahrnehmung Ängste und Hilflosigkeit hervorrufen würde. Das soziale Unbewusste verbinde auch jedes Individuum mit seiner weiteren kulturellen Umgebung und diene deswegen der Weitergabe von Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen. Der Prozess der Identifizierung mit den Werten oder Meinungen der größeren Gruppe führe in der Vorstellung des Einzelnen zur Bildung eines inneren sozialen Objekts, das, wie andere innere Objekte auch, gut oder schlecht, befriedigend, erregend oder verfolgend sein kann.
Die Kapitel des Bandes stützen sich großteils auf einzelne, früher veröffentlichte Artikel. Sie enthalten auch interkulturelles Fallmaterial, besonders aus der Behandlung chinesischer Patienten. In einzelnen Kapiteln werden ausgeführt: die Theorie des interpersonellen und des sozialen Unbewussten, die Beziehung zwischen Link-Theorie und der Theorie des sozialen Felds und der Objektbeziehungstheorie, die Bedeutung der Links in der Familiendynamik, in der Bindungstheorie und für Paarbeziehungen, hier interessanterweise unter Hinzuziehung chaostheoretischer Überlegungen. Für Gruppenanalytiker ist besonders das sechste Kapitel interessant: »Der soziale Link in Gruppenträumen«. Ein Traum, der in der Gruppe geträumt und mitgeteilt wird, ereigne sich auch im Raum des interpersonellen Unbewussten und des Links. Dieser Raum kann in der Gruppe gemeinsam erkundet werden, wozu dieses Kapitel zahlreiche Anregungen gibt. Im neunten Kapitel (»Sexualität, Träume und der somatische Link«) werden sexuelle Paarprobleme als Konversion emotionaler Konflikte des Paares behandelt. Die Komplexität dieser Konflikte scheint über einen Weg der Synchronisierung und Verdichtung reduziert zu werden, um dann körpersprachlich in den Geschlechtsteilen ausgedrückt zu werden. Hier finden sich sehr interessante Fallbeispiele für die psychoanalytische Praxis. Insgesamt ist das Buch in seinen einzelnen Kapiteln angenehm geschrieben, leicht zugänglich und plausibel. Der durchgängige Praxisbezug zeigt die Kompetenz der Autoren, die Falldarstellungen wirken diskussionszugänglich.

Bedauerlicherweise werden C. G. Jung und sein Konzept des kollektiven Unbewussten nur in einem einzigen Satz (S. 23) erwähnt. Jung wird mit der Bemerkung »erledigt«, dass sich die Freudianer seiner »Idee des kollektiven Unbewussten« nicht angeschlossen hätten. Eine m. E. fruchtbare Auseinandersetzung zur Frage des kollektiven Unbewussten versus soziales Unbewusstes bleibt in diesem Werk verpasst.

Claus Braun, Berlin

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